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Begegnung nach dem Kino

Hilla Hohmann und Conrad kamen aus einem Kino. Es war schon Anfang Oktober. Vollmond. In dem silbrigen Schein leuchteten gedämpft die Herbstblätter der Alleebäume, der Linden, Platanen und Kastanien, die viel zu groß geworden waren für die kleinen Vorgärten, zu groß für die Häuser, die hinter den breiten Stämmen verschwunden waren. „War das wieder ein Blödsinn!“ seufzte Conrad, „anderthalb Stunden Augen verdrehen, seufzen, Tränen ... um was? Um gar nichts.“ Hilla hakte ihn vertraulich unter. Sie sagte: „Wirklich saublöd. Aber immerhin ging’s um das wichtigste Thema dieser Welt: um das Mißverständnis!“

„Für euch ist es vielleicht noch wichtig“, brummelte Conrad, „ich hab’s hinter mir.“

„Sicherlich“, sagte Hilla geduldig, „aber wir anderen armen Erdenbürger müssen zuweilen daran erinnert werden, daß die Hälfte alles Leides aus dem Mißverständnis kommt.“

Conrad sah sie von der Seite an. Was für ein schönes, gradliniges Profil! Was für eine kluge, faltenlose Stirn! Und die ruhig glänzenden, großen, braunen Augen, die gewohnt waren, alles Schöne dieser Welt aufzunehmen und selbst daß Häßliche in Harmonie zu verwandeln.

„Ein Schmarren ist ein Schmarren“, sagte er heftig, „und man kann daraus nicht tiefsinnige Gedanken ziehen.“

„Warum eigentlich nicht?“

„Warum nicht, warum nicht“, wütete Conrad, „ich kann es jedenfalls nicht. Ich sehe einfach rot. Ein vernünftiges Wort von einem der beiden zur rechten Zeit gesprochen ... und die Sache wäre in Ordnung, der Film zu Ende.“

„Hm“, resignierte Hilla. Es hatte also nichts genützt, daß sie Conrad in diesen langweiligen Film geschleppt hatte. Er sah nicht, daß er ihn etwas anging. Daß er dieses eine Wort sprechen sollte, sprechen mußte, um seinen „Film des Mißverständnisses“ zu beenden. Höchst merkwürdig, daß die Menschen aus ähnlichen Fällen nichts lernen können! Bei ihnen liegt „ja alles ganz anders“. Oder gar durch die Schmerzen anderer belehrt werden? Nein — sie wollen ihre eignen Schmerzen, ihr sinnloses Leid tragen.

„Außerdem sind Sie für Mißverständnisse gar nicht zuständig“, sagte Conrad jetzt herzlich, „Sie verstehen alles.“

Hilla nickte: „Ich bin auch so glücklich, wie man es auf dieser unverständlichen Erde sein kann und darf.“

„Also doch nicht ganz glücklich“, stellte Conrad befriedigt fest.

„Nein ..., Sie Kindskopf, ich habe nämlich die Welt nicht gemacht. Nach meinen Plänen gebaut, würde sie anders aussehen.“

Sie waren vor dem Hohmannschen Hause angekommen. Hilla blickte zu ihren Zimmern hinauf. Es war alles dunkel, und ein Schatten zog über ihr Gesicht. „Hannes ist noch nicht zu Hause“, stellte Conrad fest. Hilla nickte: „Da kann ich noch den Kindern schreiben. Wenn Hannes da ist, darf ich nämlich nichts tun.“ Er sah sie erstaunt an: „Dürfen? Dürfen? Ich denke, Sie sind ein freier Mensch?“

Hilla lachte: „Wer hat Ihnen denn so was Blödsinniges erzählt? Ich ... bin verheiratet.“

„Und Hannes?“

Sie streckte ihm herzlich die Hand entgegen: „Ich hätte Lust, mit Ihnen noch einen Tee zu trinken. Aber die Kinder müssen jeden Mittwoch ihren Brief haben, sonst sind sie enttäuscht. Und Kinder darf man nicht enttäuschen. Schlafen Sie gut.“

