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Wandsbeker Wiedersehen

Unmittelbar neben dem Arztschild „Dr. med. Ilse Brederopp“ hielt das Auto. Conrad stieg aus und sah zu den Geranien hinauf, die in der Herbstsonne hellrot leuchteten. Hannes beugte sich zum Wagen hinaus. Er sagte mit gedämpfter Stimme, so berlinerisch, wie er immer sprach, wenn er erzieherisch wirken wollte: „Also, Mensch, Kopp klar, Nacken steif. Und gleich, wenn de reinkommst, dreimal mit de Faust ornlich aufn Tisch jekloppt, daß de Bleistifte aus der Schale hüppen und de wohljeordneten ärztlichen Bestecke det Klappern kriegen. Männlich, männlich. Det allein imponiert den Damens.“

Dann schnurrte das Auto davon. Conrad ging schnell ins Haus. Er wußte, daß er umkehren würde, wenn er auch nur einen Augenblick nachdachte. Denn es war doch offensichtlicher Blödsinn, was er jetzt machte. Seit Wochen schrieb er schon an einem Brief für Ilse. Einem feinabgewogenen, objektiven, außerordentlich kühlen Brief, in dem er ihr klarlegte, daß sie eigentlich nie zusammengepaßt hätten und daß „jenes fürchterliche Mißverständnis“ mit der unbekannten Emmy die natürliche Folge einer tiefen Fremdheit gewesen sei und ein Treuebruch von Ilses Seite, ein seelischer Ehebruch, schlimmer als jeder körperliche, für den er weit eher Verständnis aufgebracht hätte. Er versuchte sich einige „famose“ Wendungen und Spitzen aus dem ungeschriebenen Brief für die kommende Unterredung einzuprägen. Dabei tappte er langsam die schmale Holztreppe hinauf, an einem grünlichen Jugendstilmuster aus Schwertlilien und Seerosen vorbei, das oberhalb eines frischgelackten Paneels die Flurwände zierte. Was wollte er sagen? Alle feinen Bemerkungen und spitzen Beweise waren ihm entfallen. Warum hatte er Ilse nicht wenigstens antelefoniert? Wenn sie sich nun zu Tode erschrak? Oder wenn sie ihm in ihrer heftigen, kalten Art die Tür wies? Oder wenn sie ihm gar — das war doch schließlich auch möglich bei so einer Rückkehr aus der Hölle —, wenn sie ihm gar weinend um den Hals fiel und gegen alle Erwartung plötzlich alles gut war? Das wäre ... Ja, was wäre es? Schrecklich? Schön?

Wienczierczig, Amtmann, las er. Er war oben. Wienczierczig? Ulkiger Name. Und Amtmann dazu? Ach, das war die linke Wohnung, und rechts drüben hing das weiße Emailleschild: Dr. med. Ilse Brederopp. Weinend würde sie ihm übrigens nicht um den Hals fallen. Sie weinte niemals in Gegenwart anderer Menschen. Vielleicht, wenn sie allein war? Nein — wahrscheinlich auch nicht. Schrecklich, wenn eine Frau nie weinen kann. Ich bin doch sehr böse auf sie, stellte er erstaunt fest. Es hat also keinen Sinn, daß ich hineingehe. Außerdem wird sie mir nie verzeihen, daß ich schon zwölf Wochen hier bin. Besser, ich kehre um. Und in dieser Sekunde klingelte er.

