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Zwei Bilanzen

Eine Stunde später trat Conrad aus der Tür des Backsteinhäuschens. Er trug über dem Arm eine gutgebügelte Flanellhose und, in Seidenpapier gewickelt, mit Stecknadeln zugesteckt, das rohseidene Hemd. Das Hemd hätte ihm übrigens noch gepaßt. Denn am Hals war er nicht dick geworden. Aber die Flanellhose war über seinem aufgeschwemmten Bauch nicht zuzuknöpfen. „Puh“, seufzte Conrad und begann die Straße hinunterzumarschieren. Ein prachtvoller Abschied an der Wohnungstür! Conrad: „Werden wir uns wiedersehen?“ Ilse, mit nachdenklich gekrauster Stirn, während ihre Hände vergeblich nach den Taschen des Arztkittels suchten: „Natürlich ... ich muß mich ja um dich kümmern.“ Und Conrad: „Reizend von dir, aber ich komme schon durch.“ Das hätte er nämlich nicht sagen sollen. Aber wenn er irgend etwas haßte, so war es Ilses treudeutsches Pflichtbewußtsein. „Ich muß mich um dich kümmern.“ Das hieß, ich kann dich nicht verkommen lassen. Wenn du allein bist, machst du Dummheiten. Vielen Dank, nein.

Conrad bemerkte, daß er in die falsche Richtung gegangen war. Seufzend drehte er um. Er hob einen Stock auf und ratschte über die gußeisernen stumpfen Lanzen der Zäune. Zu komisch, daß diese wehrhaften Zäune nicht eingeschmolzen sind, diese sinnlosen Palisaden, über die selbst greise Einbrecher im Schlußsprung hätten herüberhüpfen können. Der zäheste Teil jedes Volkes sind die Kleinbürger. Kein Weltuntergang kann sie vernichten. Conrad bog jetzt in eine Seitenstraße ein. Jetzt noch mal an dem Haus vorbeigehen? Nein, vielen Dank. „Komm doch gelegentlich vorbei“, hatte Ilse gesagt. „Gelegentlich.“ Nun, vielleicht würde sich eine Gelegenheit finden. Vielleicht auch nicht. Dann war diese Gerda schuld. Wie sie dagesessen hatte! Jeder Zoll diskretes Schweigen. Mißtrauisches Hin- und Hergucken. Ilses glückliche Augen ... strafender Blick Gerdas. Und ganz fix erlosch das Leuchten wieder. Dabei war es ganz lustig und vergnügt gewesen. Warum? Sie hatten doch nur von schrecklichen Dingen gesprochen. Na ja ... wieder mal Goethe: „Ausgestandenes Ungemach hat einen eigentümlichen Reiz.“ Von weitem gesehen, war es doch ziemlich komisch, daß Conrad Holzfällen gelernt hatte, Bäume sägen und Baracken bauen. Mit rostigen, verbogenen Nägeln, wie der brave Hausherr aus „Heimchen am Herd“. Und die Theatergruppe im Lager 7. „Sommernachtstraum“ mit dem O-beinigen Otto als Thisbe. Und wie die Plennis nach den zerlumpten Weiberkleidern der Thisbe geschaut hatten. Und wie sie das Frühlingsfest gefeiert hatten, die ganze Baracke voll Anemonen und Krokus. Und Gerhart, der Gymnasiast, hatte Rilke rezitiert mit rollenden Rs. Und Fritz, der Schauermann aus Hamburg, hatte gerufen: „Schnall dir mal deine verdammten Rs als Rrrollschuh unter die S-tiefel und verschwinde.“ Komische Geschichten das alles. Heitere Erinnerungen. Und Ilse hatte auch heitere Erinnerungen beigesteuert.

