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Ehelicher Streit

Die Sperlinge von Wandsbek fiepten munter. Denn es war noch einmal warm geworden. Selbst jetzt gegen den Sonnenuntergang zu konnte man ohne Mantel über die Straße gehen, und wenn man, wie sehr viele Wandsbeker es taten, den Garten schlafen legte, wenn man also den Kompost eingrub, die Dahlienwurzeln und Montbretien aus der Erde holte, die kleinen Bäume und Büsche beschnitt, dann mußte man die Jacke ausziehen und sie an die, für diesen Zweck so praktischen, Eisenlanzen der Gartenzäune hängen. Schade, daß die Sonne schon um halb sechs Uhr unterging. Es war übrigens an diesem Tag ein besonders schöner Sonnenuntergang, zartrosa mit Nebel gemischt, mit einem sanften bläulichen Nebel, der noch durch die Dampfschwaden der in fast allen Vorgärten brennenden Unkrautfeuerchen verstärkt wurde. Der Schein des Abendrotes malte die Backsteinhäuschen mit einem sanften Rot an. In dieser Beleuchtung sahen sie ganz erträglich aus, und man konnte sich zur Not mit jenen längst verstorbenen Architekten und Maurermeistern versöhnen, aus deren krausen Gehirnen diese abscheulichen Gebilde entstanden waren. Eine Stimmung von Friede und Versöhnlichkeit lag über der Straße. Seit Jahren zum ersten Male waren die Menschen satt. Die meisten hatten Kohlen und Kartoffeln im Keller, und sie brauchten sich einmal nicht vor dem Winter zu fürchten.

Der hübsche Sonnenuntergang schien auch in Ilses Sprechzimmer, und auch hier herrschte ein sanfter Friede. Ilse saß an ihrem Schreibtisch und schrieb in ihrem Rezeptblock. Hinter ihr zog sich gerade der letzte Patient seine Jacke über und band sich seinen Schlips, eine kleine hellblaue Schmetterlingsschleife. Es war der Maler Jürgen Klenski, ein zierlicher, wohlgebildeter Mann von unbestimmbarem Alter. Die braunen, blanken Augen waren knabenhaft heiter, die Schläfen silbergrau. Das dunkle, lockige Haar war voll wie bei einem Dreißigjährigen. Das schmale Gesicht zeigte die Reife und Geschlossenheit eines Fünfzigjährigen, und der kleine, graue Spitzbart ließ ihn noch älter erscheinen. In Wirklichkeit war er fünfundvierzig Jahre alt und hatte sich durch eine fünfundzwanzigjährige intensive Arbeit einen Ruf erworben, der so klein und zierlich war wie seine Statur und ihn nur sehr zur Not ernährte. Zum Glück hatte er von seinem Vater ein kleines Häuschen geerbt, das die Bomben und Feuersbrünste verschont hatten, ein Häuschen, das jetzt mitten zwischen Trümmern drei Straßen weiter unter dem Schatten von zwei großen Trauerweiden stand. Klenski bewohnte ein kleines Atelier unter dem Dach. Das übrige Haus war vermietet, und so konnte er sich durchschlagen. Ilse wandte sich jetzt zu Klenski um: „Ich bin mit Ihnen recht zufrieden, Jürgen“, sagte sie freundlich, „wenn Sie weiter streng diät leben, werden wir mit dem Asthma fertig werden.“

Klenski setzte sich auf den Rand des Schreibtisches. Das sah beinahe übermütig aus, während das Rot des Sonnenuntergangs seinem Gesicht etwas melancholisch Greisenhaftes verlieh. „Ich werde dann ein Heiligenbild von Ihnen malen“, sagte er mit seiner angenehmen, hellen Stimme, „und es in irgendeiner Kapelle aufhängen.“

Ilse lachte: „Das können Sie ruhig tun. Niemand wird mich auf Ihren Bildern erkennen.“