Die Tür wurde sofort geöffnet. Ein paar kalte, grünlich schimmernde Augen blickten ihm entgegen. Sie gehörten einer zierlichen, blondgelockten Frau mit spitzer Nase, die anscheinend als Sprechstundenhilfe fungierte. „Ich möchte Frau Doktor Brederopp sprechen“, sagte Conrad, „ich bin ...“ Die Sprechstundenhilfe hatte schon die Tür zum Sprechzimmer geöffnet und sagte mit etwas heiserer Stimme: „Bitte Platz zu nehmen!“ Und indem sie die Tür hinter dem eintretenden Conrad schon wieder schloß: „Es sind heute nur wenige Patienten. Sie haben Glück gehabt.“

Glück? dachte Conrad und setzte sich auf einen der knarrenden Strohstühle. Er wischte sich den kalten Schweiß vom Gesicht. Sehr unangenehm: bei der kleinsten Gemütsbewegung dieses entsetzliche Schwitzen. Oder vielleicht war es auch gut. Das Wasser mußte ja aus dem gedunsenen Körper heraus. Also nur recht viel Gemütsgymnastik! Vorzüglich. Es war nur noch eine Patientin vor ihm, eine ungewöhnlich dicke, asthmatische Dame mit einem zu kleinen Federhütchen auf dem großen, grauhaarigen Rundkopf. Ein Duett der Aufgeschwemmten, dachte Conrad und versuchte, seinen heftigen Atem zu beruhigen. Die Dame blätterte mit pfeifenden Lungen in einem Modejournal. Conrad nahm sich auch eine der zerfledderten, verschmutzten Zeitschriften. Wenn Ilse hereinkam, mußte er sich verstecken. Ein Wiedersehen in Gegenwart der Asthmatischen ... das ging unter keinen Umständen. Die Zeitschrift hieß „Heimchen am Herd“. Die Nummer war schon sehr alt. Sie enthielt noch R-Mark-Rezepte unter reichlicher Anwendung von Aromen. Anweisungen — unter der Rubrik „Am Feierabend“ —, wie der hilfreiche Gatte aus krummen und verrosteten Nägeln nahezu neuwertige herstellen könnte. Conrad las diese Ausführungen mit Interesse und Sachverständnis. Beim Barackenbau im ukrainischen Waldlager hatten sie immer nur krumme und rostige Nägel gehabt. Die Anweisungen im „Heimchen“ zeugten von Sachkenntnis.

Conrad hob jetzt die Zeitung mit einem Ruck vor sein Gesicht und ließ sie wieder sinken. In der Tür war die Spitznasige erschienen und winkte der Asthmatischen. Nur für eine Sekunde wurde Ilse sichtbar. Genug Zeit, um zu erkennen, daß sie immer noch in der Sprechstunde ihr „Amtsgesicht“ trug. Die Stirn wichtig gekraust, die randlose Brille adrett auf der kleinen Nase. Wie früher hielt sie sich etwas zu gerade und hatte beide Hände in die Kitteltaschen gestopft. Ein bißchen dicker, schien’s, war sie geworden.

Eine nette und hübsche Frau, dachte Conrad. Das Ordentliche, das Saubere, das Tüchtige hatte ihn damals angezogen. Er selbst war unordentlich, ungleichmäßig, bald faul, bald übermäßig fleißig, manchmal die ganze Welt heiter umarmend, dann wieder gelangweilt in einer trockenen, sinnlosen Melancholie verharrend. Sie hatte ihn erst zu einem gleichmäßig arbeitenden, tüchtigen Psychiater gemacht. Er verdankte ihr viel. Und sie hatten doch auch manches Schöne zusammen erlebt! Es war keineswegs so, daß sie sich allzu oft gestritten hatten, die drei Ehejahre lang. Allerdings die Härte, die Schärfe, mit der Ilse die meisten Menschen verurteilte, hatte ihn immer gestört. „Verurteilen ist nicht unsere Sache“, hatte er ihr immer gesagt. „Das überlaß den Staatsanwälten, die aus allem das Böse rausklauben müssen.“ Er hatte sie dann „Herr Staatsanwalt“ genannt, und Ilse lachend: „Der Staatsanwalt soll gar nicht die Leute reinlegen und verurteilen. Er soll nur die Wahrheit rauskriegen.“ Conrads beinahe fröhliches Gesicht verfinsterte sich jetzt wieder. Die Wahrheit! Immer wieder die Wahrheit! Ja, die war das Kreuz ihrer Ehe gewesen. Das Schema des Gespräches war etwa so: Conrad: „Die Wahrheit sieht bei jedem Menschen anders aus. Außerdem ist sie nicht mitteilbar.“ Und Ilse: „Aber die Ehrlichkeit ist mitteilbar, und die sieht bei jedem Menschen gleich aus.“

