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2. Heilsgeschichte

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Die Denkfigur des Fortschritts ist nicht unabhängig von Erfolgserfahrungen, aber braucht über das Empirische hinaus eine Einstellung, die Wissen und Können übersteigt. Von utopischen Wünschen des Gegenteils einer elenden Gegenwart abgesehen, ist ein Element des Glaubens schon deshalb notwendig, weil man nie ausschließen kann, dass Nachfolger einmal unsere Errungenschaften für ihre Fesseln halten werden. Gewachsene Kapazitäten machen die ewige Wiederkehr nicht obsolet14.

„Was ich gesprochen habe, ist bereits nicht mehr, was ich tun will, ist noch nicht“, sagt Augustinus Aurelius. Um diese Verbindung zwischen der Vergangenheit, die nicht mehr ist, der schnell vergehenden Gegenwart und einer offenen Zukunft geht es beim historischen Denken. Während Augustinus aus dem uns drohenden Nichts folgert, wir müssten die Zeit überschreiten, uns vom Veränderlichen zum Zeitlosen hinwenden, sucht der säkulare Fortschrittsgedanke ein innerweltlich Anderes: Transzendenz, die ‚diesseitig‘ bleibt, aber analog die Gegenwart als Zwischenglied zu einer höherwertigen Zukunft versteht.

Wir sind, trotz ständiger Diskontinuitäten, eingebunden in eine Reihe von Handlungen unserer Vorgänger, nutzen deren Erfahrungen als Grundlage der eigenen Handlungen, sind aber ‚fortschrittsfähig‘ nur, wenn uns die Vergangenheit nicht restlos determiniert, wenn wir diese nicht einfach wiederholen müssen und „etwas bewirken“ nicht, wie im archaischen Denken, mit Schuld assoziiert wird. Über den genetischen Bereich hinaus erben wir einen Grundstock von Verhaltensweisen und Praktiken, die von Generation zu Generation weitergegeben werden: Man erfindet weder die Sprache noch das Rad von neuem. Ein elementares Freiheitsgefühl gegenüber den Kreisläufen und der Raumbindung der Alten muss hinzukommen.

Dieses Freiheitsgefühl macht noch kein Fortschrittsbewusstsein im modernen Sinne aus: der Neuanfang kann um den Preis erfolgen, dass man die alten Erfahrungen und Problemlösungen als unmaßgeblich vergisst: Dann wären die Barbaren, die die Kultur verachten, die freiesten Menschen. – Eine Geschichte des Fortschrittsgedankens kommt nicht umhin zu untersuchen, ob das auf die Antike folgende ‚heilsgeschichtlich‘ orientierte europäische Jahrtausend, das unser Denken verändert hat, nicht zur subjektiven Voraussetzung dieses Fortschrittsgedankens zählt. Oder war es, wie noch John Bury meinte, eine Sackgasse, aus der die Modernen glücklicherweise zu den antiken Ansätzen zurück gefunden haben?

Halten wir zunächst fest, dass zwischen den antiken zivilisatorischen Hochleistungen und der christlich bestimmten Epoche ein Zeitalter des säkularen Niedergangs liegt. Das betraf nicht nur die Herrschaft Roms – das ja vielen als eine „zum Verderb des Menschengeschlechts geschaffene Stadt“ (Arnobius) erschienen war. Verbreitet war ein Gefühl der Erschöpfung, der eigenen Kleinheit, das die Sehnsucht nach glanzvollen Vergangenheiten ebenso verständlich machte, wie die Flucht aus den irdischen Wirren in imaginierte Jenseitigkeit. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht gegenüber einem unberechenbaren Schicksal, besonders stark bei der großstädtischen Bevölkerung, ließ eine Flut von Mysterienkulten aufkommen, die, zusammen mit dem Glauben an astrologische Vorhersagen und Dämonenbeschwörungen, nicht erst die späte Kaiserzeit überschwemmte. Reste der klassischen Philosophenschulen, insbesondere Neuplatonismus und Neupythagoreismus, gingen eine Verbindung mit mystischen Spekulationen und orientalischen Heilslehren ein. Man wollte auf diese Weise einem unfreundlichen Schicksal entrinnen und vielleicht Erlösung aus dem irdischen Gefängnis finden. Von mystizistischen Stimmungen und synkretistischen Neigungen blieb auch das hellenisierte Diaspora-Judentum nicht verschont. Anders als die Griechen, hatten sich die Juden nie primär von der Erkenntnis der ewiggleichen Natur und entsprechenden Seinsspekulationen leiten lassen, sondern von der Geltung eines absoluten Sollens, nämlich dem Willen eines unverfügbaren persönlichen Gottes. Dieser war kein aristotelischer „unbewegter Beweger“, sondern allem Denken und Handeln vorgegeben; kein Seinsprinzip, sondern der ganz Andere, der aber zugleich als Urgrund jeder erfahrbaren Wirklichkeit verstanden wurde: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis.“