„Ich werde noch ein bißchen im Atelier auf und ab gehen und über das Mißverständnis nachdenken“, sagte Conrad, und Hilla: „Aufundabgehen ist gut. Aber nachdenken? Ich weiß nicht, was dabei herauskommen sollte. Ihr Herz weiß ja Bescheid.“

„Weiß nicht, ob ich ein Herz habe“, wehrte Conrad ab, „aber ich weiß, daß die Menschen nichts gelernt haben und so dumm sind wie vorher.“ Er wandte sich zum Gehen, aber Hilla hielt ihn am Arm fest:

„Die Menschen sind gar nicht so dumm, Conrad. Sie zum Beispiel bestimmt nicht, und Ihre Ilse auch nicht. Es verlangt nur jeder vom anderen die Vollkommenheit. Und kein Mensch ist vollkommen.“

„Doch ... Sie sind vollkommen, Hilla. Sie ... ja.“

„Sehr ehrenvoll, Conradin. Aber wenn Sie jetzt im Atelier auf und ab gehen, versuchen Sie den Vollkommenheitswahn loszuwerden. Das ist vernünftiger, als über das Mißverständnis zu grübeln. Gute Nacht!“ Damit ging sie ins Haus.

Conrad bummelte, die Hände in den Hosentaschen, durch den mondhellen Garten. Es war kühl. Unten im Flußtal stand der Nebel wie eine dicke Wand. Die Dampfer heulten. Er betrachtete die vom Mondlicht gepuderten Dahlien. Eine große, dunkelrote brach er ab und steckte sie in den Aufschlag seines schäbigen Jacketts. Sie sah aus wie ein roter, zerfranster Luftballon. Ihn fröstelte. Die Frage des Wintermantels wurde allmählich dringend. Wie bitte? Dringend? In Rußland hatte er bei dreißig Grad Kälte nur seinen zerlumpten Soldatenmantel, und hier bei vier Grad, sieben Grad Wärme dachte er an einen Wintermantel. Albern. An einen Wintermantel war nicht zu denken. Basta. Aber an einen Dahlienstrauß. Genießerisch wählte er die Farben. Wenn ich weniger rauche, dachte er, könnte ich mir einen Tuschkasten kaufen und ein bißchen vor mich hinpinseln. Als Student hatte er einmal Malstunden genommen. Seine Lehrerin, ein blondes, zwitscherndes Fräulein, hatte ihn für ein Talent erklärt. Warum also jetzt nicht ein paar Blumen tuschen? „Na, warum wohl nicht?“ brummelte er nach Art der Einsamen vor sich hin. „Weil du deine dreizehn Mark achtzig verqualmst und niemals die drei Mark achtzig für einen Tuschkasten aufbringen wirst. Sehr einfach. Du hast keine Energie mehr, mein Bester, keinen Funken. Und nur Wasser in den Adern. Wasser. Wasser.“

Mit einem Ruck stieß er die Tür zum Atelier auf. Er blieb unwillig stehen. Auch das noch! An einem der großen Arbeitstische saß jemand. Die gebogene, silberne Arbeitslampe warf einen grellen Schein auf den Tisch. Nicht zu erkennen, wer da zeichnete.

„Guten Abend“, sagte Conrad, „bitte, sich nicht stören zu lassen.“ Er durchquerte schnell den Raum. Hinter der Lampe erhob sich die junge Zeichnerin Christina Keller. Er kannte sie flüchtig. Er kannte durch die Geschwätzigkeit von Hannes ihr Schicksal ziemlich genau. Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg. Familie totgeschlagen. Russen. „Hoffentlich störe ich Sie nicht“, sagte Christina von ihrem Tisch her, „ich habe noch ein bißchen nachzuarbeiten.“

„Zeichnen macht ja keinen Lärm“, sagte Conrad nett. Er legte die rote Dahlie aus seinem Knopfloch auf ihren Tisch. „Ich habe gestohlen, und davon sollen Sie was abhaben.“