Conrad stand auf. Es hatte keinen Zweck. Nur schnell fort, ehe Ilse mit der Asthmatischen fertig war. (Übrigens ein typisch psychogenes, seelisch bedingtes Asthma. Ilse, die Schulmedizingläubige, würde nie damit fertig werden.) Also: schleunigst fort. Verschwinden! Nie wieder auftauchen!

Natürlich wurde in diesem Augenblick die Sprechzimmertür geöffnet, und Ilse, die Hände in den Kitteltaschen, stand im Türrahmen. „Darf ich bitten“, sagte sie tonlos und ohne „den Patienten“ anzusehen Er interessierte sie nicht als Mensch, sondern nur als Kranker, also erst, wenn er die Schwelle zum Untersuchungszimmer überschritten hatte. So kam es, daß Conrad dicht an sie herantreten mußte, ehe sie ihn erkannte.

„Tag, Ilse“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

„Tag, Conrad“, antwortete sie und wurde erst rot und dann sehr blaß. Und beinahe hätte sie wie bei allen neuen Patienten ihre alte Redensart angewandt: „Was führt Sie zu mir?“ Sie musterte ihn verstohlen. Conrad? Dieser aufgedunsene ältere Herr mit den grauen Haaren, mit dem starren Lächeln, den zu weiten, aufgekrempelten Hosen, dem zu engen Röckchen konnte doch nicht Conrad sein! Sie faßte, ihn am Arm und führte ihn ins Zimmer. „Komm, setz dich, dir ist sicher nicht besonders. Das verdammte Hungerwasser. Ich habe drei, nein, vier solche Fälle in meiner Praxis.“

Conrad setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Ilse stand an der anderen Seite des Schreibtisches. „Wie geht es denn deinen drei, vier anderen Fällen?“ fragte Conrad. Und Ilse, die Hände schon wieder in den Taschen des Kittels, stotterte sachlich: „Ach danke ... es geht langsam, zu langsam. Du wirst es schneller überwinden. Hattest du nicht ein ziemlich robustes Herz?“

„Ja ... ziemlich robust. Das war mal“, sagte Conrad.

Ilse lächelte verlegen. War einmal, dachte sie schnell. War einmal. Vergangenheit! Vorbei! Vielleicht war nicht nur das Schöne von früher vorbei, sondern auch das Schreckliche. Aber nein ... er war ja nicht mit der Pelzmütze gekommen, mit der wattierten, schmutzigen Jacke, mit dem armseligen Bündel in der Hand, wie die anderen Rußland-Heimkehrer. Er war nicht gleich zu ihr gekommen, sondern ... Sie kniff die Lippen zusammen, die harte Falte zwischen Nasenwurzel und Mundwinkel war wieder da, und sie fragte, was sie gar nicht fragen wollte und was Conrad erwartet hatte: „Wie lange bis du schon da?“

Wenn’s nicht die Wahrheit sein kann, dachte Conrad, daß ich eigentlich täglich habe herkommen wollen und es nur nicht konnte, weil der saudumme Emmy-Brief zwischen uns stand, dann soll’s wenigstens mit Ehrlichkeit beantwortet werden: „Zwölf Wochen und vier Tage“, sagte er schnell, „du warst doch immer für Genauigkeit. Und ich wohne seit sechs Wochen bei Hannes Hohmann. Erinnerst du dich an ihn? Nein, richtig ... ich war immer nur zu Männerabenden bei ihm. Hannes Hohmann, der Architekt, ich erzählte dir. Der Werkmeisterssohn, der so stolz ist auf seine proletarische Abkunft und auf seine adlige Frau. Erinnerst du dich?“

„Ich glaube, ich erinnere mich“, sagte Ilse. Aber sie erinnerte sich nicht.