„Ihre Kollegen, die Heiligen und Heiler, werden Sie schon erkennen“, meinte Klenski, „denn die sehen ja nicht nur mit den Augen des Leibes, sondern auch mit den Augen der Seele und des Geistes.“ Ilse nickte: „Ich weiß schon, ich bin ein unbeseeltes Ding. Manchmal aber rühren mich Ihre Farben. Farbtöne sagt man ja wohl, und ich kann sie auch hören. Aber ich würde gern erkennen, was auf Ihren Bildern ist. Schrecklich, nicht wahr?“

Jürgen schüttelte den Kopf: „Gar nicht schrecklich. Nur: wenn Sie erkennen wollen, sind Sie bei meinen Bildern an der falschen Adresse. Da müssen Sie schon zu den Philosophen gehen. Und die werden auch immer dunkler und verdunkeln die Menschen mehr, als daß sie sie erleuchten. Und was die Seele angeht, Ihre Seele, verzeihen Sie, aber die sitzt hinter Gittern.“

Ilse fühlte sich ertappt. Sie hatte an Conrad gedacht, an das dumpfe, winzige Zimmer mit den vergitterten Fenstern. Sie hatte gerade beschlossen, es Klenski zu sagen, daß Conrad aufgetaucht war. Sie mußte es ihm sagen. Mußte? Warum eigentlich? Was ging es Conrad an, daß Jürgen sie liebte? Jürgen hatte es ihr zwar nie gesagt, aber sie wußte es, und wenn sie es nicht gewußt hätte: Gerda hatte oft genug über den „Troubadour mit dem Pinsel“ gespottet. Männer hatten es schwer, Gerdas Achtung zu gewinnen. Die robusten verachtete sie, und die zarten verspottete sie.

„Denken Sie, mein Mann ist zurückgekommen“, sagte Ilse.

Kienskis Gesicht veränderte sich nicht. Er versuchte seiner Stimme einen freudigen Klang zu geben: „Und das sagen Sie mir erst jetzt? Gratuliere. Wo ist er denn?“

„Er wohnt bei Freunden in Blankenese“, berichtete Ilse sachlich.

„Ja, ja ... hier ist kein Platz. Wie geht es ihm denn? Nicht gut wahrscheinlich. Na, Sie werden ihn schon wieder auf die Beine kriegen.“

„Auf die Strümpfe“, verbesserte Ilse.

Klenski sprang vom Schreibtisch herunter. „Ich halte Sie schon viel zu lange auf“, sagte er munter, „jedenfalls freue ich mich für Sie und bin sehr gespannt auf ihn. Ein Mann, den Sie geheiratet haben! Ich denke ihn mir großartig.“

Ilse hakte ihn unter und brachte ihn zur Tür: „Darf ich mir mal Ihre neuen Bilder ansehen?“ fragte sie freundlich.

Sie streckte ihm beide Hände hin. Sie wollte, daß er schnell ginge; denn Conrad hatte sich zu einem Spät-Tee angesagt, und sie wollte nicht, daß die beiden sich begegneten. Warum eigentlich nicht? Nun — warum sollten sie sich begegnen? Sie bewohnten nach Ilses Meinung zu verschiedene Welten. Der zarte Maler, ätherisch im Wesen und Werk, und Conrad, der gar zu sehr der Welt und ihrer Sinnlichkeit zugeneigt war. So etwa dachte sie in ihrer geraden und darum so oft vorbeischießenden Denkart. „Ich komme vielleicht schon morgen mittag vorbei“, sagte sie abschließend, „da ist doch das beste Licht, nicht wahr?“ Aber Klenski hatte es nicht so eilig, wegzukommen. Er bat sie, doch bei ihm zu essen, und schlug die verschiedensten Speisen aus seinem vegetarischen Küchenzettel vor, die er für Ilse zubereiten wollte. Er kochte nämlich vorzüglich und fand, daß man für jeden Menschen nach seiner Natur kochen müsse. Er wurde beinahe streng, als Ilse sagte, für sie als alleinstehende Frau sei so viel Aufwand und Nachdenken nicht nötig. Ihr sei es völlig einerlei, was sie esse.