Ilse mit Feuerwehrhelm und Trainingsanzug, mit rußgeschwärztem Gesicht, nachdem sie bei einem Angriff das Feuer im Dachstuhl gelöscht hatte, toderschöpft als Brandwache auf dem lädierten Boden des Hauses schlafend und als Kopfkissen den dicken Bauch des Herrn Grigowski, des Hausbesitzers, benutzend, der gleichfalls friedlich schnarchte, während der Novemberregen durch das offene Dach auf die beiden herabrieselte. War das etwa nicht zum Lachen? Oder die kleinen Festlichkeiten, wenn die Angriffe vorüber waren? Unten im Atelier des Bildhauers Plehn (du kennst ihn doch noch? Ein schöner Mensch, wurde leider von seinen Statuen bei dem großen Angriff erschlagen). Aber die Feste in der Morgendämmerung waren von albernster Lustigkeit erfüllt. Eine kleine Spanne Leben war wieder allen geschenkt, eine makabre Heiterkeit. „Nie habe ich Ilse so übermütig gesehen wie damals“, berichtete Gerda. Und die Flucht: Ende April 1945. Auf Fahrrädern, die Koffer hinten drauf, quer durch die mecklenburgischen Wälder, quer durch den Krieg. Eine seltsame Nacht irgendwo in einem Tannendickicht an einem kleinen Holzfeuer mit Versprengten zusammen. Zerlumpten, gefährlich aussehenden Burschen, die vielstimmige Heimatlieder sangen. Und die Ankunft in Hamburg zwei Tage vor der Kapitulation. Zwei dreckige, erschöpfte, hungrige Frauen. Pummlich — denn jede hatte unter dem Trainingsanzug vier Sommerkleider angezogen. Und die ersten Wochen in einem Trümmerkeller. „Zu zweit ist eben alles zu ertragen“, schloß Gerda und empfahl sich diskret. Und Ilse lachte hinter ihr drein, ihr herzliches Lachen, ihr Friedenslachen von damals. „Schön, wie du lachen kannst“, sagte Conrad. Und da war sie sofort ernst. Abweisend. „Da sind wir ja beide ganz hübsch durch die Mühle gedreht“, versuchte er, „und nachher wieder zusammengesetzt, nicht wahr?“ Das war der Augenblick, in dem Ilse nur die Hand auszustrecken brauchte. Sie saß ihm gegenüber. Sie brauchte nur zu sagen: Ja ... ganz neu zusammengesetzt, und wenn in den Bränden auch viel Gutes verbrannt sein mag ... das Schlechte ist bestimmt ganz ausgebrannt, zerschmolzen, nicht mehr zu erkennen. Sie sagte aber: „Dann fängt man wieder neu an, und nach einer Weile sieht man: wir sind doch alle dieselben geblieben.“

„So ... du bist geblieben, wie du warst?“ fragte Conrad schon ziemlich böse. Und Ilse höchst töricht: „Innen natürlich. Warum sollten solche Dinge den Menschen in seinem Kern berühren?“

„Vorzüglich“, sagte Conrad, und er wollte hinzusetzen: Die Vorzüglichen brauchen sich ja auch nicht zu ändern. Aber lieber stand er auf und sagte, daß er gehen müsse.

Conrad blieb jetzt an einer Haltestelle stehen, gleich mußte die Bahn kommen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Eine fast angenehme Ohnmacht. Wäre ganz schön, wenn es noch ein bißchen dunkler würde und ganz dunkel bliebe, dachte er. Aber weil gerade die Bahn heranschepperte, gab er sich einen Ruck. Es wurde wieder hell. Es war wieder ein sonniger Frühherbsttag. Er stieg ein. Er setzte sich schwerfällig. Nee, dachte er, wenn man dem Stacheldraht entkommen ist, wird man ja wohl auch darüber wegkommen, daß eine Frau albern und hartherzig ist und vorzüglich. Ach, wie vorzüglich!

*

Ilse, die vorzügliche, saß noch am unabgeräumten Mittagstisch. Die spitznasige Gerda neben ihr hatte den Arm zärtlich um sie gelegt und flüsterte eindringlich: „Ich verstehe natürlich, daß du weinst. Weine nur ruhig, obwohl man um Männer nie weinen soll.“

„Du hast nicht gesehen, wie traurig er aussah“, seufzte Ilse, „armselig und hilfsbedürftig.“

„Wer sagt dir denn, daß du ihm nicht helfen sollst?“ flüsterte Gerda weiter. „Natürlich wirst du. Ich kenne doch dein gutes Herz. Ein zu gutes Herz, Ilse.“

„Er ist krank, Gerda, schlimmer als Polisch und Grasemann. Und ich weiß noch nicht, ob ich Grasemann durchkriege, und eigentlich hätte ich ihm sagen müssen ...“

Gerda stand etwas brüsk auf. Sie strich den braunen Faltenrock zurecht, eine Geste, mit der sie Zorn und Verachtung auszudrücken pflegte. Sie begann, die Arme untergeschlagen, auf und ab zu gehen mit kleinen zierlichen, wiegenden Schritten. Sie sagte kalt: „Herzlichen Dank hättest du sagen müssen, daß du dich überhaupt noch daran erinnerst, mit wem du verheiratet bist. Wirklich reizend von dir nach zwölf Wochen. Darum wollen wir auch schnell alles vergessen.“ Und indem sie sich blitzschnell umwandte: „Ich will dir was sagen. Ich habe mir das genau überlegt. Ich nehme mir ein Zimmer und suche mir eine andere Stellung.“

Ilse blickte erstaunt auf. Sie sah in das wildentschlossene, hübsche Gesicht ihrer Freundin: „Du? Warum willst du denn wegziehen?“