Sie kam jetzt auf die andere Seite des Schreibtisches. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Sie wollte endlich sagen, wie sehr sie sich freute, daß er wieder da war, daß er den Weg zu ihr gefunden hatte. Aber da waren diese zwölf Wochen und vier Tage. Über die konnte sie nicht wegspringen. Sie war nicht so leichtfüßig, so leichtsinnig wie ... nun wie die meisten anderen Frauen, und so sagte sie nur, mit einem rührenden Klein-Mädchen-Lächeln: „Schön, daß du entkommen bist. Es war wohl sehr schwer ... alles?“

„Ja, ich bin entkommen“, sagte Conrad und zog Ilse vorsichtig an sich. Er küßte sie leicht auf die Wange, mit einem Jungmädchenkuß, wie er ihrem Lächeln entsprach. Einen kurzen Augenblick lehnte sich Ilse an ihn. Er legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie paßten in der Größe gut zusammen. Sie hatten oft darüber gescherzt, daß sie wenigstens in dieser Beziehung füreinander geschaffen waren. Aber dann machte sich Ilse verwirrt wieder los. Sie trat zwei Schritte zurück. Sie betrachtete ihn forschend, mit gekrauster Stirn.

„Sehr elegant bist du gerade nicht“, tadelte sie.

„Nein ... das ist eine Hose von Hannes, und das Hemd ist auch von ihm, und den Rock hat mir Bruhn, der erste Assistent, geschenkt. So was tragen Herren nicht, die einen Beruf haben.“

Ilse wollte sagen: Wenn du wegen der Sachen gekommen bist ... Aber Gott sei Dank, das schluckte sie im letzten Augenblick noch herunter. Ganz gegen ihre Gewohnheit. Denn eigentlich „muß“ man doch ehrlich seine Meinung sagen. Sie sagte vielmehr: „Das Schlimme ist ... es ist alles verbrannt. Ich weiß nicht, ob ich dir das schrieb.“

Nein, du schriebst es nicht, natürlich schriebst du es nicht. Du hast überhaupt nicht geschrieben, wollte nun Conrad sagen. Aber er war es von seinem Beruf her gewöhnt, vorsichtig zu sprechen, und so sagte er: „Ich dachte es mir. Ich habe mit nichts gerechnet.“

Ilse setzte sich auf die Ecke des Schreibtisches, die Beine leicht übergeschlagen, die Hände um die Fessel des rechten Fußes. Merkwürdig, dachte Conrad, sie hat immer noch dieselben Bewegungen, dieselbe Art zu sitzen. Mit wie wenig Gesten kommt der Mensch sein Leben lang aus!

„Es war nämlich so“, erzählte Ilse, „ich hatte alle deine Sachen in zwei Koffern verstaut. Luftschutzgepäck. Und meine Sachen in zwei andere. Aber auf die Dauer war das zu schwer. Dies Geschleppe. Drei Treppen rauf, drei Treppen runter. Zweimal, dreimal die Nacht. Wir schafften das einfach nicht.“

„Wer ist denn wir?“ fragte Conrad.