In diesem Augenblick klingelte es, und sie hörte Conrads Stimme, wie er lustig mit Gerda scherzte. Ein paar Sekunden später — Gerda war doch wirklich eine ungeschickte Pute, daß sie es nicht fertig bekam, Conrad in ihr Zimmer zu bugsieren — trat Conrad ein. Er lachte Ilse an. Sie sagte wichtig, daß sie noch ein paar ärztliche Anweisungen zu geben habe. Klenski aber, ein fanatischer Anhänger der absoluten Wahrheit, sagte strahlend: „Aber wir sind doch längst fertig.“ Und indem er Conrad übertrieben heftig die Hand drückte: „Ich freue mich von ganzem Herzen, daß Sie zurück sind.“ Conrad wiederum behauptete, aufrichtig lügend, es sei ihm eine besondere Freude, Herrn Klenski kennenzulernen, von dem Ilse ihm schon so viel Schönes berichtet habe. Ob er auch an Hydropsie, an russischem Wasser, gelitten habe? Man sähe ihm nicht mehr das geringste an. Eine wundervolle Medizinerin, die Ilse.

Klenski stimmte strahlend zu und setzte zu einer längeren Erklärung an, daß er in keiner Weise unter dem Kriege gelitten habe und alles Unglück wie durch ein Wunder an ihm vorübergegangen sei, und das bißchen Krankheit ... Er wies mit einer zärtlichen Bewegung auf Ilse, die ihn mit erstaunlicher Heftigkeit unterbrach und ihn ziemlich grob einlud, eine Tasse Tee mitzutrinken. „Mit uns“ zu trinken, sagte sie wörtlich und errötete dabei unwillig. Dieses „mit uns“ gab ein völlig falsches Bild.

Klenski lehnte herzlich ab. Er habe noch viel zu arbeiten und gerade genug von Ilses kostbarer Zeit gestohlen. Er drückte Conrad noch einmal kräftig und herzlich die Hand. Man würde sich ja öfter sehen. Ob Conrad vielleicht Ilse gleich am nächsten Tag zum Mittagessen bei ihm begleiten wolle? Conrad verbeugte sich unentschieden, da Ilse nichts sagte. Sie hakte den Maler unter und zog ihn auf den Flur hinaus.

„Ein reizender und bedeutender Mann“, sagte Klenski draußen und drückte freundlich Ilses Arm. „Natürlich hat er es ein bißchen schwer, sich wieder ins Leben zurückzufinden.“ Ilse starrte vor sich hin, als hätte sie nicht zugehört. Dann sagte sie ablehnend: „Himmel ja ... natürlich hat er es nicht leicht! Aber wer hat es schon leicht. Sie etwa? Oder Gerda? Oder ich? Waren wir nicht auch ganz hübsch gefangen oder auf der Flucht und im Hunger und müssen zusehen, daß wir uns zurückfinden?“ Sie beachtete nicht sein erstauntes Gesicht. Sie schob ihn ganz einfach hinaus, schloß die Tür hinter ihm, stand einen Augenblick verdrossen grübelnd. Sie hängte ihren blendendweißen Ärztekittel an die Garderobe. Sie besah sich mißbilligend im Spiegel. Warum, so dachte sie, habe ich mir eigentlich die weiße Seidenbluse angezogen und den grauen Faltenrock? Abgesehen davon, daß der Rock schon wieder zu eng ist? Gerda hat ganz recht. Ich darf nicht soviel essen. Dabei ißt sie viel mehr. Na ja, mancher kann eben tun, was er will, und es ändert ihn nicht. Halt! Der Satz war nicht auf ihrem Mist gewachsen. Das war ein echt conradscher Satz. Ein leichtsinniger Satz, mit dem die Habgierigen und Lasterhaften alles entschuldigen konnten. Sie blickte böse in Richtung des Sprechzimmers. In diesem Augenblick überquerte Gerda, das Tablett mit dem Tee in den Händen, den Flur. Sie lächelte Ilse beruhigend zu. Ilse sagte bockig: „Warum hast du Conrad ins Ordinationszimmer geschickt? Nächstens wird er noch reinplatzen, wenn nackte alte Frauen dastehen.“