„Danke“, sagte Christina, „was für eine schöne Dahlie.“

In der Lampendämmerung erschien ihm ihr Gesicht madonnenhaft lieblich. Nein: das Gesicht war zu groß für eine Madonna. Langgestreckt, pferdeähnlich, mit Schatten, die von innen kamen. Viel zu lange hatte Conrad sie schon angeschaut. Er wandte sich schnell: „Von mir aus können Sie auch singen oder pfeifen, mich stört es nicht. Ich habe nämlich nichts zu tun.“

„Vielen Dank“, sagte sie, „ich pfeife nicht.“

„Dann ist ja alles in bester Ordnung“, schloß Conrad, betrat sein Zimmer und machte die Tür mit einem ärgerlichen Ruck hinter sich zu. Ja — er war ärgerlich. Was sollte dieses indiskrete Geschwätz? Nur weil er ihr Schicksal kannte, nur weil sie ihm leid tat, hatte er ihr die Dahlie geschenkt. „Man muß nett mit ihr sein“, hatte Hannes großmütig gesagt. Gut! Gut! Aber mußte er nett sein? Sie hatte schlimm bezahlen müssen. Er auch. Jeder mit dem, was er hat, dachte er zynisch. Ich mit meiner Gesundheit und wahrscheinlich mit meiner Existenz und sie ... na ja. Kein Grund, miteinander zu schwätzen oder Blumen zu verschenken. Außerdem war es lästig, daß sie im Atelier saß. Nun war er in seiner engen Kammer eingesperrt.

Es war die frühere Gerätekammer des Bildhauerateliers. Drei Schritt breit und vier Schritt lang, eine Art Gefängniszelle. Sogar ein rostiges Gitter gab es vor dem Fenster, das auf den Obstgarten hinausging. Ein Feldbett stand drin, ein halbverrosteter Waschständer mit einer Blechwaschschüssel und einer tulpengeschmückten Porzellanwasserkanne, ein dreibeiniger Plüschsessel, den man nicht verrücken durfte, weil das vierte Bein durch Ziegelsteine ersetzt war. Und als Prachtstück ein winziges birkenes Biedermeiertischchen mit zersprungenem Furnier und mit einem Klaviersessel davor, aus dessen lederner Sitzfläche die graue Wattepolsterung hervorquoll. Ein Flickenteppich lag auf dem Boden, und auf dem Holzstuhl neben dem Bett stand eine flache türkische Lampe aus Messing mit einem goldenen Halbmond als Spitze und mit roten Troddelfransen als Schmuck. Ein lumpiges Zimmer. Aber trotzdem gemütlich. „Mehr braucht der Mensch nicht“, hatte Conrad schon ein paarmal zu Hannes gesagt. „Alles andere haben ihm so Architekten wie du eingeredet, damit sie ein Luxusleben führen können, überflüssigerweise in Bars rumsitzen, unnütze Autos fahren und nichtsnutzige Weiber mit Schmuck und Pelzen behängen.“ Und Hannes hatte erwidert: „Untersteh dich und preise die Selbstbescheidung. Ich brauche Menschen, die sinnlose Wünsche haben und sinnlosen Luxus konsumieren. Davon lebe ich, und zwar gut, wie sich das gehört.“ Und Conrad: „Ich jedenfalls brauch’ nicht mehr, und mich kriegst du hier nicht wieder raus.“