„Gerda und ich. Ach, richtig, die kennst du auch nicht, das heißt, du hast sie gesehen. Eben.“

„Deine Sprechstundenhilfe?“

„Meine Freundin. Wir haben alles zusammen durchgemacht. Na ja: es ging nicht mehr mit dem Geschleppe. Da haben wir deine Koffer unten gelassen. Viele haben das gemacht. Eigentlich alle.“

„Und da kam eine Bombe ... und heidiwitzka ... weg alles!“

Ilse seufzte: „Viel dümmer noch. Eines Tages habe ich die Koffer raufgeschleppt ...“

„Um die Sachen zu lüften und auszuklopfen“, sagte Conrad ganz ernst. Ilse sah ihn erstaunt an: „Woher weißt du das?“

„Fernsehen“, nickte Conrad freundlich, „ich kenne doch meine ordentliche Ilse.“ Er sagte wirklich „meine“ Ilse. Sie errötete wieder. Dann erzählte sie wichtig weiter: „Und an diesem Tage kamen die Flieger viel früher als sonst. Es war knapp dämmerig, und alle deine Sachen hingen noch auf dem Balkon. Der Alarm kam viel zu spät. Wir konnten nur noch unsere Koffer nehmen und runterrasen. Und ausgerechnet an dem Abend fielen die Brandbomben auf unser Haus.“

„Muß hübsch ausgesehen haben, wie meine Anzüge brannten“, lachte Conrad, „der blaue, der graue, der Reitanzug mit den Pepitahosen. Du nanntest mich Pepi, wenn ich ihn anzog. Der Smoking. Und einen Frack hatte ich ja wohl auch?“

„Ja, einen Frack hattest du auch“, sagte Ilse eifrig, „und am meisten leid tut es mir um den braunen Flanellanzug. Weißt du, warum?“

Conrad erinnerte sich nicht. Ein Schatten ging über Ilses Gesicht. Sie flüsterte: „Ist ja auch egal. Ist eben alles weg.“

„Gräm dich nicht“, sagte Conrad herzlich, zu herzlich, fand er plötzlich, und deshalb konnte er auch den dummen Witz nicht unterdrücken, der ihm jetzt einfiel: „Hoffentlich ist der Teppichklopfer auch mit verbrannt.“ Ilse sah ihn verständnislos an. „Der Teppichklopfer? Natürlich. Hattest du ihn besonders in dein Herz geschlossen?“

„Ich nicht“, sagte Conrad bockig. Aber Ilse verstand ihn auch jetzt nicht. Bei Witzen leitete sie langsam. Morgen oder übermorgen würde sie verstehen, wohin diese Frage zielte. Mit dem Teppichklopfer hatte sie doch natürlich den verfluchten Emmy-Brief herausgeklopft. „Jedenfalls war’s sehr nett von dir, daß du dich so lange um meine Anzüge gekümmert hast“, sagte er freundlich.

„Ach, es hat alles keinen Zweck“, seufzte Ilse, „ausgerechnet an diesem Tage mußten die Anzüge oben hängen! Aus dem Keller hätten wir sie noch herausgekriegt.“

„Ach, Ilse“, neckte Conrad, „Ordnung muß doch bekanntlich sein. Nur: die Ordentlichen werden nie belohnt.“

„Unsinn“, widersprach Ilse ernst, „nur weil ich ordentlich bin, habe ich meine paar Sachen gerettet. Und auch ein klein bißchen von dir. Das rohseidene Hemd, weißt du, und die silbergraue Flanellhose.“

„Eine silbergraue Flanellhose hatte ich?“ staunte Conrad, „war ich so fein?“

„Sehr fein warst du“, sagte Ilse ernst, „warte, ich hol’ gleich die Sachen. Du bleibst doch zu Tisch, nicht war?“

„Natürlich“, sagte Conrad, „wenn es euch recht ist.“

Ilse stand schon an der Tür: „Euch? Ach ja, ich muß es Gerda erzählen, daß du da bist.“ Und damit war sie draußen.