Gerda sah sie unschuldig an: „Jürgen und Conrad mußten sich ja doch mal begegnen ... falls es Jürgen nicht vorzieht, wegzubleiben.“

„Ich wüßte nicht, warum Jürgen das vorziehen sollte“, sagte Ilse heftig. Gerda klinkte mit dem Ellenbogen die Tür auf. Dabei sagte sie schnippisch: „Er ist ziemlich taktvoll, der brave Jürgen. Und es ist nicht jedermanns Sache, sich am Glück des anderen selbstlos zu erfreuen.“ Damit wischte sie in die Tür, ehe Ilse etwas erwidern konnte. Sie blickte Gerda mit zornigen Augen nach, dann ging sie endlich ins Ordinationszimmer.

Conrad saß auf ihrem Schreibtischstuhl und spielte mit ihrem Federmesser Fangball. Er wirbelte es in der Luft herum und sagte triumphierend: „Sechsmal dreht sich’s schon. Wenn du noch länger geblieben wärst, hätte ich es auf achtmal gebracht.“ Ilse nahm ihm das Messer weg. Sie fand sein Jonglieren in diesem Augenblick unangebracht. Außerdem hatte sie es schon früher nicht leiden können, wenn er sich allzu familiär bei ihr breit machte und ihre etwas pinslige Ordnung auf dem Schreibtisch zerstörte. „Entschuldige“, sagte Conrad, „aber du hast das Messer nicht rechtwinklig hingelegt, sondern schräg. Oder gefällt dir das jetzt?“

Ilse schob brav das Federmesser gerade. „Der Tee ist fertig“, sagte sie. „Komm.“ Conrad reichte ihr mit einer Verbeugung seinen Arm. Sie übersah es unfreundlich. Er sagte: „Ein reizender Mensch, dieser Klenke, oder wie er heißt. Ein bißchen ätherisch. Ja?“

„Er heißt Klenski und findet dich auch reizend“, murrte Ilse, „und sogar bedeutend.“

„Scharfsinnig ist er auch noch“, alberte Conrad. „Aber im Ernst: er gefällt mir. Hübsch und zart und so ein rührend kräftiger Händedruck, als wollte er einen gleich an die schmale Brust ziehen. Warum hast du mir noch nichts von ihm erzählt?“

„Ich dachte mir gleich, daß du ihn nicht leiden kannst“, sagte sie heftig, „für den Durchschnittsmann ist so ein in sich geschlossenes Wesen nicht verständlich.“

Conrad parierte den Hieb geschickt: „Für die Durchschnittsfrau natürlich auch nicht. Aber du bist eben keine Durchschnittsfrau.“

„Ich bin sehr durchschnittlich“, sagte Ilse hart, „das hast du leider nie kapiert“, und um einzulenken, setzte sie hinzu: „Jetzt zum Beispiel habe ich Hunger und möchte Tee trinken.“ Sie gingen versöhnt in Ilses Zimmer hinüber.

Aber dieser Besuch ließ sich nicht mehr ins richtige Gleis schieben. Sie versuchten es vergeblich. Ilse gab Conrad ein paar ärztliche Anweisungen. Sie schrieb ihm ein Herzstärkungsmittel auf. Sie bat ihn, die Zigaretten wenigstens zu zählen, wenn er das Rauchen nicht aufgeben könne. Conrad hingegen erzählte von seiner Ankunft in Hamburg. Er erinnerte Ilse vorsichtig, daß er sie erst hatte suchen müssen. Daß er zwar gewußt habe, daß sie in Hamburg wohnte. Aber gleich nach der Ankunft hatte ihn eben jene unüberwindliche Schlappheit und Müdigkeit gepackt, und an die ersten Wochen im Krankenhaus konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Doch ... eine Schwester Anna war da gewesen, sechzigjährig, mit einem hervorragend gearbeiteten Gebiß, das sie dauernd zu einem gekünstelten Lachen entblößte, um so die Falschheit beamteter Herzlichkeit zu demonstrieren. (Neunzig Mark bei freier Station, wer sollte da wohl von Herzen herzlich sein!) Und dann eben dieses fabelhafte Glück, beim ersten Ausgang über Hannes Hohmann zu stolpern und an ihm die männliche, grobianischkameradschaftliche Hilfsbereitschaft kennenzulernen.

