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4. Weltlichkeit, Weltfrömmigkeit

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Agrippa von Nettesheim († 1535), Antwerpener Bibliothekar der niederländischen Statthalterin Margarete von Österreich, hielt in seinem Spätwerk wenig von den Künsten und Wissenschaften seiner Zeit: sie seien „allzeit zweifelhaft und aller Irrtümer und Zänkerei voll“. Auch die Philosophie sei vorwiegend eitle Spekulation, die Geschichtsschreibung voller Fabeln und die Moral von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit verschieden, somit eine unsichere Instanz. Seine Skepsis sparte die praktischen Berufe nicht aus – Soldaten, Theologen, Kaufleute und Ärzte. Karl V. ließ den Verfasser des Werks über die Eitelkeit der Wissenschaften (De incertitudine et vanitate scientiarum, 1530) aus der unruhigen Provinz ausweisen.

Erfolgreicher war ein anderes Opus Agrippas, das seinen Ruf als Okkultist begründete und die Magie vom Geruch der Gottlosigkeit befreien wollte; es versprach, über die verborgenen Kräfte der Erde, der Sterne, der Zahlen Macht zu gewinnen. Dieser Publikumserfolg war kein Zufall. Die Erschütterung des mittelalterlichen Weltbildes setzte nicht in erster Linie rationale und nüchterne Wissenschaftlichkeit frei, sondern eine Flut von Magie, wirrer Zahlenmystik und Dämonenglaubens. Das Begreifen der zahlenmäßigen Struktur der Natur gab Anlass zu wüsten Spekulationen, ja versprach geradezu gottähnliche Macht: Der Schöpfer selbst ist Mathematiker und nur Mathematik gibt Einblick in sein Werk. Manche naturwissenschaftliche Entdeckungen entstanden tatsächlich aus Anstößen pythagoreischer Spekulation.

Mathematik bot zweifellos einen Schlüssel zu greifbarem Erfolg, und die zahlreichen Mathematik-Lehrbücher der Zeit zeugen von Kalkulationsbedarf der aufstrebenden Handelszentren. Mit Hilfe der neuen logarithmischen Tabellen und Rechenschieber konnte man arithmetische Berechnungen außerordentlich beschleunigen; von den Entdeckungen und Erfindungen profitierten Schifffahrt und Bergbau, und natürlich die Kriegskunst. Nicht die gesamte Bevölkerung der Städte war vom Fieber der neuen Weltzugewandtheit erfasst, sondern hielt sich, wie noch Luther, an die Devise, ein jeder bleibe bei seiner Nahrung – und lasse die Gottlosen nach weltlichen Gewinnen streben. Auch die Kunst und der Schönheitskult gerieten eifernden Predigern in den Geruch von Kreaturvergötterung und Blasphemie. Aber der statische Zivilisationsrahmen war über die großen Handelszentren hinaus ebenso zerbrochen, wie die nachbarschaftliche ‚Reziprozitätsethik‘, einzelne Elemente verselbständigten sich, gingen in neue Synthesen ein, suchten nach stabilisierenden Faktoren und Kontinuitätslinien.

Zum Weltbild der Astronomen und Mathematiker gehörte, dass natürliche und erzwungene Bewegungen denselben Gesetzen der Mechanik gehorchen; auch die Erkenntnis der Relativität von oben und unten – obwohl der Glaube an einen grundsätzlichen Unterschied zwischen „sublunaren“ und „himmlischen“ Gesetzen und an die Vollkommenheit der letzteren noch Kopernikus’ Annahme der Kreisförmigkeit der Planetenbahnen beeinflusste. Jetzt wurde die Welt zu einem unendlichen Raum ohne Zentrum, angefüllt mit entstehenden und vergehenden Himmelskörpern, die unserer Erde glichen. Die mathematisch begründete Theorie verdrängte schrittweise die Poesie einer beseelten Natur und den kindlichen Egozentrismus, wonach die gesamte Natur um des Menschen willen geschaffen war.

Das musste nicht nur die Kirchenmänner verwirren, sondern auch das Empfinden der Laien: es bewog den Nürnberger Pastor Osiander zu seinem vorsichtigen Vorwort zu Kopernikus’ Hauptwerk (1543): Man solle die neue Theorie nicht schon für die Wahrheit halten. Das trug Osiander Beschimpfungen Giordano Brunos ein, er habe die umstürzenden Erkenntnisse des Werks verfälscht; allerdings war das Licht wahrer Erkenntnis auch nach dessen eigener Meinung nicht für die unwissende Menge bestimmt – die aus Angst vor dem Licht im Dunklen verharrt, in das sie schlechte Erziehung geführt hat (Das Aschermittwochsmahl, 1584). Das traditionelle Weltbild ließ sich denn auch durch die kopernikanische Revolution lange nicht erschüttern, und nicht nur Luther hielt den vielseitigen Frauenburger Domherrn, Dichter und Währungstheoretiker für einen Narren.

Die Menschen blieben im 16. Jahrhundert – und noch lange danach – ohnehin eher an astrologischen Vorhersagen interessiert als an wissenschaftlichen Theorien, und fragten bei jeder Lebensentscheidung, ja schon beim Antritt einer Reise, nach dem Sternbild, der Konstellation, die das Leben auf geheimnisvolle Weise beeinflusste. Rationale Erkenntnis blieb somit, wie beim genialen Wunderarzt Paracelsus († 1541), kaum unterscheidbar in Okkultismus eingebettet. Die Wahrheit war für den Pantheisten nicht in den Büchern, sondern in der Natur, und die Erde ein einziger lebendiger Organismus, dessen Pulsschlag zu messen und dessen Geheimnisse durch eine einzige Formel zu enträtseln waren. Magie, Alchemie und Astrologie wiesen so, nach den Worten L. Mumfords, einen verkürzten Weg zu Wissen und Macht; mit ihrer Naturzugewandtheit, ihren Experimenten und Beobachtungen, ihrem Willen zu praktischer Nutzanwendung, wurden sie zu Vorreitern der modernen Naturwissenschaft und mit ihr eines neuen Fortschrittskonzepts.

Die Reformation hatte kirchlich eingebundene Volksmagie, Abwehrzauber, Hagelgeläute, Heiligenkulte, Wallfahrten und Prozessionen, Zeremonien und Segnungen als „papistischen Aberglauben“ abgeschafft, aber sie hatte selbst weder naturwissenschaftliches Interesse entwickelt, noch der breiten Bevölkerung ausreichend Praktiken zur Bewältigung ihres Alltags bereitgestellt. Dem menschlichen Schuldbewusstsein wurden die Mittel zu einem periodischen Abreagieren entzogen: die Kluft zwischen Gott und der sündigen Menschheit war mit kirchlichen Sakramenten und frommen Werken nicht mehr zu überbrücken.45 Kriege, Teuerungen, Hungersnöte und Seuchen verstärkten die Verunsicherung der Menschen weiter; die Welt schien den Zeitgenossen in den Klauen des Bösen zu liegen, und der Teufel der eigentliche Herr dieser Welt zu sein. Aus Furcht und Disziplinierungswillen bildeten sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts politisch-konfessioneller Verfestigungen heraus, mit hasserfüllter Verfolgung Andersgläubiger und strenger Kontrolle der gesamten Lebensführung, Verbannung, Konfiskation und Todesurteil gerade in der „vollkommensten Schule Christi seit der Zeit der Apostel“ (so der schottische Reformator John Knox über Calvins Genf).