Die Bereitschaft dem Ruf Gottes zu folgen, gibt dem biblischen Bericht, den Mythen des Volkes Israel, die zentrale Bedeutung und dem jüdischen Denken die besondere Prägung. Das Paradies liegt in einer eher existenziellen als zeitlichen Ebene hinter der Erinerungsgemeinschaft, ebenso wie die ägyptische Knechtschaft: Nicht die Vergangenheit ist überhaupt das Bestimmende, auch nicht das Reich Davids, das ja keineswegs als makellos dargestellt wird, sondern der Hinweis auf den Herrn der Geschichte: ER verpflichtet die Gegenwart. Die Propheten erklären das Missverhältnis von Auserwähltheit und gegenwärtiger Erniedrigung und lassen für das Kommende hoffen. Wenn sie gegen die tatsächliche Geschichte als Abfall vom Gesetz Gottes protestieren, stellen sie nicht, wie die Rom-Nostalgiker, einfach die Rückkehr zur alten Ordnung als Forderung auf, sondern projizieren „die Idee des heiligen Volkes und des Gottesbundes in eine mythische Zukunft“ (Bultmann). Statt der fatalen Kreise, in denen das Woher und das Wohin zusammenfallen, stößt das biblische Bewusstsein auf eine unumkehrbare Zeit, die auf ein Neues hinstrebt, Die Juden, ein „Volk ohne Raum“, werden zum Volk der Zeit, einer Zeit, die ausgerichtet ist auf etwas, was nicht war, aber sein wird (Taubes). Geschichtliche Zeit bedeutet im jüdischen Denken gerade in ihrer Ereignishaftigkeit und Kontingenz die Befreiung vom Immergleichen, die Möglichkeit des Neuen, wie sie schon die Abrahamsgeschichte leitbildhaft vorwegnimmt.

Das ursprüngliche Nomadenleben und das Ressentiment gegen die landwirtschaftlichen Lebensformen hatten die jüdische Bereitschaft zum Aufbruch und inneren Freiwerden als geistige Prägung hinterlassen; so konnte auch der Verlust der Eigenstaatlichkeit und das Heraufkommen der Schriftgelehrten als Sprecher und Deuter der jüdischen Identität eine „selbstkritische Semantik“ (Leppin) entstehen lassen, für die das gegenwärtige Elend die Kehrseite eines grandiosen Zukunftsversprechens ist. Statt der realgeschichtlichen Hoffnung auf eine glänzendere Wiederherstellung des Davidreichs zeichnete sich ein übergeschichtliches Heil ab, eine ins Mystische gewandelte eschatologische Erwartung, die die irdisch-nationalen Messiashoffnungen spiritualisiert und entgrenzt. Es sei dahingestellt, ob sich die Offenbarung geradezu in Erkenntnis und prophetische Teleologie auflöst (Hermann Cohen) und die Neuordnung der Welt in Gerechtigkeit und Frieden als Menschheitsziel ohne Monotheismus unvorstellbar ist: „Ich will dich machen zum Bund der Völker“, verspricht Deuterojesaja.15 Es gibt auch andere Heilsvorstellungen, in denen Israel als „Zuchtrute der Herrscher“ imaginiert wird, oder als Stier, der die Völker in den Kot tritt – Jahwes Antwort auf reale Aggressionen gegen sein Volk.16