So, und nun saß er hier, besah seine zwölf Quadratschritte und fühlte sich zum ersten Male, seit er zurück war, wieder gefangen. Drei Schritt breit und vier Schritt lang, und da draußen saß dieses Frauenzimmer und hinderte ihn, in dem Atelier auf und ab zu rennen. Das hatte ihm doch Hilla geraten. Worüber sollte er nachdenken? Über den Vollkommenheitswahn. Na ... den hatte er nicht. Den hatte ... Ilse. Und zwar kräftig. Leider nur nicht auf sich selbst gerichtet, sondern auf ein sehr ungeeignetes Objekt. Auf ihn, Conrad, einen Psychologen und Psychiater von Rang, der sich täglich mit dunklen Untergründen, mit den unbeherrschbaren Tiefen der menschlichen Seele zu befassen hatte, vor dem sich die Leidenden, die Patienten, täglich und schamlos bis in ihre schmutzigen Tiefen entblößten. Was für eine anständige Sache war dagegen noch die kläglichste körperliche Nacktheit, vor der sich die robustere Ilse oft genug entsetzte. Der Vollkommenheitswahn — der wurde einem schon ausgetrieben, vor allem in dem dunklen Grenzgebiet der Verfallenheiten, der Schwächen, der Süchte, in dem klüftereichen Felsgewirr der Hysterien, in dem Irrgarten der Schizophrenie, wo die Vernunft dicht neben dem Wahnsinn lagerte. Und wenn man aus diesen Dunkelheiten ans Licht stieg, dann war es nicht möglich, die Infektionen mit etwas Seife und einer harten Wurzelbürste abzuwaschen, so wie Ilse, die immer saubere, das konnte. Die Seele läßt sich nicht so leicht desinfizieren, und das Gehirn, das immer grübelnde, läßt sich nicht chemisch reinigen. Das braucht schon ein bißchen mehr, eine Abwechslung, eine Aufheiterung, ja manchmal einen Rausch, einen Lärm, einen Rummelplatz mit kreischenden Menschen, mit brüllenden Melodien, mit rasenden Berg-und-Tal-Bahnen, mit Lichtern, die sich an Karussells drehen und an blödsinnigen Buden leuchten.

Nanu, woher kam denn plötzlich dieser Rummelplatz? Ilse liebte doch keine Rummelplätze. Sie fand es sinnlos, nach Tonpfeifen und ausgeblasenen Eiern zu schießen, sich Luftballons in das Knopfloch zu stecken (die Dahlie vorhin — ja .. sie sah aus wie ein Luftballon, daher wohl die Erinnerung). Schön sinnlos war es, Schmalzkuchen zu essen, obwohl man satt war, bärtige Frauen zu bestaunen oder auf lahmen Pferden im Hippodrom zu reiten. Nein ... das konnte man alles mit Ilse nicht. Also, was sollte der Rummelplatz jetzt? Er lächelte. Er war drei-, vier-, fünfmal hintereinander auf dem Rummel gewesen. Wie hieß sie? Herta. Wie sah sie aus? Keine Ahnung. Doch. Sie hatte eine lustige Stupsnase. Sie hatte ein hübsches Zimmer mitten in der Stadt. Die Tür lag gleich gegenüber der Eingangstür. Man brauchte die Schuhe nicht auszuziehen. Man kam, den Ballon im Knopfloch, das erschossene Lebkuchenherz am Hals. Man lachte viel. Aber man mußte leise lachen. Kichern. Es war sehr albern. Und Ilse hatte nichts gemerkt. Gut so. Alles, was man vergißt, hatte keinen Sinn. Aber manchmal braucht der Mensch das Sinnlose, wenn er verarbeitet und vergrübelt ist, wenn er nicht mehr weiterkommt mit den Problemen seiner Kunst, seines Berufes, seines Lebens. Er stand auf, er gähnte. Er reckte sich. Er ging: vier Schritt lang, drei Schritt breit.

Es klopfte. Vor der Tür stand Christina Keller, mit einer Teetasse in der Hand. Sie hatte — jetzt erkannte er es — eine weiße Flauschjacke an, sehr geschickt aus einer alten Decke geschneidert, ein knallrotes Halstuch, hübsch geknüpft. Dazu trug sie flaschengrüne Manchesterhosen. Christina sagte schüchtern: „Ich habe mir einen Tee gekocht. Ich dachte, vielleicht frieren Sie auch.“

„Nein“, sagte Conrad, „mir ist eigentlich immer zu heiß.“

Christina wandte sich zum Gehen: „Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht stören.“

„Bei mir gibt’s nichts zu stören“, lachte Conrad, „ich habe nicht das geringste zu tun.“