Auch im katholischen Bereich eines nach-tridentinischen Disziplinierungswillens entstand ein analoger Druck aufs Alltagsleben, und mit ihm ein rasant um sich greifender Hexenwahn, der durch kirchliche und weltliche Kontrollen, juristische und theologische Systematisierung, Kriminalisierung paganer Überlieferungen, auch durch die institutionalisierte Folter, eine quasi-rationale Legitimation gewann. Vereinzelte Gegner des sich selbst bestätigenden Wahnsyndroms, wie der Klever Arzt Johann Weyer († 1588), klagten gerade im Zusammenhang mit den Verfolgungen über Rückfall in heidnischen Aberglauben und mangelndes Gottvertrauen; der Jesuit Friedrich Spee († 1635) bemerkte sarkastisch, Gott und die Natur täten heutzutage kaum noch etwas, sondern alles käme von den Hexen. Seine wohltuende frühaufklärerische Meinung war die, dass nicht der Teufel, sondern die Tortur die Hexen mache. Aber zu rationalem Weltvertrauen war noch ein weiter Weg.

Zum Opfer eines exzessiver Ordungswillens der Autoritäten gegenüber ‚heidnischer‘ Weltzugewandtheit wurde der aufsässige Neuplatoniker Giordano Bruno, den man 1600 auf dem römischen Campo de Fiori verbrannte. Wenn es den Göttern gefallen hätte, hieß es sarkastisch in einem seiner Dialoge, uns über naturwissenschaftliche Theorien zu belehren, könne man sich auf die biblische Offenbarung verlassen; doch seien die heiligen Bücher wohl vor allem zu sittlicher Belehrung bestimmt. Viele Aussagen, die unwissende Interpreten als naturwissenschaftliche missverstanden, seien nichts als Gleichnis oder Metapher, und so dürfe man in Fragen der wissenschaftlichen Wahrheit nur der eigenen Vernunft vertrauen. Eine metaphorische Deutung der entsprechenden Bibelstellen war vor der Reformation durchaus zulässig gewesen und noch die gregorianische Kalenderreform (1582) beruhte auf Berechnungen des Kopernikus. Jetzt setzte eine verunsicherte Hierarchie auf Repression.

Bruno lehrte die ewige Rotation der Erde als Ursache eines ständigen Kreislaufs auch der menschlichen Dinge; doch gelangte er gelegentlich zu Formulierungen, die die Idee eines geistigen Fortschritts vorwegnahmen. Schritt für Schritt hätten tätige Zeitalter, oft wie unwissende Boten, eine Erkenntnis zur anderen gefügt, bevor die Befreiung des menschlichen Geistes „aus Dunkelheit und Erniedrigung“ (durch Kopernikus) erfolgen konnte (La cena delle ceneri).46

Freigeister, Spötter oder Gegner der Prädestinationslehre, wie Jacques Gruet, Sebastien Castiello oder der Arzt Miguel Servet, konnten in Calvins Genf ähnlicher Härte begegnen, und Luthers Mitkämpfer Melanchthon billigte Servets barbarische Hinrichtung ausdrücklich. Auf dem Genfer Reformator Calvin († 1564), lag nach dem Schicksalsjahr 1547 die Führung der protestantischen Abwehrfront gegen die einsetzende Gegenreformation, aber das bestärkte den Reformator, der hochgestellten Persönlichkeiten – von Savoyen bis Ungarn – autoritative Empfehlungen erteilte, nur in seinem ausgeprägtem Sendungsbewusstsein. „Gott will nicht, dass wir als müßige Zuschauer seiner Wundermacht dasitzen“: deshalb fühlte er sich zu theokratischer Strenge, Disziplin und Maßregelung der Verworfenen verpflichtet.

Zum Unterschied von Luther dachte Calvin nicht daran, die bestehenden Ordnungen ‚leidend zu ertragen‘, sondern wollte sie nach Gottes Willen zu einem neuen Israel, einer auf Gottes Gesetz gegründeten heiligen Stadt, neu gestalten. Das hieß, sich nicht mit dem einzelnen Seelenheil aufzuhalten, sondern aus sich herauszugehen und in Verantwortung für die schrittweise Verchristlichung aller menschlichen Beziehungen sich rastloser, zielbewusster Arbeit hinzugeben. Statt einer radikalen Leidens- und Liebesmoral, statt mönchischer Weltflucht, vertrat Calvin eine eher heroisch-diesseitige, progressive Vervollkommnung, die die Welt im Sinne der augustinischen Empfehlung benutzt, ohne sich ihr je genießend hinzugeben: Sinnlichkeit, Selbstliebe, weltliche Zerstreuung, Glück, Macht und Eigentum als Selbstzweck waren im Calvinismus ebenso verpönt, wie Trägheit. Eine rigorose Arbeitsgesinnung gewann als Mittel der Selbsterziehung und Selbstkontrolle dagegen eine religiöse Prämie. „Nachdem das Klosterwesen zerstört war, sollte die säkulare Welt in ein einziges gigantisches Kloster verwandelt werden“ (R. H. Tawney).

Auch hier sehen wir eine Fortschrittsperspektive entstehen, die sich aus der Spannung zwischen der Vorstellung einer heiligen Gemeinde mit Christus als Haupt auf der einen und den zu gestaltenden Dingen dieser Welt herauskristallisiert. Die staatliche Ordnung war nicht einfach als Strafe hinzunehmen, sondern im Bewusstsein des Bundes mit Gott aktiv auszugestalten; dabei galt die pragmatische Regel: „Wenn wir nicht können, was wir wollen, müssen wir wollen, was wir können“. Das war keine Konzession an den Relativismus: Häretiker waren für den Führer einer Weltreformation Giftspritzer, die römische Kirche ein ‚Bordell Satans‘ und auch die Lutheraner vom Teufel geleitete Ignoranten. Das „Hineinziehen Gottes in den politischen Gewaltkampf“ (Max Weber) hatte überhöhte konfessionelle Abgrenzungen und blutige Kriege zur Folge, aber auch eine unerhörte zivile Dynamik: Das Relative, Zweckmäßige und Praktische, angefangen mit Zinsfuß und Kaufmannsethik, bis hin zur Bekämpfung der Armut, war in Calvins Sicht durchaus relevant für die Schaffung einer sich gegenseitig tragenden und ‚bessernden‘ Gemeinschaft. Die Genfer Realität geriet unter seiner Autorität zu einem bürgerlichen Glashaus unter ständiger rigoroser Kontrolle einer eifernden Sittenpolizei.

Der alles reglementierende Staat war nach Calvin nicht Sache einer eigengesetzlichen Staatsraison, aber auch kein Ergebnis vertraglicher Abmachungen interessierter Privatleute; im Fall eines Versagens der obersten Amtsträger durften und sollten die magistrats inférieurs, im Bewusstsein der Verantwortung fürs Wohl des Ganzen und der Gleichheit aller vor Gott, aktiv werden. In katholisch regierten Ländern machte sich die Ständeopposition häufig den Calvinismus zu eigen, in diesem Fall um der fürstlichen Staatsgewalt Grenzen zu setzen. Spätere Calvinisten – von Theodor Beza bis John Knox – gingen in der Frage des Appells ans Volk, bis hin zur Absetzung einer tyrannischen Regierung, noch um einiges weiter. Individuelle Gewissensfreiheit galt aber auch ihnen als verdächtige Instanz.

Von besonderer Tragweite war der Impuls, der von der calvinistischen Wirtschaftsethik ausging. Obwohl einzelne Wucherer auch in Genf vom Abendmahl ausgeschlossen wurden, war der Städter und Jurist Calvin dem Kaufmannsberuf und dem Kapitalverkehr gegenüber relativ unbefangen. Fern aller pietistischen Stimmungsfrömmigkeit sollte sich der ‚Krampf des Sündengefühls‘ (Weber), die durch keine Sakramente vermittelte innere Vereinsamung der Menschen in rastloser Berufsarbeit einer fides efficax abreagieren. Man glaubte nicht allein, in wirtschaftlichem Erfolg ein Zeichen göttlicher Erwählung zu erkennen, sondern auch einen Zusammenhang zwischen ökonomischem und sittlichem Fortschritt.