In menschheitlicher Richtung wirkten auch iranische dualistische Spekulationen, die in den Büchern Esra und Daniel Spuren hinterlassen haben – hellenistische Verwässerungen, die zu allegorischen Deutungen der Bücher Mose als universal gültigem Gesetz und vermeintlicher Inspiration der griechischen Philosophie führten. Philon von Alexandrien († um 50 n. Ch., also Zeitgenosse des Jesus von Nazareth), interpretiert die messianische Versprechung als nicht exklusiv an das Volk Israel gerichtet, das sich allenfalls für die anderen Völker opfert und für sie betet. Seine Geschichte wird zur philosophischen Allegorie.16

Nichts Neues auf Erden, hatte es schon im Buche Prediger (Kohelet) geheißen, und alles menschliche Tun war „eitel“ – befremdliche Töne für die von irdischer Erwartung gerade des Neuen geprägte jüdische Tradition, die sich mit ihrem Ausschließlichkeitsanspruch auch nach der Erneuerung des Tempels in einer hellenisierten Umwelt nur mühselig behaupten konnte (Plünderung und Entweihung des Tempels durch Antiochus 169/68). In diesen Zusammenhang muss man kosmologische Spekulationen über den Weltlogos und den nahenden Endkampf der Mächte des Lichts und der Finsternis verstehen. Philons Einebnung des existentiell und historisch geprägten jüdischen Denkens in die griechische Tradition eines betrachtenden Schauens fand Eingang auch ins Frühchristentum. Der galiläische Wanderprediger Jeschajahu hatte das unmittelbare Kommen des Gottesreichs gepredigt, das alle irdischen Schranken und Unterschiede, alles Recht und allen Zwang aufheben sollte. Ein verinnerlichter Gottesglaube, ein ‚Exodus vom Kult in die Schrift‘ hatte sich der Welt schon im prophetischen Monotheismus geboten statt der polytheistischen Heiligung von Staat, Macht und Krieg (Assmann). Die christlichen Gemeinden waren weiterhin von der Endzeiterwartung des Volkes Israel bestimmt. Aber sie hatten durch den Auferstehungsglauben ein neues Fundament gewonnen, das die Geschichte schon als versöhnt erscheinen ließ – was immer das inhaltlich bedeuten sollte.17 Und sie mussten sich einer von anderen Vorstellungen geprägten nicht-jüdischen Bevölkerung verständlich machen. Dieser war die Abwertung des Irdischen und die Sehnsucht nach einem transzendenten Heil wohlbekannt, ja auch Auferstehungsmysterien, die Erlösung durch den Sotér, den Heilsbringer und Gottessohn. In dieser verbreiteten Tradition wird der historische Jesus von Nazareth im Neuen Testament, vor allem im Johannesevangelium, in gnostischer Begrifflichkeit als präexistenter Logos, als „Licht der Welt“ und „Weg zu Gott“, apostrophiert. Paulus von Tarsos († 64), Organisator der frühchristlichen Gemeinden, interessierte der innerweltliche Wandel nur sekundär.

Auch im Bestreben, sich vom Judentum (und vom jüdischen Aufstand 66/70) zu distanzieren, hat das die radikale Spannung zur eschatologischen Zukunft abgeschwächt, wenn auch nicht ganz aufgehoben. Die Erlösung von den Bindungen an diese Welt, deren Weisheit Torheit vor Gott ist, erschließt neue Möglichkeiten und mobilisiert angesichts des radikalen Anspruchs neue moralische Kräfte. In diesem Sinn schreibt Paulus an die Philipper, im vorgesteckten Ziel, der „himmlischen Berufung in Christo“, der er nur nachjagen, also sie nie ganz erreichen könne, „vergesse ich, was dahinten ist und strecke mich zu dem, was da vorne ist.“ Dahinten, das waren Gesetz und Sünde, aber auch alles, was als irdischer Wert oder persönliches Verdienst gelten konnte und letztlich unfrei machte; vorn war die Offenheit der Hoffnung, der Liebe und des Glaubens.