Ilse hörte nicht recht zu. Sie bediente den Toaströster. Sie schob Conrad die fertig gestrichenen Scheiben zu (was sie früher auch getan hatte). Sie entzündete die Deckenlampe, eine nicht sehr hübsche Alabasterschale, die ein grelles, honiggelbes Licht über den Raum warf, über die kantigen, gut polierten Möbel, über die breite Bettcouch, an deren Fußende eine hellgrüne Karlsbader Decke lag, über die Glasvitrine mit den Büchern und über ein schneeweißes Schaffell. „Du hast es sehr hübsch hier“, sagte Conrad anerkennend. Aber es gefiel ihm nicht sehr gut. Zimmer einer Ärztin, berufstätig, tüchtig stand in unsichtbaren Buchstaben über dem Raum. Er unterbrach seine Erzählungen von Hannes und den ersten Wochen in Hamburg. Er spürte, daß er Ilse nicht überzeugt hatte. Er wollte ihr noch erklären, warum er ihre Adresse so lange gehabt hatte, ohne sie zu benutzen. Endlich mußte die blödsinnige Emmy-Geschichte weggeräumt werden.

Ilse mochte diesen Versuch erwarten. Sie kam ihm hastig zuvor.

„Ich habe mit Dr. Penz gesprochen, das ist mein Anwalt. Er meint, wir brauchten gar nicht zwei Anwälte.“

„Wir brauchen überhaupt keinen Anwalt“, sagte Conrad hinterhältig, „bei so klarer Sachlage können wir sicherlich die Scheidung allein durchführen. Was meinst du?“

„Dr. Penz bittet, ihn einmal aufzusuchen und ihm zu sagen, wie du die Sache siehst. Er ist wirklich ganz objektiv. Vielleicht etwas zu männerfreundlich, zu verständnisvoll für die Schwächen eures Geschlechtes. Aber du kannst ganz offen mit ihm reden.“

Conrad lächelte scheinheilig: „Ich glaube, das kann ich doch nicht. Wenn ich ihm die Wahrheit sage, fällt er von seinem Schreibtischstuhl und bricht sich sein anwaltliches Genick wie weiland der Prophet Elias.“ Ilsa sagte verbohrt und humorlos: „Ein Scheidungsanwalt ist noch ganz andere Sachen gewohnt.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Conrad, „daß eine Frau wegen eines einzigen dämlichen Briefes so einen Spuk veranstaltet ... das gibt es ganz bestimmt noch nicht in seiner Praxis.“

„Willst du etwa behaupten, daß Emmy nichts von dir gewollt hat?“

Conrad schrie wütend: „Natürlich hat sie was von mir gewollt. Warum sollte sie nicht? Ich war noch nicht aufgeschwemmt. Ich sah gut aus. Ich war gescheit. Warum, zum Himmel, sollte sie also nichts von mir gewollt haben? Bloß ein Pech war dabei. Für dich ein Pech. Ich habe nie was von ihr gewollt, verstehst du, verdammt noch mal, niemals. Wenn du gütigst zur Kenntnis nehmen wolltest, daß du dir wenigstens einen ordentlichen Scheidungsgrund besorgen mußt und nicht so einen aufgebauschten Quatsch. Und wenn du es wünschst, kann ich dir einen Scheidungsgrund liefern. Von früher oder von jetzt. Zum Aussuchen.“

„Du gibst also zu ...“, versuchte Ilse.