Die Gründung von Manufakturen war erst einmal ein Mittel zur Beschäftigung der Armen, zu Selbstzucht, der Arbeit um der Arbeit willen; eventuell erzielte Überschüsse sollten in keinem Fall einem müßigen Rentnerdasein dienen, sondern dem weiteren Dienst im Beruf ad maiorem Dei gloriam, erst in zweiter Linie der Wohlfahrt, etwa der Schaffung von nützlichen Gemeindeeinrichtungen. Die sich selbst verstärkenden Folgen calvinistischer Arbeitsgesinnung mit Leistungsanreiz, Sparzwang und sozialer Einbindung der neuen Wirtschaftsdynamik waren nicht die Ursache des Kapitalismus, aber ein wichtiges verstärkendes Element bei der Herausbildung bürgerlicher Lebensformen, die sich später auch ohne religiöse Antriebe auf rein utilitaristischer Basis weiterentwickeln konnten.47 Lassen wir die Frage auf sich beruhen, ob die religiöse Aufladung den weltlichen Tätigkeiten auch immer gut getan hat.

Calvins Wiederentdeckung eines lebendigen Gottes, der kein metaphysisches Prinzip sein sollte, sondern absoluter Wille, eine dynamische Ewigkeit, ließ seine Anhänger nach vorne blicken und rief auch die Dimension der unwiederbringlichen irdischen Zeit wieder stärker ins Bewusstsein. Die unmittelbare Beziehung zu Gott sollte, wie wir gesehen haben, die weltlichen Bereiche von Recht und Macht, Eigentum und Familie, die natürlichen Bedürfnisse und auch die humanistische ratio naturalis gerade nicht entwerten, sondern mit zielstrebiger Energie und Verantwortungsbewusstsein erfüllen. Auch wenn das 16. Jahrhundert nicht durchweg von religiösem Eifer erfüllt war, sondern eher vom Treiben der Kaufleute und Diplomaten, der Konquistadoren und Goldmacher, so dass auf eine Weise sowohl die ‚heidnische‘ Renaissance, wie die Reformation und die Gegenreformation gleichermaßen von Gott wegführten (E. Friedell), kann doch aus der Vogelperspektive eines nicht bestritten werden: Der aktivistische Geist Calvins übte auf wahlverwandte säkulare Kräfte, auf wirtschaftliche Interessen, auf bürgerliche Lebensführung, auf ständische Freiheiten, auch auf die Herausbildung bürokratischer Einrichtungen und staatlicher Ämter, eine intensivierende Wirkung aus, die dem Begriff Weltfrömmigkeit nahekommt. Von Max Weber, der diesem Geist viel Nachdenken gewidmet hat, stammt auch der Verdacht, das Ausschalten des Ethischen aus dem weltlich-politischen Räsonnement könne das „Reinlichere und allein Ehrliche“ sein.

Die Auswirkungen eines zeitgleichen Phänomens, der Societas Jesu, waren noch weniger eindeutig. An Disziplin und Aktivität in der Welt gab sie dem Calvinismus in nichts nach,48 auch an erklärtem Willen, der Ehre Gottes jeden Eigenwillen zu opfern, dabei aber auf die Lebensbedingungen der Welt und die Gewohnheiten der Menschen, wie sie nun einmal waren, maximal einzugehen. „Wenn wir alles auf den göttlichen Dienst hinlenken, so ist alles Gebet“, schrieb der Ordensgründer Ignatius von Loyola († 1556), der erst mit dreißig, nach einer mit Luther vergleichbaren Suche, seiner Berufung, den Feldzug gegen „selbstischen Eigenwillen“ antrat. Als parallel könnte man seinen Grundsatz bezeichnen, der Mensch solle zwar auf Gnade vertrauen, aber müsse sich regen im Dienste des Heils, unter Anwendung aller natürlichen Mittel und Fähigkeiten. Der Orden benutzte diese Mittel auf eine flexible, unbefangene, oft skrupellose Weise zur Festigung der alten Kirche, der Ausweitung katholischer Macht durch Seelsorge und Missionierung, Schule und Wissenschaft. Die Jesuiten stellten sich bedingungslos in den Dienst des Papstes, aber ihre vielfältigen Tätigkeiten waren nicht einfach nur „rückwärtsgewandt“, wie kulturprotestantischer Fortschrittsstolz (J. Burkhardt) es sehen wollte; in Konkurrenz mit dem Neuen entwickelten sie ebenfalls Neues, bewahrten einiges Bewahrenswerte, das humanistische Bildungsideal, nicht zuletzt den Gedanken der Einheit der Menschheit – in Zeiten, die geneigt waren, die entstehenden Nationalstaaten und ihre Souveränität zu verabsolutieren.

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Der Traum von Dantes Weltmonarchie war schon zu seiner Zeit von Johann von Salisbury verworfen und von Robert von Neapel als angebliches scandalum für alle, die frei leben wollen, denunziert worden. Mit ihr verbunden gewesen war die Idee der friedlich geeinten Menschheit und der ihr eigenen aristotelischen Potenz zur Selbstentfaltung; ihre Zeit sollte wieder kommen. Jetzt hatte die Wendung zu den Dingen dieser Welt auch den einzelnen aufkommenden protonationalen Territorialstaaten das gute Gewissen zurückgegeben, sie jedenfalls auf ihre Gegebenheiten und Traditionen zurückgeworfen. In Florenz versuchte Leonardo Bruni die italienische Städtefreiheit nach rückwärts zu projizieren und wies die universalen Herrschaftsansprüche der Kaiser und Päpste als bloße Fiktion zurück; um 1500 interpretierte der Venezianer Sabellius-Cocceius das römische Altertum von einem national-italienischen Standpunkt aus. Deutsche Humanisten konzentrierten ihr Interesse auf einen angenommenen deutschen Nationalcharakter, der sich auch dem Reich aufgeprägt habe und aus eigenem Recht, d.h. ohne heilsgeschichtliche Tradition, eine weltliche Oberherrschaft über die Völker beanspruchen könne (Hartmann Schedel, 1493).

Hier hat auch die Reformation zur Rechtfertigung und Festigung der Territorialstaaten einen wesentlichen Beitrag geleistet. In Frankreich, den Niederlanden, Schottland und in den habsburgischen Ländern Böhmen und Ungarn wehrten sich die protestantischen Stände erbittert gegen die Beschneidung ihrer Landesrechte durch den katholischen König und eine ‚amoralische‘ Staatsraison, oder suchten zumindest den entstehenden Absolutismus in Äquidistanz zu beiden konfessionellen Bürgerkriegsparteien zu halten, wie wir schon anhand von Bodins Staatsdenken sehen konnten.49 Im lutherischen Landeskirchentum fand der Fürstenstaat ein Instrument der Disziplinierung und konfessionellen Abgrenzung, den katholischen Kaiser eingeschlossen. Das Mittelalter war auch insofern tot, als die alte Idee der friedensstiftenden Universalmonarchie für viele eher zu einer Schreckensvision geworden war; es zog herauf das Zeitalter eines mechanischen Mächtegleichgewichts als ‚Freiheitsgarantie‘, mit dem rationalen staatlichen Interesse als Haupttriebfeder.50

Der Staat wirkte nach innen befriedend, ließ aber den auswärtigen Krieg eskalieren: die Steuerschraube und die der Staatsraison verpflichtete Bürokratie waren Machtinstrumente, ohne sie keine staatliche Souveränität, d.h. Gewaltfähigkeit im Wettbewerb nach innen und außen. Vergeblich suchte der geniale Grotius († 1645) mit seinem Natur- und Völkerrecht auch ohne kaiserliche und päpstliche Suprematie die res publica christiana durch eine humanistische Ethik des friedlichen Ausgleichs und der Toleranz wiederherzustellen (H. Hofmann), durch ein ius in bello dem Krieg Regeln zu geben bzw. die barbarischsten Erscheinungsformen zu nehmen: ein zweifelloses Fortschrittsziel.