Obwohl Paulus den Messianismus spiritualisierte und den hingerichteten Propheten Jesus mit dem Logos der Gnosis identifizierte, klang die Aussicht revolutionär: „was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er zuschanden machte, was stark ist“ (1. Kor, 1, 27). Vor allem für Benachteiligte und Ungebildete, „die da Leid tragen“, „die da hungert und dürstet“; aber gerade in diesen städtischen Schichten fand die junge Kirche zunächst viel Anklang. Die Gewissheit der Offenbarung konnte sich tatsächlich nur in einem Milieu unreflektierter Gedanken, ungebrochener Phantasie und naiver Hingabebereitschaft entfalten; erst allmählich hat sich der Absolutismus des Glaubens mit einer höheren Reflexionskultur (Troeltsch) verbunden. Seitdem versuchten christliche Apologeten die neue Lehre auch hellenistisch Gebildeten in deren Begriffswelt näherzubringen. Wie bei Philon, werden griechische Spekulation und das „Alte Testament“ der Juden als zwei parallele Wege zu Christus verstanden und legitimiert. Glaube und Vernunft gelten Clemens von Alexandrien († 215) als zwei Formen derselben menschlichen Befähigung zur Annäherung an die ewige Wahrheit. Doch war der Glaube der aufgeklärten und ethisch sublimierten römischen Gebildeten schon durch seine resignative Grundhaltung etwas anderes als die christliche Religion der Brüderlichkeit mit ihrer Erwartung einer totalen Erneuerung.

Auch wenn der Impuls zur Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen fehlte, ja die Abkehr vom eudämonistischen Schein hin zur Innerlichkeit des Glaubens den verfeinerten Epikuräismus der Oberschichten aggressiv entwertete, wurde jeder irdischen Autorität noch in ihrer Anerkennung und Duldung ein Stück Verachtung entgegengebracht. Mit der Spiritualisierung der christlichen Botschaft kam aber in die Kirche auch eine der jüdischen Tradition unbekannte leibfeindliche Mystik, die den Geist durch „Nachahmung Gottes“ aus dem Kerker der Materie erlösen und zu höherer Wesenheit aufsteigen lassen wollte (so der um 254 als Märtyrer umgekommene alexandrinische Kirchenlehrer Origenes, der am Ende der Zeiten sogar die Erlösung des Teufels für möglich hielt). Neben dem Aufstieg kannte Origenes auch den Abstieg: Doch ist der Kreislauf kein fataler, sondern hängt ab vom freien Willen, der den „Fortschritt“ im Sinn von Gottes Oikonomia bzw. Heilsplan wählen kann. Echte Vollkommenheit ist allerdings nur erreichbar im Zustand der Kontemplation – wenn man will, ein Rückfall in den Neuplatonismus. Zumindest wird dadurch die im biblischen Sinne gute Schöpfung hierarchisiert und das Leibliche als Quelle des Bösen dämonisiert: Origenes hat sich konsequent, unter dem Beifall des Kirchenhistorikers Eusebius, selbst sterilisieren lassen. Der umfassend gebildete Ekstatiker wurde zum Vorbild der seit dem 3./4. Jahrhundert einsetzenden Mönchsbewegung. Sein Ziel war die Aufhebung des Griechentums im Christentum; was er erreichte, war aber eher die Hellenisierung des Christentums (H. Küng). Dem entsprach eine abgeschwächte Parusieerwartung als bloße Sichtbarwerdung einer schon bestehenden Gegenwelt: der basileia Gottes, gemäß Lucas 17,20: Das Reich Gottes ist schon „mitten unter euch“.