Christina stellte die Tasse auf das birkene Tischchen. „Dann ist es ja gut“, seufzte sie erleichtert, „Sie können den Tee schon trinken. Teekochen ist das einzige, was ich meisterhaft beherrsche.“ Und schon im Abgehen setzte sie hinzu: „Verdammt eng haben Sie es hier. Im Anfang habe ich nämlich auch hier gewohnt. Man kriegt manchmal Erstickungsanfälle.“

„Abends marschiere ich meist da draußen auf und ab“, sagte Conrad, „aber nun ...“

„Wenn Sie herummarschieren wollen, bitte. Ich schau’ nicht hin, und schwätzen brauchen Sie auch nicht. Ich habe zu tun.“

Sie ging hinaus. Die Tür ließ sie offen. Conrad probierte den Tee. Er war goldbraun, nicht zu stark, nicht zu schwach. In der Tat vorzüglich. Er starrte durch die Tür in das leere, dämmerige Atelier. War das Ganze eine einladende Anknüpfung, ein koketter Annäherungsversuch? Kaum. Sie hatte kein bißchen kokettiert. Sie hatte ihn auf eine merkwürdig gerade, eigentlich unweibliche Art angeschaut. Sie wollte sicherlich nichts von ihm. Und er? Nun — er wollte wahrhaftig nichts von ihr — oder doch? Ihr Schicksal interessierte ihn. Wie überwindet eine hübsche, junge Frau derlei Erlebnisse?

Er nahm die leere Teetasse und ging hinein. „Wenn Sie mir noch eine Tasse Tee schenken würden“, sagte Conrad ein bißchen verlegen. Sie goß ihm ein, ohne ihn anzusehen. Dabei sagte sie: „Es wäre mir wirklich angenehm, Sie liefen hier auf und ab, wie Sie es gewohnt sind. Sonst trau’ ich mich nie mehr abends hierher.“

Conrad schob ihr eine Zigarette zu. Sie dankte und hielt ihm ihr Feuerzeug hin. Dann vertiefte sie sich in ihre Zeichnung, und Conrad begann seinen Marsch durchs Atelier. Er hatte die etwas zu weiten Filzbabuschen an, die ihm Hannes geschenkt hatte. Deshalb ging er lautlos. Aber elegant sah er wahrhaftig nicht aus mit seiner aufgekrempelten Hose und dem Herzstückchen-Jakett. Schweigend marschierte er fünf Minuten hin und her. Er kam sich albern vor. Ein Demonstrationsmarsch, dachte er. Nur, um zu beweisen, daß wir einander nicht stören. Aber sie stört mich. Ich kann nicht nachdenken. Oder ist es gut, daß ich nicht nachdenken kann? Doch: es ist sehr gut. Hillas Preisaufgabe über den Vollkommenheitswahn habe ich gelöst. Ilse hält sich für vollkommen, — ich weiß, daß ich nicht vollkommen bin. Ich könnte deshalb verzeihen. Ilse kann es nicht. Punkt. Erledigt. Moment noch: ich habe Ilse ja nichts zu verzeihen. Oder doch? Jemandem seinen Charakter verzeihen? Quatsch. Jeder ist, wie er ist.

Er schaute zu Christina hinüber. Er sah im Schein der Lampe deutlich nur ihre Hände, schmale, ziemlich lange, geschickte Hände, die Lineal, Zirkel und Zeichenfeder sicher handhabten. Dahinter, schon undeutlicher, das knallrote Halstuch in der weißen Flauschjacke. Müßte man tuschen, wenn man einen Tuschkasten hätte. Er trat an ihren Tisch heran und rollte ihr wieder eine Zigarette über die Platte. Sie rollte die Zigarette zurück. „Ist mir zuviel“, sagte sie und hielt ihm wieder das brennende Feuerzeug entgegen. Er sah jetzt endlich ihr Gesicht genauer, das hübsche Pferdegesicht mit der zarten, kühnen Nase, umrahmt von harten, blonden Haaren, die sie zu straff zurückgebürstet trug. „Wenn man Sie ansieht“, sagte er, „merkt man erst, wie verkommen man ist.“ Sie blickte eine Sekunde abwehrend auf. Sie hatte dunkelblaue Augen mit übermäßig langen Wimpern. „Entschuldigen Sie. Es betraf nicht unser beider Seelenleben. Ich meinte nur, Sie haben doch bestimmt auch kein Geld. Und nun schauen Sie mich mal an und dann einen kurzen Augenblick sich selbst, falls Ihnen das nicht unangenehm ist.“

„Besonders gern schau’ ich mich nicht an“, sagte sie unbeteiligt. „Wiedersehen“, winkte Conrad und begann wieder seinen Marsch in die Dämmerung.