Angesichts der Greuel und entfesselten Leidenschaften beider Seiten mochte die Durchsetzung fürstlicher Souveränität mit Zustimmung rechnen, nämlich als Befriedung zumindest des staatlichen Binnenraums und der Schaffung eindeutiger territorialer Loyalitäten, und sie wurde von vielen mit einer gewissen Erleichterung, nämlich als Voraussetzung aller bürgerlichen Tätigkeiten, aufgenommen. In dieser Richtung wirkte auch ein neustoischer Pflichtenkanon, der sich als Beamtenethos nicht Sonderinteressen, und auch nicht fürstlicher Willkür, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet fühlte.

Michel de Montaigne († 1592), katholischer Bürgermeister von Bordeaux, war im Vergleich zu den Lobpreisungen der Renaissance skeptisch geworden zum Menschen, dem „zerbrechlichsten aller Geschöpfe“; er schien ihm voll Schwäche, Unbeständigkeit, Lüge, aber auch Überheblichkeit. Es wäre eine Illusion, ihn ändern, gar zum Ideal, jenem Maß aller Dinge, erheben zu wollen. Montaigne verstand sich nicht als bloßer Büchermacher, sondern als Lehrer richtigen Handelns, ohne sich dabei auch nur über sich selbst Illusionen hinzugeben: Nach seinen ironischen Worten zog er es vor, der gerechten Seite „nicht bis auf den Scheiterhaufen folgen zu müssen“.

Aus konservativem Instinkt und Erfahrung misstraute der geadelte Aufsteiger Umstürzen und unruhigen Geistern, die nach Vollkommenheit streben, aber nur das Gegenteil des Gewollten erreichen, nämlich Ungerechtigkeit und Tyrannei. Er war auch kein katholischer Zelot und zog es vor, in einem konfessionell neutralen Staat zu leben, der es zudringlichen Eiferern nicht gestattete, sein Inneres in Beschlag zu nehmen. „Zu Zorn und Hass fühle ich mich nicht verpflichtet, wenn ich für Gerechtigkeit eintrete“ (Essais III, 1). Sicherheit, Gerechtigkeit und Maß sind die Maximen des Staates nach seinen Vorstellungen, also nicht parteiische Verbissenheit, die in der Regel nur egoistische Interessen und persönliche Leidenschaften verbergen. Mit Montaigne und Grotius war der Humanismus über moralisierende Klage hinausgegangen und hatte sich pragmatisch auf realgeschichtliche partielle Fortschrittsziele eingelassen.

Das neue Staatsdenken hielt es für bedenklich, universale Normen oder Gesetze fremder Staaten ohne Rücksicht auf bestehende Verhältnisse einzuführen: Die Aufgaben des Staates sind wandelbar und müssen der Natur des jeweiligen Volkes entsprechen (Bodin). Auch Montaigne unterschied zwischen allgemeingültiger und „national beschränkter“ Gerechtigkeit; die konkrete Norm kennt unter Umständen Zwangslagen, in denen aus Staatsnotwendigkeit das Wort gebrochen und wegen eines großen öffentlichen Nutzens gegen Recht und Verpflichtungen verstoßen werden muss: Henri IV. wird sich an die Empfehlung halten, wenn er um des inneren Friedens willen zum Katholizismus übertritt. „Paris ist eine Messe wert“, d.h. der Frieden des Landes ist das höhere Gut gegenüber dem konfessionellen Gewissen. Für Montaigne ist dies allerdings „die krankhafte Ausnahme von den Regeln, die die Natur ansonsten vorschreibt“.

Andere Anhänger der Lehre von der Staatsraison gingen über den Ausnahmecharakter der staatlichen Regelverstöße hinaus und glaubten eine politische Sondermoral vom Notstand her verallgemeinern zu können (Münkler). Die Fürsten handelten zwar von der (Privat-)Moral gesehen verwerflich, aber unter der unabänderlichen Tyrannei des staatlichen Interesses. Der Politiker, erklärte der republikanische Spötter Trajano Boccalini († 1613), „setzt die Füße auf den Hals aller anderen Werte der Erde und des Himmels“. Aber auch für ihn, den Verehrer und Kommentator des Tacitus, sind Religion und Moral nur politische Phänomene, stabilisierende Herrschaftsmittel oder – eine Gefahr. Die modernen Ketzereien werden folglich nicht durch Disputationen oder Dekrete, sondern in der Regel mit bewaffneter Macht entschieden: Im Staat ist nur eine Religion zulässig; Toleranz gefährdet die innere Stabilität. Der rein weltlich definierte Staat mit Machtkompetenz über den Bereich der Konfessionen, Gesinnungen und der Privatmoral wird so immer mehr zur obersten Instanz, die die heilsgeschichtliche Orientierung definitiv ablöst. „Nichts kann schimpflich erscheinen, was mit dem Heile des Staates verknüpft ist“.

Es gab resignative Varianten der neuen Politikauffassung, die es zu dem, was wir hier ungenau unter dem Begriff ‚Weltfrömmigkeit‘ oder ‚innerweltliche Askese‘ zusammenfassen, sehr weit hatten, und die zu einem pessimistischen Geschichtsbild des „déjà-vu“ neigten. Von ‚Staatsfrömmigkeit‘, die das Beschränkte und Relative absolut setzt, war es schwierig, zu einer breiteren Geschichtskonzeption, gar einer menschheitlichen Zukunftsperspektive zu gelangen, auch wenn die protonationale Ersatzreligion sich erst am Horizont ankündigte. Dies können wir an einigen Beispielen humanistischer Historie darlegen.

Der hochgebildete Historiker La Popelinière († 1608), Teilnehmer am ersten Hugenottenkrieg, musste nach der Bartholomäusnacht nach England flüchten, aber geriet infolge seiner vermittelnden Position, seiner Objektivität und Toleranz zwischen die Stühle; die hugenottische Nationalsynode von La Rochelle ging so weit, ihn zeitweise zu exkommunizieren. Die Geschichtsschreibung war für den fidelle secretaire de la memoire eine der wichtigsten menschlichen Tätigkeiten – als Spiegelbild des gesamten Lebens, der Religion und ‚police‘, also von Verwaltung und Gesetzen bis hin zu Kriegen, Verkehr und Seuchen der Völker. Die Geschichtsschreibung erfordert Erfahrung, Unparteilichkeit, Umsicht: raison und prudence; sie soll ein Bewusstsein der Zusammenhänge, der Ursachen und der Natur der Dinge vermitteln, soll aber auch Patriotismus wecken, den Sinn für Weltgeltung und Seefahrt.