Die Abwertung des Irdischen zugunsten von Allegorie, Seinsspekulation und Askese hatte noch weitere Folgen, nämlich den potentiellen Verlust der kaum gewonnenen geschichtlichen Dimension, der Dynamik einer zielgerichtet angelegten menschlichen Bewegung in der Zeit. Die tatsächliche Geschichte Israels und der frühen Kirche war immer schon rein existenziell interpretierbar – als Ruf Gottes und als menschliche Bereitschaft, diesem Ruf zu folgen – oder aber Freiheit der Verweigerung: Hinter dem „Bericht“ steht das Außergeschichtliche als die eigentliche Botschaft bzw. Gott als geschichtsmächtiger Herr der Zeit. Dem einzelnen Geschehen kommt aber außer dem vertikalen Bezug auch horizontale Bedeutung als Glied des übergreifenden „pädagogischen“ Dramas zu – der Großen Erzählung, bestimmt durch die Koordinaten von Schöpfung, Sündenfall und Messiaserwartung bzw. Erlösung. Auf Irenaeus von Lyon († nach 200) geht der Gedanke einer evolutiven „Erziehung des Menschengeschlechts“ durch aufeinanderfolgende Bundesverträge zurück. Und Eusebios von Cäsarea († 339), angeregt durch die sich abzeichnende konstantinische Einheit von Reich und Glauben, bezieht das Werk der ‚beiden Friedensbringer‘: Augustus und Jesus, als glückliche Synthese irdisch-göttlicher Ordnung aufeinander. Auch durch die Einbeziehung der Geschichte der Juden als Vermittler des mosaischen Sittengesetzes entsteht bei ihm eine durchgehende historisch-theologische Fortschrittskonzeption (A. Demandt).

Was zwischen Christi Opfertod und seiner erwarteten Wiederkehr lag, konnte vom Glauben her als irrelevant oder eher als aktiv zu nutzende Zeit verstanden werden, doch durchbrach die heilsgeschichtlich-lineare Strukturierung des processus temporis im Prinzip die Trostlosigkeit der antiken ewigen Kreisläufe. Die Erzählungen werden über ihren Gleichnischarakter hinaus konkret verortet in einer geschichtlichen Reihe von Begebenheiten, die primär als Handlungen Gottes für den Menschen gelten.

Das neue Zeitbewusstsein löst damit gewiss nicht alles profane Geschehen in Eschatologie auf, ja es verliert mit der verstärkten Orientierung auf ein privatisiertes Heil und schon mit der paulinischen Trennung von Geist und Fleisch18 die messianischen Unmittelbarkeit der jüdischen Fortschrittserwartung samt dem Schrecken des Weltuntergangs, der ja Rom als „Hure Babylon“ einschloss (Apokalypse Johannis). Die chaotischen irdischen Ereignisse werden in einen übergreifenden Sinnhorizont gezogen, der die Vergänglichkeit und Hofnungslosigkeit des diesseitigen Geschehens zu überwinden verspricht und zugleich die Heilsbotschaft von aller ethnischen Beschränkung löst. Aus der Spannung zwischen einem heillosen Welt-Raum der immer wiederkehrenden Christenverfolgungen und dem totalen Anspruch, dem zeitlichen telos eines universalen Gottesreiches, kann sich eine sinnvolle geschichtliche Struktur ergeben; vom Heilsgeschehen ausgehend, erfasst sie die gesamte Ökumene.

Bei Augustinus Aurelius, Bischof im nordafrikanischen Hippo und Zeugen der Völkerwanderung († 430), wirkt stark das neuplatonische Erbe nach, wonach die wahre Erkenntnis und Glückseligkeit die Abwendung von der vergänglichen Welt der Sinne voraussetzt; es geht um die Teilhabe am zeitlos-wahren Sein. Die menschliche Seele steht in der Zeit und der Vergänglichkeit, ragt aber sozusagen auch ins Zeitlose hinein, ist eine Spur des Ewigen, vestigium aeternitatis: der Anknüpfungspunkt, der dem Menschen die „Rückkehr aus der Fremde“ ermöglicht.