Gerda blaffte: „Hat er dir nun endlich diese Geschichte mit der verliebten Emmy erklärt? Natürlich — kein Wort. Ist ja nicht nötig. Mein geliebter Conrad ... in Ewigkeit Deine Emmy. Da braucht man ja auch nichts zu erklären. Darüber kann man mit einem kleinen, traulichen Lächeln hinweggehen. Man ist ja krank. Man hat so viel durchgemacht. Herzlich willkommen!“

Ilse lächelte: „Du — beinahe hätte ich das wirklich gesagt. Aber es wäre wohl dumm gewesen. Wie?“

Gerda blieb mit einem Ruck vor Ilse stehen. Sie sah in diesem Augenblick wunderhübsch aus, schlank, schmal, sehnig in ihrem kaffeebraunen Rock mit dem heliotropfarbenen Pullover. Sie lachte herrisch und herzlich zugleich: „Warum sollte das dumm gewesen sein? Du bist ja fest entschlossen nachzugeben. Schwamm drüber! Die Männer haben viel mitgemacht. Und wir gar nichts. Da muß man ihnen doch verzeihen. Da muß man an der gleichen Stelle wieder anfangen, an der man aufgehört hat. Ich verstehe gar nicht, warum du ihn nicht gleich dabehalten hast. Doch nicht etwa meinetwegen? Ich bitte dich dringend, auf mich keine Rücksicht zu nehmen. Männergeschichten gehen immer vor. Das ist doch selbstverständlich.“

Damit lief sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie knallte auch die Flurtür ins Schloß. Sie raste die Treppen hinunter. Ilse beugte sich aus dem Fenster und rief ihr nach. Aber Gerda winkte ärgerlich ab, lief hinter der gerade anfahrenden Straßenbahn her, schwang sich hinauf und war verschwunden.

Seufzend ging Ilse ins Sprechzimmer. Sie griff nach dem Silberrahmen auf dem Schreibtisch und starrte die Fotografie Conrads an. Wie hatte Conrad gesagt? Ein netter junger Mann. Ganz falsch. Ein hübscher, ein sehr hübscher junger Mann war er gewesen. Aber nett? Ilses Mutter, die Pastorin Kempe, die so gar nicht pastörlich und salbaderisch dachte, hatte ihr gleich gesagt: „Er ist reizend. Aber du wirst viel Schmerzen um ihn haben.“ Ilse hatte sie gefragt: „Würdest du ihn heiraten, Mutter?“ Und die Pastorin lachend: „Es ist ungehörig, eine solche Frage an eine fünfundsechzigjährige Pastorin zu richten. Denn wenn ich ihn liebte, müßte ich ihn doch anstandshalber heiraten.“ Hierauf Ilse wieder „Das heißt also ... da ich keine fünfundsechzigjährige Pastorin bin: ich soll ihn lieben und nicht heiraten.“ Die Pastorin Kempe schlug mit einer Zeitung nach ihr: „Wie kannst du deiner Mutter solche Ratschläge zumuten?“ Ja ... das war die listige Art der Pastorin Kempe, ein Urteil abzugeben und gleichzeitig das Urteil abzulehnen. Aus dem Kempischen ins Deutsche übertragen, hieß der Ratschlag natürlich: Tu dich mit ihm zusammen. Aber heirate nicht.

Ich sollte zu Mutter fahren, dachte Ilse, aber dann wußte sie schon, was die Mutter sagen würde: „Du hast doch gewußt, wen du heiratetest, und nun bist du verheiratet.“ „Man muß also dann alles ertragen?“ fragte Ilse über die Ferne weg. Und sie hörte die Antwort der heiteren, alten Frau: „Alles nicht. Aber wenn man das Gute eines Menschen nimmt ... ach, wir haben alle unsere Schattenseiten.“

Ilse stellte endlich das Bild Conrads wieder weg. Sie liebte wohl ihre Mutter. Aber sie stimmte mit ihren Lebensanschauungen, mit dieser hemmungslosen Liberalität, mit diesem „Alleszumbestenkehren“ nicht überein. Mit dem Versuch, in ihrer Ehe alles zum Besten zu kehren, war sie, Ilse, ja elend gescheitert. Wieviel hatte sie immer wieder übersehen! Diese Schar der verehrenden Patientinnen, diese ewig himmelnden Frauenzimmer, diese stundenlangen psychologischen Beratungen über erotische Sonderbarkeiten. Ekelhaft! Nicht einen Augenblick hatte sie sich Conrads sicher gefühlt, nicht einen Augenblick durfte sie in seiner Liebe ausruhen. Immer war diese Luft einer parfümierten Begehrlichkeit um ihn. „Das gehört nun mal zu meinem Beruf“, hatte Conrad gesagt, und Ilse hatte geantwortet: „Und warum hast du kaum männliche Patienten, wenn ich fragen darf?“ Und Conrad spöttisch: „Aus Gründen der natürlichen Anziehung der verschiedenen Geschlechter.“ Und Ilse: „Dir ist dein Beruf eben nicht ernst. Immer diese Spielerei. Bis das Malheur da ist.“