Conrad sah ihr lächelnd nach. So wild ist es also doch nicht mit der Gerda, dachte er. In der Aufregung hatte sie die Freundin vergessen. Ilse neigte früher zu heftigen Frauenfreundschaften. Frauen sind verläßlicher, pflegte sie angreiferisch zu behaupten. Er hörte Ilse draußen aufgeregt reden. Gerda schien leise zu antworten oder gar nicht. Conrad schaute blicklos vor sich hin. Dann plötzlich entdeckte er etwas Erstaunliches: Da neben den Rezeptblöcken stand im Silberrahmen sein Bild. Ach — so hatte er einmal ausgesehen? Er schaute in den Spiegel. „Erbarmungswürdig“, flüsterte er. Und berlinerisch: „Nee ... nee ... wat haben se bloß mit dir jemacht, Conni.“ Er sah wieder das Bild an. Unten in den Rahmen war ein gepreßtes Stiefmütterchen geklebt. Was bedeutete denn das? Und der Anzug mußte der braune Flanellanzug sein. Dr. Conrad Brederopp, der feine Herr von 1938, saß am Tisch eines Ausflugslokals. Dahinter ein Stückchen Wasser. Richtig: Schildhorn. Ein lustiger Vormittag. Sie waren zusammen aus der Praxis ausgerückt. Sie hatten draußen gefrühstückt. Sie hatten aus einer gackernden Blechhenne ein buntes Blechei gezogen mit scheußlichen Zuckerbonbons. Und nachher hatte Conrad ein paar Stiefmütterchen aus dem Beet des Restaurants gestohlen. „Weil das Schicksal dich immer so stiefmütterlich behandelt“, hatte er gesagt, als er ihr das Sträußchen reichte. Und Ilse: „Wenn es mit uns so bleibt, Conrad, will ich mich nie mehr stiefmütterlich behandelt fühlen.“ Und Conrad gerührt: „Ach, Ilseken ... man darf dem Schicksal keine Bedingungen stellen. Da wird es leicht böse.“ Merkwürdig. Er konnte dieses Gespräch wörtlich wiederholen. Eine seltsame Sache, das Gedächtnis. Was man so vergaß und was man behielt: den etwas fauligen Geruch der Havel bei Schildhorn, die alberne Blechhenne, die gestohlenen Stiefmütterchen und Ilses glückliches Lächeln.

Er wandte sich um, Ilse war wieder eingetreten. Er hielt den Rahmen hoch: „War mal ein netter junger Mensch.“

„Ja“, sagte Ilse streng, nahm ihm das Bild aus der Hand und stellte es mit einem Ruck auf den Schreibtisch zurück. Aha, dachte Conrad, Gerda, die spitznäsige, hat Ilse daran erinnert, was ich ihr „angetan“ habe. Verstehe. Wenn auch der gedunsene Mensch hier mit dem heiteren Herrn auf dem Bild nichts zu tun hat: die Schulden des heiteren Herrn muß er doch bezahlen. Und in der Erinnerung bleibt nur das Böse. Das Gute wird vergessen. Wenigstens zwischen Ehepaaren. Psychologische Grundgesetze der Ehe ... darüber hatte Dr. Conrad Brederopp, jener Herr im Silberrahmen, einen vorzüglichen Aufsatz geschrieben.

„Meine ungesammelten Werke sind wohl auch verbrannt?“ fragte er. Ilse nickte. Er streichelte ihr tröstend über das glatte Haar des Hinterkopfes (vorn trug Ilse konservativ zwei Büschel von Locken, mühsam gepflegte, und sie hatte es nicht gern, wenn man über diese Locken strich). „Schadet nichts. Die Aufsätze stimmen, trotzdem sie verbrannt sind. Leider.“ Ilse sah ihn verständnislos an: „Das Rätselreden hast du dir immer noch nicht abgewöhnt“, tadelte sie. Und Conrad: „Ich dachte an einen Aufsatz, den Titel weiß ich nicht mehr: Aber das Motiv war aus Julius Cäsar, Rede des Mark Anton, erinnerst du dich?“ Ilse schüttelte den Kopf.

„Was Menschen Übles tun, das überlebt sie,

Das Gute wird mit ihnen oft begraben.“

„Das Essen ist gleich fertig“, sagte Ilse.

„Fein“, antwortete Conrad.

Als wäre nichts geschehen

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