Augustinus hat die pelagianische Lehre energisch bekämpft, die den Menschen aus eigenem Entschluss heraus zur Überwindung seiner Verstrickung in die sündhafte Welt führen wollte. Ohne Gottes Gnade sind die menschlichen Bemühungen vergeblich, hielt Augustin dagegen, und innerweltliche Tätigkeit bleibt sekundär gegenüber der Erkenntnis der höchsten Güter. Andererseits war die augustinische Abkehr von dieser Welt keine einfache Negation, sondern eine „dialektische“, also ihre bedingte Anerkennung – vorausgesetzt, sie wurde nicht als Selbstzweck „genossen“ (frui), sondern für höhere Zwecke „genutzt“ (uti). Augustin hat die heidnische Wissenschaft und Kultur, die Pax Romana eingeschlossen, nicht wie sein afrikanischer Landsmann Tertullian, einfach verdammt („Was hat Athen mit Jerusalem zu tun?“).19 Es ging ihm vielmehr darum, sie in gebotener Distanz fruchtbar zu machen, als quasi Propädeutik zur Wahrheit Christi. Diese relative Anerkennung innerweltlicher Bestrebungen war, zusammen mit dem voluntaristischen Kern in seinem Denken, eine wichtige Wegkreuzung in der keineswegs selbstverständlichen Richtung Europas auf christliche Kultur. Wenn das christliche Ethos nicht in Sezession, Ressentiment und Weltflucht verpuffen sollte, dann mussten seine kreativen Möglichkeiten eine reale, auch institutionelle Grundlage erhalten; das hieß, Elemente der zerbröckelnden hellenisch-römischen Zivilisation selektiv in den neuen Kosmos einzubeziehen und, umgekehrt, für diesen ein Freiheitsverständnis zu bewahren, das sich nicht auf den Bürgerstatus beschränkte. Nur auf einer solchen Basis konnte schließlich Fortschritt im Sinne von ‚positiver Überwindung‘ der vorangegangenen Stufe stattfinden.

In diesem Zusammenhang interessiert vor allem die Einstellung zum römischen Staat, an dessen Niedergang die patriotische öffentliche Meinung dem verräterischen „inneren Proletariat“20, in Zusammenarbeit mit dem auswärtigen der Barbaren, die Schuld gab. Irenäus von Lyon hatte – zur Zeit Mark Aurels – Rom mit dem 4. Reich der Danielsvision gleichgesetzt und dessen Dauer bis zur Wiederkunft Christi verkündet. Kaiser Konstantin brach im Jahr 313 die Christenverfolgungen unter der pragmatischen Erwartung ab, den Christengott für das zerfallende Reich verfügbar zu machen; und der Mailänder Bischof Ambrosius verkündete analog, das Christentum werde Rom neue Kräfte erschließen: der Nagel des Kreuzes erweist sich als der gute Nagel, der das Reich zusammenhält; zugleich wusste er sich, gestützt auf das Kirchenvolk, erfolgreich gegen kaiserliche Übergriffe zu wehren. Die Plünderung der Ewigen Stadt durch Alarichs Goten (410), ihre Erniedrigung durch barbarische Horden, musste als Herausforderung an dieses Selbstverständnis der Kirche empfunden werden.

Augustins Antwort auf das Scheitern der konstantinischen Synthese zumindest im Westen, bestand im Entwurf einer grundsätzlichen Doppelbürgerschaft von civitas Dei und civitas terrena, zweier Prinzipien, in denen ein Stück Manichäismus nachklang, die man aber auch in der Form zweier sichtbarer Gemeinschaften, Kirche und Staat, wiedererkennen mochte. Augustinus’ Geschichtsphilosophie löste die alte Raumverknüpfung von Gott und Polis, die im antiken Denken bis zur Identifizierung gegangen war und Religion zur Staatsangelegenheit werden ließ. Das sollte anderseits keiner sektiererischen Absonderung der Heiligen von den Verworfenen rechtgeben: während des Dauers der Weltzeit blieben beide Bürgerschaften ineinander verschlungen, ja zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt. Das war eine Absage an die selbstgerechte Neigung der sogenannten Donatisten, die irdischen Dinge in Hoffnungslosigkeit und Sündhaftigkeit der heidnischen Kreisläufe zu entlassen. Augustins Interpretationsleistung bestand dagegen in der Erneuerung des biblischen Bildes vom Ringen um das Reich Gottes als Wegweiser unseres procursus in seiner geschichtlich-eschatologischen Dimension.