Dem sollte eine Geschichte der Entdeckungen seit der Antike (Les trois mondes, 1582) dienen. Popeliniarius, der Montaigne geistig nahestand, war ein Feind nicht nur fanatischer Konfessionspolitik, sondern auch blinder Verehrung der Antike; aus allen Zeitaltern könne man lernen. Was ihm vorschwebte, war eine universale ‚vergleichende Kulturgeschichte‘ oder ‚geschichtliche Morphologie‘ (E. Hassinger), mit dem Ziel, durch das Wissen von den Leistungen der verschiedenen Zeiten eine republique mondaine des Geistes herzustellen. Dabei ließ seine skeptische Weltanschauung, vielleicht auch ein Rest christlichen Sündenbewusstseins, keinen Gedanken an fortschreitende Vervollkommnung aufkommen: die Natur des Menschen werde sich mitsamt ihren Fehlern immer gleich bleiben und nur die äußeren Formen sich verändern. Ja der Stoiker glaubt, dass sich sogar der Zufall wiederholt: „chacun accident retourne“.

Das war kaum in einem wörtlichen Sinn zu verstehen. Andere Humanisten des späten 16. Jahrhunderts (Le Roy) drückten den Gedanken der ewigen Wiederkehr mit dem Bild einander abwechselnder führender Nationen und Glanzperioden aus. Der alte Orient, so glaubte auch Bodin, habe eine besondere Begabung für kontemplatives Wissen hervorgebracht, die Griechen und Römer einen spezifischen Sinn für Staatswesen und Rechtsordnungen, schließlich die „Völker des Nordens“ (des europäischen Westens) die Vervollkommnung des Kriegswesens und mechanischer Fertigkeiten. Ungleichzeitigkeit, die in der Staatengeschichte herrscht, und das ist hier wesentlich, ermöglicht Späteren, von Früheren zu lernen.

Von Perfektion im strengen Sinn kann in menschlichen Angelegenheiten natürlich keine Rede sein, schon weil geschichtliche Höhepunkte, Bürgertugend und Machtentfaltung, zeitlich kaum je zusammenfallen. Doch ist schon „geringere Unvollkommenheit“ ein realistisches Geschichtsziel – im klaren Bewusstsein, dass auch unsere Epoche samt ihren Vorzügen einmal vergehen muss: auf Ordnung folgen Wirren, auf Verfeinerung Rohheit und auf Wissen Ignoranz. Neue Barbaren werden nach dem Willen der Vorsehung – oder der Fortuna – unsere Städte und Künste vernichten. Der Zyklus kann von vorne beginnen. Auch deshalb ist eine „integra historia“ (F. Baudouin) wichtig und ein breiter kulturgeschichtlicher, tendenziell enzyklopädischer, Horizont erstrebenswert.

Das zyklische Modell war selten konsequent zuende gedacht, sondern mit christlich-naturrechtlichen Aspekten durchmischt; vor allem klammerte man gerne die Aussicht auf den bevorstehenden Niedergang aus. Ein optimistischer Wille setzte sich gegen die deterministische Logik durch (J. B. Bury), vor allem das Bestreben, alles Wissenswerte, wie in die Arche Noah, vor kommenden Sintfluten zu retten.51 Meist waren patriotische Motive im Spiel, die die humanistischen Autoren eine säkularisierte Form der alten Idee von der translatio imperii verwerfen bzw. aufgreifen ließen, mit der eigenen Nation als vorläufig letztem der Hegemonen: ein Gedanke, den Hegel zwei Jahrhunderte später aufgreifen wird.

Das Nationalbewusstsein hatte durch die antik geprägte humanistische Publizistik und ihren überzeitlichen Ruhmanspruch eine gewisse Eigendynamik entwickelt, aber auch einen ungewollten Beitrag zur Fortschrittsproblematik geleistet. Ausgehend von der wiederentdeckten Germania des Tacitus, hob der nachmalige Papst Enea Silvio Piccolomini – nicht ohne kuriales Eigeninteresse – den gegenwärtigen (1458) Wohlstand der natio Germanorum hervor: ein germanischer Zeitgenosse Cäsars würde heute sein Vaterland nicht wiedererkennen. Andere Humanisten nahmen die These vom Fortschritt durch die Einbeziehung in die christliche Gemeinschaft mit unterschiedlichem Vorzeichen auf. Konrad Celtis († 1508), Verfasser eines Lobs der Stadt Nürnberg und ihrer vorbildlichen Einrichtungen (einschließlich der nachahmenswerten Judenvertreibung) wies z.B. zornig den italienischen Überlegenheitsdünkel von sich und wollte in Kaiser Maximilian den Wiederhersteller des goldenen Zeitalters erblicken. Ulrich von Hutten († 1523), Bejubler der Fortschritte (O Jahrhundert, o Wissenschaft, es ist eine Lust zu leben!), fanatischer Verkünder eines patriotischen Romhasses und Entdecker des Arminius, stellte die Bildungsfrage noch eindringlicher unter nationalen Aspekt, nämlich als spontane Leistung eines kollektiven Genies. Solche nationale Rhetorik neigte dazu, den erreichten kulturellen Hochstand der eigenen Nation in die Vergangenheit zu verlegen, auswärtige Abhängigkeiten zu leugnen und empirische Vergleiche dem Prestige des jeweiligen Landes zu opfern.

Die Fortschrittsidee war für die Humanisten von vornherein mit einer gewissen Ambivalenz behaftet: Die Anfänge übertreffen alles Spätere. In der Nachfolge des Annius von Viterbo verbeißt man sich in fragwürdige Stammbaumfragen, die die Überlegenheit der einzelnen modernen Völker aus ihrer Nachkommenschaft von Noah bzw. den Trojanern (der Briten von Brutus!) nachzuweisen suchen, oder nach Tacitus die Eigenständigkeit, Unvermischtheit und Sittenreinheit – vor allem der Deutschen – bezeugen: Jakob Wimpfelings Epitome Germanorum (1505) preist einen überzeitlichen deutschen Nationalcharakter, der sich in hervorragenden Eigenschaften und Taten der Vergangenheit ausdrückt und die Gegenwart verpflichtet. Auch Hutten blickt nach rückwärts. Der Eques Germanus hasst die neue Geldwirtschaft, die römischen Juristen und die das Reichsinteresse ignorierenden Landesfürsten, während er die altdeutschen kriegerischen Tugenden beschwört, die herrschten, als das Reich noch nicht unter römisch-päpstlicher Bevormundung stand.

In anderen Ländern stellte sich die Frage nach der Bewertung ihres gegenwärtigen Zustandes zwar kaum weniger emotional, aber häufig selbstbewusster, ohne Zwang, aus der Not eine Tugend zu machen. Gegen die ältere Altertumshörigkeit setzte sich ein Gefühl für die Hochleistungen der eigenen Zeit durch. Giorgio Vasari († 1574) empfand das späte 15. Jahrhundert als absoluten künstlerischen Höhepunkt, und in Frankreich des 16. Jahrhunderts fühlte man sich in vielem den Römern ebenbürtig, wenn nicht überlegen; jedenfalls glaubten die Schriftsteller der verleumderischen Vorstellung von der Barbarei der Franzosen und ihrer Sprache widersprechen zu müssen. Die klassische Vergangenheit blieb dabei die eigentliche Inspirationsquelle und Geschichtslehrerin einer ansonsten stark von sich selbst eingenommenen Zeit. Im 18. Jahrhundert wird man wieder eine idealisierte Antike kritisch gegen höfisch-absolutistischen Luxus, Ehrgeiz und Unfreiheit wenden – doch kaum so sehr, dass dies die Überzeugung von der Überlegenheit der „Modernen“, jedenfalls den Willen, die „Alten“ in jeder Hinsicht zu übertreffen, ernsthaft in Frage gestellt hätte (J. Schlobach).