„Ich gebe zu, was du willst. Bloß Emmy, das ist mir zu blödsinnig, und außerdem werde ich Gegenklage erheben. Wie sagen die Amerikaner? Wegen seelischer Grausamkeit. Verstehst du mich?“

Ilse versuchte noch einmal Tee einzuschenken. Aber ihre Hände zitterten so, daß es nicht ging. Ihre Stimme war heiser vor Erregung. „Du siehst, wir können nicht miteinander. Wir haben nie miteinander gekonnt. Nie. Nie. Und wenn ich mich in dem einen Fall geirrt haben sollte ... aber es ist ja Unsinn, ich habe mich nicht geirrt. Es ist eben das Ganze. Deine Stellung zum weiblichen Geschlecht, dein Durst nach Anerkennung und Anbetung.“

Sie stritten noch einem Weile erbittert. Sie sagten sich alles, was sie an Grimm und Schmerz auf dem Herzen hatten. Sie schossen mit vergifteten Pfeilen aufeinander, und die Szene endete genau so, wie schon vor Jahren die Szenen geendet hatten. Mitten in einem besonders blumigen Satz von Ilse, in dem Wahrheit und Unsinn auf eine vertrackte Weise herabsetzend miteinander verknüpft waren, mitten in einem solchen Satz sprang Conrad auf und ging hinaus. Die Tür schmetterte er hinter sich zu. Er raste die Treppen hinunter. Draußen war es dunkel, sternklar. „Welch anständige, klare Luft“, knischte er wütend.

Oben in ihrem Zimmer, unter der honiggelben Ampel, saß Ilse. Sie hatte sich die hellgrüne Karlsbader Decke um die Knie geschlungen. Das Fenster stand offen, damit der Zigarettenrauch abziehen konnte. Nebel wehte herein. Es sah aus, als rauchte jemand im Garten. Der Herbst war da. Ilse saß starr und finster. Sie glaubte zu grübeln. Aber sie dachte nichts. Sie war ausgefüllt von einem dumpfen, gestaltlosen Kummer. Zweimal klingelte das Telefon. Ein Baby hatte Brechdurchfall und die alte Frau Nolte einen gefährlichen Anfall von Angina pectoris. Ilse versprach, noch hinzukommen. Das Baby, ein kräftiges kleines Kerlchen, dem sie vor drei Monaten ans Licht geholfen hatte, würde bald wieder gesund sein. Frau Nolte aber würde es in Kürze überstanden haben. Sie war achtundsechzig Jahre alt und hatte ein Leben voller Kummer hinter sich. Unbegreiflich, warum sie mit solcher Zähigkeit an einem Dasein hing, das ihr nichts mehr bringen konnte. Der Mann (natürlich!) längst mit einer Jüngeren verheiratet, der Sohn gefallen, die Tochter in Berlin verheiratet und nur zu Zweitagsbesuchen aufkreuzend, um, nach kurzem Geschnatter über das Glück ihrer Ehe, entengleich wieder wegzutauchen. So was nannte sich „Leben“, und die alte Frau Nolte verteidigte den letzten Funken mit keuchenden, halberstarrten Lungen. Unbegreiflich. Gerda trat mit dem Abendbrottablett ein. Sie war — Ilse sah es mit schnellem Blick — „für große Fahrt“ gerüstet. Die schmalen Lippen waren durch einen lackroten Amorbogen verbreitert. Ihre ins Grünliche schimmernden, grauen Augen blitzten unnatürlich hell, die braunen, hübsch gewellten Haare waren sorgfältig frisiert. Sie trug das schwarze Abendkleid mit dem weißen Einsatz, der wie ein Frackhemd aussah.