„Wiedersehen“, sagte sie, „und wenn Sie noch einen Tee wollen, dürfen Sie ruhig noch mal auftauchen.“

„Schenken Sie nur ein“, sagte Conrad, „ich werde gelegentlich vorbeikommen.“

Weiter wurde an diesem Abend nichts gesprochen. Conrad ging gedankenlos und zufrieden auf und ab. Es war ganz hübsch, fand er, daß er nicht allein war, und noch hübscher fand er es, daß diese schöne junge Frau ihn nichts anging. Schade, daß man nicht öfter mit ganz unbekannten Menschen zusammen sein konnte. Mit Menschen, deren Schicksale, deren Lebenskreis, deren Ansichten, deren Kämpfe und Leiden man nicht kannte. Mit Unbekannten bekannt sein ... das war ein Conradscher Wunsch. Mit solchen unerfüllbaren Wünschen spielte er gern. Und warum sollte es in diesem Falle nicht möglich sein? Nun — schon deshalb nicht, weil er ihr Schicksal kannte. Aber er brauchte ja davon nicht Kenntnis zu nehmen. Vielleicht ging das, und man kam in eine Art von fremder Vertrautheit. Auch so ein unerfüllbarer Wunsch, den er sein Leben lang gehabt hatte. Aber sollte man solche Dinge nicht wenigstens versuchen? Die alten und bekannten Beziehungen der Menschen untereinander waren so, daß man nach einer neuen Art von Beziehungen Ausschau halten sollte. Gut ... das konnte man versuchen.

So weit waren seine Gedanken, als draußen ein Pfiff ertönte. Der Pfiff einer Trillerpfeife. Christina horchte. Sie legte ihre Zeichengeräte fort, setzte sich hastig ihr Samtkäppchen auf und reichte Conrad die Hand: „Es ist nodi Tee da, wenn Sie mögen.“

„Nein, danke“, sagte Conrad schroff. Sie sah ihn fragend an: „Wenn ich Sie bestimmt nicht störe ... ich muß morgen abend wieder hier arbeiten.“

„Es ist mir ganz einerlei, ob Sie hier sind. Ich marschiere, und Sie zeichnen.“

„Also auf Wiedersehen“, sagte sie, schon in der Tür. Er horchte ihr nach, wie sie hastig über den Kies davonlief. Dann mußte er laut lachen. Bekanntschaft mit einer Unbekannten! Und schon dachte er darüber nach, weshalb sie auf einen Pfiff hinauslief, mit wem sie, die scheinbar Unnahbare, verabredet war, mit wem sie, die scheinbar Schweigsame, jetzt, Arm in Arm und sicherlich lustig schwätzend, durch die Mondnacht ging. Es war Zeit, daß er sich zurückzog. Er ging in seine Kammer und knallte ärgerlich die Tür hinter sich zu.

Dann fiel ihm der Tee ein. Er ging noch einmal hinaus, goß sich eine Tasse voll. Tee konnte sie wirklich kochen. Er trank behaglich und genießerisch.

Er räumte das Geschirr zusammen, wusch es an der Wasserleitung, trocknete die Kanne und die Tassen ab und stellte sie sauber auf den Schreibtisch. Die Dahlie hatte sie vergessen. Er nahm die rote Blüte und stellte sie an Stelle des Deckels in die Teekanne, nachdem er Wasser eingegossen hatte. Wird wahrscheinlich dem Tee von morgen schaden, dachte er. Aber es sah hübsch aus. Zufrieden pfeifend ging er nun endgültig in seine Zelle zurück.

Als wäre nichts geschehen

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