Die humanistische Überzeugung von der Wiederholung der irdischen Herausforderungen und der Einheit der Maßstäbe ermöglichte es den Geschichtsschreibern, mit dem Anspruch pragmatischer Lehren aus ihren Erzählungen aufzutreten. Der Humanismus hatte den Stellenwert der Geschichte angehoben, aber sie war, schon durch die universitäre Zuordnung zu Bibelexegese, Rhetorik, Ethik, Politik oder Jurisprudenz, ein unselbständiges Fach geblieben, mit unsicherem, singulärem, kontingentem Wissen. Ihr Erkenntnisinteresse war außenbestimmt (U. Muhlack) und die Universitätshistorie als bloße Hilfsdisziplin auf die Erläuterung des Hintergrunds oder die Bereitstellung exemplarischen Stoffs für andere Fächer beschränkt. Auch wenn sich die Geschichtsschreibung der Unterordnung unter theologische Fragen zu entziehen vermochte, konnte sie keine autonome Wert- und Sachorientierung bieten, sondern blieb im Grunde angewiesen auf Fragestellungen von außerhalb der eigenen Disziplin.

Jean Bodin wollte in seinem Methodus (1566), wie wir gehört haben, aus der Geschichte Normen für alles menschliche Verhalten und das Bild der Zukunft ziehen; das Problem lag aber bei den Kriterien, nach denen die Auswahl aus der historischen Vielfalt zu treffen, nicht zuletzt der Frage, wessen Geschichte zu erzählen war. Die Geschichte sollte, auch ohne notwendige und ewige Wahrheiten, Verstand und Lebensklugheit vermitteln – unter der nicht ganz einfachen Vorgabe, der Historiker dürfe sich nicht zum Sprachrohr parteiischer Tendenzen machen lassen.52

Eine solche unvoreingenommene Pragmatik ließ die Frage nach dem Primat der Alten bzw. der Modernen nüchtern offen. Alessandro Tassoni († 1635) etwa differenzierte: In manchem gebührt die Palme dem Altertum; andere Dinge, die mit dem ingenio fattive, den praktischen Kunstfertigkeiten, zusammenhängen, verstünden die Modernen besser zu leisten; auch die Astronomen wüssten heute mehr als Ptolemäus. Für eine allgemeine Höherentwicklung fehlen auch Tassonis Dieci libri die Fortschrittskriterien.

Die folgende Zeit fast unaufhörlicher Katastrophen, angefangen von einem lebensbedrohlichen Klimawechsel (der „kleinen Eiszeit“), in ihrem Gefolge wirtschaftliche Depression, soziale und konfessionelle Konflikte, Pest, Hunger, Krieg, Hexen- und Judenverfolgungen auf dem Kontinent, war dann wenig geeignet, ein Gefühl allgemeiner Verbesserung und vernünftiger Selbstbestimmung aufkommen zu lassen. Eher machte sich Irrationalismus breit, Verunsicherung und die Empfindung, höheren (bzw. niederen) Mächten ausgeliefert zu sein. Verbreitete Druckschriften berichten über Zeichen am Himmel, hundsköpfige Monster und Kometen, so dass die Erwartung eher auf den Weltuntergang, als auf Fortschritt gerichtet ist.

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Und alle unsre Gestern führten Narren

…ein Märchen ists, erzählt

Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,

Das nichts bedeutet (Macbeth),

lautet die deprimierende Absage an jeden Fortschrittsglauben und Geschichtssinn aus der Feder von Tassonis berühmtem englischen Zeitgenossen:

Der Mensch, der stolze Mensch,

In kleine, kurze Majestät gekleidet.

…wie zorn’ge Affen,

Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel,

Dass Engel weinen… (Maß für Maß).

Die großen Fische fressen immer die kleinen, ja die Götter töten die Menschen einfach zum Spaß. Hurerei und Ehebruch sind nützlich für die Könige, die stets Soldaten brauchen, um wieder töten zu lassen. Falstaff-Shakespeare hat das destruktive Wesen des Krieges durchschaut und soldatische Ehre als Illusion erkannt. Einen christlichen Hintergrund hat Shakespeares radikaler Pessimismus kaum, und er scheint auch nicht an die Vorsehung zu glauben:

Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus,

Durch eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge,

sagt Cassius in Julius Cäsar. Ist alles relativ und hoffnungslos in Shakespeares düsterem Geschichtsbild? Der große Psychologe kennt zumindest die antike Hybris, die noch auf Erden Vergeltung übt:

…den blut’gen Unterricht, der, kaum gelernt,

Zurückschlägt, zu bestrafen den Erfinder (Macbeth),

oder an anderer Stelle:

Aus unsren Lüsten erschaffen sie (die Götter)

Das Werkzeug, uns zu geißeln (König Lear).

Wie immer Shakespeares Gott ausgesehen haben mag, so ist jedenfalls Hamlets Gott „ein Autor, der Farcen und nicht christlich erbauliche Komödien schreibt“ (Harold Bloom). Für den Wittenberger Studenten Hamlet, erzogen vom Narren Yorick, ist aktives Handeln nicht nur konstitutionell schwierig, sondern in einer Welt des Spiels geradezu irrelevant. Vom großen Aufbruch des Landes scheinen Shakespeares Helden nichts zu halten. England hatte unter Elisabeths vorsichtiger Regierung 45 Jahre leidlichen inneren Friedens genossen. Die Königin hielt die Herrschsucht der Religionsparteien mit drastischen Mitteln kurz und mit Diplomatie und Entschlossenheit ausländische Einmischung fern – mit dem Ergebnis, dass Englands Seefahrt und Wirtschaftskraft, Reichtum, Wissen, Talente und Selbstbewusstsein, wie uns scheint, geradezu explodierten. Viele rühmten die große Zeit und ihre Entdeckungen, wie Richard Hakluyts vielgelesene Principal Navigations, Discoveries of the English Nation (1598–1600). Andere (John Donne) sahen sie eher skeptisch:

Mit neuen Übeln führen gegen uns wir Krieg,

Mit neuer Physik und der Maschinen Sieg (!)

Wer den säkularen Aufschwung Englands bejahte, war sich der Notwendigkeit bewusst, die alten moralischen Skrupel um des Erfolgs willen zu vergessen:

Ich achte Religion als kindischen Tand

Und außer Unkenntnis gibts keine Sünde,

legte Christopher Marlowe im Juden von Malta (1590) dem fiktiven Machiavelli in den Mund. Die Moralisten fuhren zwar fort, ‚Old Nick‘ zu bekämpfen, aber in der Praxis hatten dessen – bzw. Shylocks – Lehren längst gesiegt und die herkömmlichen Glaubenswahrheiten sozusagen in die Fassade verbannt. „Zweierlei Wahrheit“ hatte schon die Spätscholastik gelehrt; auch die Humanisten wollten mit ihrer Zuwendung zum Profanen und Kontingenten das Heilsgeschehen den Theologen überlassen. In Zeiten eifriger Inquisitoren wurde dann die Schutzbehauptung lebenswichtig, nur ‚als Philosoph‘ gesprochen zu haben.

Die Anerkennung theologischer Zuständigkeit war aber unter der Hand immer mehr zur Floskel einer nur mehr an weltlichen Dingen interessierten Bildungs- und Führungsschicht geworden. Francis Bacon († 1626), General-Staatsanwalt, Lordkanzler, Essayist von Rang, symbolisiert die Praxis dieser doppelten Wahrheit auf vielfältige Weise. Der Philosoph, der die Zurückgezogenheit des Weisen lobt, ist zerfressen von Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis; als Politiker muss er viele seiner Grundsätze opfern, als Richter seinen Gönner Essex verurteilen. Er stellt z.B. fest, es gebe einen großen Unterschied zwischen bürgerlichen und wissenschaftlichen Angelegenheiten – insofern, als die Wissenschaft auf neue Erkenntnisse angewiesen ist, während der Staat notwendig auf Autorität, Übereinkunft und Meinung ruht, für die sogar Verbesserungen bedenklich sind (Novum Organon I,90, vgl. I,129). Das war eine Zweckbehauptung zugunsten der Freiheit der Wissenschaft, ebenso wie die spätere, dass die Erfindungen allen zugute kämen; dabei seien sie, wie behauptet, in ihren Auswirkungen einschneidender, als alle politischen und religiösen Veränderungen. Beide Behauptungen konnten nicht zugleich wahr sein.