Sie stellte das Abendbrot auf den Tisch. Es gab Bratkartoffeln, Salat und ein Wurstbrot. Gerda begann hastig zu essen. Ilse kaute lustlos. „Er ist mit allem einverstanden“, sagte sie nebenbei. Gerda nickte und nahm mit spitzen Fingern ein Wurstbrot. „Aber er behauptet, mit dieser Emmy sei nichts gewesen.“

„Laß ihn doch dabei. Es gibt genug andere Gründe“, sagte Gerda, „hast du einen Kognak?“

Ilse nickte nach dem Bücherschrank zu. Gerda holte die Flasche und goß sich einen großen Kognak in Ilses Tasse. Sie trank hastig und schüttelte sich. „Ja“, seufzte Ilse, „er hat mir eine ganze Auswahl angeboten. Von früher und von jetzt.“ Gerda erhob sich und strich sich über den knisternden schwarzen Rock. Es war eine Bewegung von auffälliger Zärtlichkeit zu sich selbst. Sie sagte: „Na also ... auch von jetzt. Dann ist ja alles in Ordnung.“

Ilse erhob sich schwerfällig. Sie legte zaghaft den Arm um Gerdas Schulter. „Schade, daß du weg mußt“, flüsterte sie. Gerda legte ihre Stirn an Ilses Stirn: „Wenn du es wünschst, bleibe ich natürlich. Du weißt, mir liegt nichts daran.“

Ilse wehrte unsicher ab: „Nein, ist ja Unsinn. Ich muß auch noch zwei Besuche machen. Und dann bin ich sicher todmüde.“ Gerda seufzte erleichtert: „Also dann schlaf gut, Liebes. Daß du dir so viel Kummer machst um Dinge, die vorbei sind!“ Sie küßte Ilse flüchtig. In der Tür wandte sie sich noch einmal um und sagte spöttisch: „Das meiste ist vorbei, bevor es angefangen hat. Wenn du das doch mal kapiertest!“

„Warum fängst du dann überhaupt was an?“ fragte Ilse schüchtern.

Gerda antwortete in einem Ton, wie wenn sie mit einem kleinen Kinde spräche: „Die Natur und die Vernunft sind zwei verschiedene Dinge. Das haben die Männer schon vor zweitausend Jahren gewußt. Und haben ganz gut damit gelebt. Aber nun wissen wir Frauen das auch. Pech für die Herren der Schöpfung.“ Nach diesem orakelhaften Spruch schlüpfte sie aus der Tür und klinkte sanft von außen zu. Ilse starrte auf die geschlossene Tür. Dann ging sie schnell in das Untersuchungszimmer, packte ihre Arzttasche, zog sich eilig ihren Mantel an. Plötzlich liefen Tränen über ihre Wangen. Sie konnte also doch weinen! Was für ein Unsinn, dachte sie, alles Unsinn. Lauter kluge Worte und nichts, nichts dahinter. Sie wischte die Tränen ab. Sie erinnerte sich mit großer Schärfe jener Abende in ihrer Ehe, an denen Conrad mit den gleichen verräterisch glänzenden Augen weggegangen war. Schrecklich, ganz schrecklich. Sie paßte einfach nicht in diese Welt. Sie war ein prähistorisches Monstrum, ein Dinosaurier der Liebe. Und wie diese Vorwelttiere gestorben waren, weil die ihnen gemäße Nahrung nicht mehr vorhanden war, so würde auch sie sterben, weil es auf dieser Welt nicht mehr die ihr gemäße Herzensnahrung gab. Keine Liebe. Jedenfalls nicht das, was sie unter Liebe verstand. Nun gut. Wenn es das nicht gab, dann mußte sie eben verkümmern und verhungern. Das war noch besser, als das zu fressen, was die jetzige Welt als Liebe bezeichnete. Außerdem hatte sie ja noch ihren Beruf. Mußte man etwa lieben? Lächerlich. Man mußte natürlich nicht lieben, wenn es keine Liebe gab.

Sie schloß die Wohnungstür ab und lief schnell die Treppe hinunter. Draußen atmete sie erlöst auf. Fast wörtlich flüsterte sie dasselbe, was Conrad eine Stunde vorher an der gleichen Stelle gesagt hatte: „Was für eine saubere, anständige Luft.“

Als wäre nichts geschehen

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