Und dieses war’s, was sie am meisten erschreckte, was sie hinderte, die Hand auszustrecken, in dem Augenblick, in dem es nötig war: das Spielerische, das Spöttische, das ihr so viel Kummer gemacht, das ihre Ehe so unglücklich gemacht hatte, das war aus seinem Wesen nicht ausgelöscht. Nicht durch alles Unglück, nicht durch alle Trennung verbrannt und verbannt. Und er wußte nicht einmal, was er ihr angetan hatte. Es war doch nicht nur dieser anbeterische Brief von Emmy. Es war, daß er sie nie verstanden, nie geliebt hatte. Und jetzt war sie gut genug, ihn wieder aufzunehmen. Ihn gesund zu pflegen, und alles würde so weiter gehen wie früher. Seine Zerstreutheit, seine Lieblosigkeit, seine Unaufmerksamkeit ... und die Scharen der flüsternden Damen mit den feuchten, begehrlichen Augen in seinem Sprechzimmer. Und dann plötzlich seine überströmende Herzlichkeit, seine Nettigkeit, wenn es ihm gerade einfiel und recht war. Nein, danke. Sie war kein Gegenstand, den man sich nahm und wieder wegstellte. Sie brauchte gleichmäßige Wärme, Sicherheit. Schrecklich, sich vorzustellen, daß die vier Ehejahre sich noch einmal wiederholen sollten, ins Unendliche verlängert.

Es klingelte. Sie mußte zur Tür gehen und öffnen. Es waren sicher schon die ersten Patienten der Nachmittagssprechstunde. Sie lief hinaus. Aber nein ... Gerda war zurückgekehrt. In ihrem gutgeschnittenen, schneeweißen Kittel öffnete sie und ließ die Patientin eintreten. Gerda, die zuverlässige. Ilse lief auf sie zu. Sie umarmte die Widerstrebende. Sie sagte zärtlich: „Ja — auf dich kann man sich verlassen. Du bist da, wenn man dich braucht.“ Gerda lächelte wehmütig: „Die Verläßlichen werden eigentlich nie gebraucht. Unverläßlich muß man sein ... wie ein Mann.“

Beide lachten. „Weißt du“, sagte Ilse eifrig, „es war nur im ersten Augenblick so merkwürdig. Er war so verändert. Du weißt ja, im Grunde ist er begabt und bedeutend, und ich dachte: Wenn man geliebt hat, kann man vielleicht wieder lieben.“

„Liebe ist eine unheilbare Krankheit“, seufzte Gerda, „aber es nützt nichts, zu lieben. Man muß geliebt werden.“

Merkwürdig, dachte Ilse, das habe ich auch immer gedacht. Aber ich glaube, so wie Gerda das sagt, ist es nicht richtig. Sie kann nur nicht lieben, die Arme. Und ich? Ich könnte wohl lieben, aber ich kann auch nicht. Es hat keinen Sinn. Sie sagte aber: „Du hast recht, Gerda, man darf nicht sentimental sein. Sonst wird man untergebuttert, und, nicht wahr, du bleibt bei mir? Oder willst du mir auch untreu werden?“

Gerda sah ihre Freundin mit einem kalten, prüfenden Blick an. Sie sagte: „Sei nicht leichtsinnig. Überlege dir genau, was du sagst. Versprich nicht, was du nicht halten kannst. Wenigstens unter Frauen muß Verläßlichkeit herrschen.“

„Nein, nein“, wiederholte Ilse, „ich weiß schon, was ich sage: Du sollst bei mir bleiben, das andere ist vorbei. Endgültig vorbei.“

„Tut es dir leid?“ fragte Gerda. Ilse starrte vor sich hin. Ja, es tat ihr leid. Es tat ihr weh. Aber es war ja nicht zu ändern. Und darum schüttelte sie den Kopf und sagte: „Nein — es tut mir nicht leid. Es war nur aufregend. Das verstehst du doch?“

„Ich verstehe alles“, sagte Gerda, „außer wenn Frauen den Männern nachlaufen. Das gehört sich nicht.“

Ilse wollte noch etwas erwidern. Aber es klingelte gerade wieder. Eine neue Patientin kam, wurde herzlich begrüßt und ins Wartezimmer geführt, und Gerda sagte mahnend: „Na, los ... tun wir was. Das ist immer das Beste.“

Als wäre nichts geschehen

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