Manchmal kam der Wissenschaftler dem Zeitgeist („die Zeit ist die Mutter unserer Ansichten“) weit entgegen: Hundert Jahre nach Thomas More äußert der Philosoph, der das menschliche Wissen „platonisch“ von vorgefassten Meinungen, von sozial bedingten „Vorurteilsgötzen“ (den Idola) reinigen wollte, wenig zimperlich, ein ehrenhafter Krieg halte die Nation in Form, und Seeherrschaft – in der Praxis war es oft Piraterie – sei ein durchaus erstrebenswertes Ziel für sein Land.53

Zwar rät der geadelte Aufsteiger, die Kaufleute nicht zu sehr zu besteuern, aber seine Wertskala ist eher unbürgerlich, wenn er die Gewöhnung an Waffendienst und Krieg friedlicher Arbeit vorzieht. „Kein Körper bleibt auf Dauer gesund ohne Übung“; deshalb meint Bacon, im Frieden „verweichlicht der Mut, verdirbt der Charakter“ (Von der wahren Größe der Königreiche, in: Essays, 71). Andere Empfehlungen, etwa die notwendige Einheit nicht um den Preis der Menschlichkeit erzielen zu wollen, die Verfolgungen der Katholiken zu lockern und einen Kompromiss zwischen Anglikanern und Puritanern anzustreben, schienen dem Stuart-König zu kühn (oder zu weltfremd), um befolgt zu werden; Bacon hatte wohl, wie spätere Aufklärer, die Zählebigkeit der „Idola“ und der „unfruchtbaren Streitigkeiten um bloße Namen“ unterschätzt. Sein scharfer Geist neigte zu bildlicher Veranschaulichung, dabei wurde er oft missverstanden. Einer seiner berühmten Aphorismen, Geld sei wie Mist, wurde gerne von radikalen Kapitalismuskritikern zitiert, aber falsch: Der Kanzler meinte nur, es sei unnütz, wenn es auf einem Haufen liege, aber durchaus fruchtbar auf breitem Feld ausgestreut.

In der Praxis musste Bacon seinen eigenen Einsichten zuwiderhandeln: die großen Monopole unterstützen und ‚Ketzer‘ verfolgen. Seine großen Wissenschaftsprojekte blieben zu seinen Lebzeiten auf dem Papier; nach seinem Sturz (1621) war der Selbstbewusste ein gebrochener Mann.

Bacons Empirismus, sein unvoreingenommenes Herangehen an die Dinge, seine Warnungen vor subjektiver Wahrnehmung, hätten eine fruchtbare Methodik auch für die Geschichtsschreibung abgegeben. Zwar hieß es, „unsere Induktionsmethode umfasst alles ohne Ausnahme“ (NO I, 127), aber Bacons Wissenschaftsverständnis war ein naturwissenschaftliches, und so war es logisch, dass er vor dem „Auftürmen des Neuen aufs Alte“ warnte, d.h. dem Nachbeten veralteter Fragestellungen, im Grunde jedem Traditionalismus. Im Bewusstsein der unwiderstehlichen Neigung zu Gefühlsintervention und Wunschdenken in Dingen, die den Menschen unmittelbar angehen, wollte er Bereiche meiden, die vorwiegend von Gedächtnis und Autorität abhängen, und das war nun einmal der Bereich der Politik und der Geschichte. Bacon hielt das meiste bisherige Wissen für zufällig, von Irrtümern und falschen Begriffen verdorben; auch der griechische Beitrag zu den Wissenschaften sei reiner ‚Professorenstreit‘ geblieben, weil vermeintlich ohne Ausrichtung auf das praktische Ziel, den Zustand der Menschen zu verbessern, also zum Fortschritt beizutragen. Seine eigene originelle Leistung, vorgeblich ohne Vorgänger, verglich der Programmatiker mit der Vorarbeit eines Instrumentenstimmers, der kundigeren Händen das Spiel erleichtern sollte. In der Tat lag sein Beitrag zur Erkenntnis vorwiegend in methodischer Besinnung.

Mit seiner radikalen Zukunftsorientierung war der Streit zwischen „Alten“ und „Modernen“ eigentlich entschieden: die Alten und Erfahreneren sind natürlich wir, die trotz verkehrter Anwendung des Gottesgeschenks der Vernunft in dürftigen Jahrhunderten, ungeheure Fortschritte in Erd-, Meeres- und Himmelskunde, sowie in den mechanischen Künsten, erzielt haben. Während die Griechen, die ‚ewigen Kinder‘, schwätzten, aber unfähig waren zu zeugen, haben wir unendlich mehr Erfahrungen angehäuft; vor allem sind wir dabei, den christlichen Grundsatz, den Glauben durch Werke zu beweisen (Jac.2, 17), auf die Philosophie anzuwenden: unser modernes Wissensinteresse ist praktisch.

Schon Erfindungen, wie Schießpulver, Buchdruck und Magnetnadel, sind in Bacons Sicht meist durch bloßen Zufall gelungen – in einem sozialen Milieu, dessen Aufmerksamkeit auf leere Spekulationen und Abstraktionen gerichtet war.54 Der Unterschied wäre noch größer, äußert er, wenn unsere Bemühungen um bessere Erkenntnis und Beherrschung der Natur zielbewusst gelenkt und koordiniert worden wären. Dann winkten uns Entdeckungen von ungeahntem Ausmaß, die dem alten Kontinent mehr hinzufügen würden, als alle bisherigen überseeischen Entdeckungsfahrten (Advancement of Learning). Vielleicht, sagt er, besteht die Größe unserer Gegenwart darin, dass wir das bisher für groß Gehaltene als lähmendes Erkenntnishindernis durchschaut und uns statt des müßigen Anstaunens der Werke früherer Jahrhunderte den Erfahrungswissenschaften und der Erforschung der Ursachen der Dinge widmen. Zeitgenössische Erfindungen – Napiers Logarithmentafeln, Galileis Teleskop, Keplers Gesetz der Planetenbahnen beeindruckten nur eine dünne Schicht der Mathematiker und Naturphilosophen.

Bacon warnt vor Aberglauben, vor blindem Religionseifer, der durch falsche Vermischung von Göttlichem und Menschlichem meint, Gott mit Lügen einen Dienst zu erweisen (NO 1,89), während doch ihm gegenüber nicht Wissen, sondern Staunen zieme, und man „nüchternen Sinnes dem Glauben lassen [solle], was des Glaubens ist“. Die Abgrenzung zwischen Heiliger Schrift und dem Buch der Natur hatte einen guten Sinn gegenüber dogmatischen Eiferern, die der Naturwissenschaft nicht lassen wollten, was der Naturwissenschaft war; es war aber keineswegs unchristlich, von Anthropomorphismen, Teleologien, Archetypen, letzten Wahrheiten Abschied zu nehmen und den Geist statt metaphysischer Spekulationen vorwärts aufs menschliche Handeln auszurichten. Was man vergessen hatte: Es war das Christentum, das mit der Trennung von Geist und Natur der Auffassung vorgearbeitet hatte, die Natur als das Andere, Nicht-Göttliche zu erkennen und unbefangen in den Dienst des Menschen zu nehmen: heute oft Anlass zu Vorwürfen gegenüber der naturverachtenden, ausbeuterischen modernen Zivilisation.

Bacon, der seine Schriften dem ebenso gelehrten wie abergläubischen König Jakob I. adressierte, wusste sich an der Schwelle einer Revolution, wobei der Begriff noch die Bedeutung von Erneuerung und Rückkehr zum Ursprung besaß; dem entsprachen die rhetorischen Metaphern, in die er seine neue Methode kleidete. So wollte er sich dem „Buch der Schöpfung“ in Demut und Verehrung, Unschuld und Offenheit nähern, also ohne Belastungen durch anmaßendes Vorwissen, allein mit dem „Atem der Hoffnung, die uns vom Neuen Kontinent entgegenweht“. Das neue Reich betritt der Mensch nach Analogie des himmlischen, indem er wieder zum Kind wird und den Götzenbildern falscher Erkenntnis, Machwerken kollektiver Vorurteile (idola fori), abschwört. Das Programm der neuen Wissenschaft erscheint listigerweise, vielleicht aber auch bona fide, in biblisch-prophetischem Gewand eines Kampfes gegen Götzenbilder im Namen der „Hoheit und Macht des Menschen“. Zählte aber nicht gerade die Selbsttäuschung, wonach wir uns selbst zum Maß der Welt machten, zu den „Idola“?

In einer immer noch stark von Dogmen und Autoritäten geprägten Epoche war es gewiss produktiv, einen empirischen Neuanfang setzen zu wollen; Bacon betrat im übrigen weniger Neuland, als er behauptete. Als problematisch mochte sich seine biblische Rhetorik erweisen, unbeschwert von subjektiven Voraussetzungen die Dinge ‚in Unschuld‘ anzuschauen: Wir sind nicht mehr im Paradies, und der „Sieg der Kunst über die Natur“ führt uns kaum dahin zurück, wie ja die Geschichte der menschlichen Fortschritte zeigt.55 Ohne Vorwissen, Hypothesen und praktischen Bedarf bleibt alle Empirie unfruchtbar. So heißt es auch bei Bacon entlarvend: Wenn man der Natur befehlen wolle, müsse man erst lernen, ihr zu gehorchen.

Von Demut war in seiner Philosophie nicht viel zu spüren: um so mehr von Machtwillen – abgestuft nach persönlichem, nationalem und schließlich einer edleren Macht der gesamten Menschheit (NO I, 129).56 Zumindest formal-rhetorisch folgte Bacons radikale Instauratio dem Bild der Nachfolge auf den Spuren des Schöpfers, wenn nicht geradezu in der Nachahmung des Erlösungswerks (Ch. Whitney), so dass sich ins Säkulare und Moderne seines Ansatzes unverkennbar traditionelle Motive und zeitgenössische Endzeiterwartungen mischten.

Der apostrophierte wissenschaftliche Fortschritt auf der Basis von systematischer Naturforschung, Analyse und Experiment sollte sich nicht allein durch nützliche Erfindungen legitimieren: „Die Wege des Könnens und Wissens laufen ineinander“, aber der Theorie, der Einsicht in die Ursachen der Dinge, gebührt letztlich doch die höhere Würde. Der Erkenntnisfortschritt wollte erklärtermaßen nicht in die Fußstapfen von Vorgängern treten, aber Bacon verwarf vernünftigerweise nicht alles bisherige Wissen, das nach seinen poetischen Worten „gleich Schiffen durch die weiten Meere der Zeit“ uns unaufhörlich anregt und an vergangenen Errungenschaften teilhaben lässt (Advancement); von Übel sind nur die „endlosen Wiederholungen“ ungeprüfter Behauptungen und eine Wissenschaft der bloßen Worte, die nichts als weitere Worte produzieren und bestenfalls die Phantasie der abergläubischen Menge ansprechen. Bacon wusste sehr wohl, dass kluge Denker in Vergangenheit und Gegenwart sich häufig wider besseres Wissen dem herrschenden Wortglauben beugen mussten und ihr Licht von den „Meinungen des Pöbels“ ausgeblasen wurde: Der Feuertod Brunos lag erst wenige Jahre zurück.

Nicht zuletzt deshalb vertraute er eher einem König von Gottes Gnaden, als den ungebildeten und fanatischen Parteien.57 „Im Gebiete des Geistes ist allgemeiner Beifall immer sehr verdächtig“, erklärte er, nicht ohne vorsichtig hinzuzufügen, Religions- und Staatssachen seien natürlich von seinem Diktum ausgenommen. William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, meinte dazu ironisch, Bacon philosophiere eben wie ein Lordkanzler: im elitären Bewusstsein der Macht und des politisch Opportunen. Die richtige Anwendung der wissenschaftlich gewonnenen Macht wollte Bacon dem gesunden Menschenverstand und der Religion (sprich: der staatlich anerkannten Ordnung) überlassen (NO I, 129). Man mag sich fragen, ob sich die Philosophie von der Herrschaft der Theologen nur befreit hatte, um unter die staatlicher und kommerzieller Interessen zu geraten (Windelband).

In seiner unvollendeten Utopie Nova Atlantis ist das „Haus Salomonis“ die höchste Autorität, die unbehindert vom trügerischen Dunkel der Überlieferung, wie von der Gewinnsucht des großen Haufens, die Forschung auf das wahre Ziel der Wissenschaft ausrichtet: die Bereicherung des Menschengeschlechts um neue Kräfte und Erfahrungen. Dem „non plus ultra“ der Alten stellt Bacon das „plus ultra“ einer fortschreitenden Naturerkenntnis ohne Grenzen entgegen: ein titanischer Ausblick, wenn auch ohne eigentliche historische Basis. Der wahrscheinlich von J. Valentin Andreaes Christianopolis (1614) angeregte Entwurf einer idealen Gesellschaft hat sich selbst keineswegs schrittweise entwickelt, sondern ist, wie die meisten Utopien, das Werk eines genialen Gesetzgebers, nach dem es nichts mehr zu verbessern gibt – ein Widerspruch zu Bacons Plus ultra-Programm.

Die Säkularisierung der Werte in Bacons Philosophie führt insgesamt nicht einfach zu einer ‚entideologisierten‘ Welt, sondern lädt die profane menschliche Tätigkeit mit geradezu sakraler Würde auf, die ihre Legitimität, mehr als nur metaphorisch, aus einer verweltlichten Gotteskindschaft schöpft. Es zeichnet sich ab die Welt als ein eingelöstes Für uns, ein einziges Wirkzentrum und Chance der Selbsterlösung: eine immanentistische Eschatologie, die das Jenseits durch Ficinos Herrschaft des deus in terris ersetzt.

Dabei steht Bacon erst an der Schwelle des eigentlichen Fortschrittsdenkens und bietet selbst keine Fortschrittstheorie. Das zumindest teilweise erzwungene Absehen von den gesellschaftlichen Bezügen, den politischen Institutionen und herkömmlichen Wertvorstellungen gibt seinem Wissenschaftsprogramm auf mehr als nur den ersten Blick einen modernen, utilitaristisch-szientistischen Anstrich.

Ganz abgesehen davon, dass Bacon persönlich mit Frauen nichts anzufangen wusste, ist sein Projekt irgendwie auch dem Geist weltlicher Askese, wenn nicht franziskanischer Mystik, verpflichtet.58 Seine Methode der Zuwendung zu den unmittelbar gegebenen Dingen war, kaum zufällig, in einem Bedeutungsrahmen angesiedelt, der das Neue als Erneuerung eines Ursprünglichen interpretierte und die Fortschritte des Wissens und Könnens einbezog in den alten Sinnbezug des Fortschreitens auf ein Neues Jerusalem hin.

Der Fortschrittsglaube

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