Damit ist die Vergangenheit keine Vielfalt von Historien mehr, sondern Vorstufe, Vorbereitung einer zukünftigen universalen Erfüllung, und so kommt auf alle menschlichen Begebenheiten mit dem absoluten Anspruch auch ein Stück heilsgeschichtlicher Bedeutsamkeit zu. Der himmlische Staat, so könnte man sagen, ist ein Fremdling auf Erden, wirft aber auf das irdische Geschehen einen Abglanz des Lebens sub sepecie aeternitatis. Die Geschichte ist der Ort eines dramatischen Kampfes, auch wenn das eigentliche Fortschreiten nicht säkular, sondern geschichtstranszendenten Charakter hat. Das Realgeschichtliche bleibt dabei nach wie vor von Ambivalenz, Versagen und Vergeblichkeit geprägt. In diesem Sinn warnt Augustinus vor Herrschsucht, Egoismus und Ungerechtigkeit des irdischen Staates, der zum magnum latrocinium, zur großen Räuberbande werden kann, selbst wenn er sich zum Weltstaat ausweitet.

Rom ist somit an sich keine legitime Erfüllung der Geschichte, auch wenn der Kaiser Christ geworden ist – was Eusebius von Cäsarea der Ostkirche bescheinigte und der Spanier Orosius noch um 418 zur Lehre von Rom als Friedensgarantie und Schlussstück in der Abfolge der Weltreiche ausbaute. Der Cäsaropapismus ist dagegen für Augustin ein Irrweg, weil Selbstliebe und Streben nach falscher Glückseligkeit bis zum Ende der Zeiten eine menschliche Grundeigenschaft bleiben.21

Das Wahre ist, mit anderen Worten, niemals identisch mit seinen irdischen Abbildern, und die Geschichte ist wohl auch nach Christi Opfertod nicht im vollen Sinn ‚erlöst‘, also freigekauft aus der Sklaverei. Aber wie das Irdische Vehikel von Gottes Absichten sein kann, so bleiben auch diejenigen, die um Gottesbürgerschaft ringen, bzw. dazu erwählt sind, angewiesen auf irdischen Frieden (und werden deshalb nicht zögern, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist). Mit dem Vorbehalt, dass dieser nicht seine Ordnung mit wahrem Frieden und echter Glückseligkeit verwechselt, also der Staat sich, modern gesprochen, auf die Hilfsfunktion beschränkt, für Eintracht und Gerechtigkeit in den Dingen dieser Welt zu sorgen.22

Mit dieser stand es nicht zum besten, auch wenn die barbarischen Teilkönige Anspruch auf den römischen Namen erhoben und sich zu dieser oder jener (meist der arianischen) Prägung des Christentums bekannten. Vorrömisches Stammesrecht und bäuerliche Abhängigkeit waren aus der Zerstörung der Städte und der imperialen Verwaltungsstrukturen als historisch entscheidende Tatsachen hervorgegangen, gewiss auch Wandlungen im alltäglichen Leben, die Heiligung des Sonntags, die Verbindlichkeit der kirchlichen Lehren im Alltag. Schon früher hatte sich mit dem Zurücktreten der unmittelbaren Zukunftshoffnung auf das Reich Gottes eine realistische Bescheidung angebahnt, die den erwarteten Idealzustand mit der Herrschaft der Kirche zusammenfallen ließ und die Welt als Ganzes samt ihren unabänderlichen Zwängen mit einigen Kautelen hinnahm, allenfalls mit dem radikalen Mönchsideal konfrontierte. Im Kolosserbrief, eine Generation nach Paulus, hatte es geheißen: „Da ist nicht Grieche, nicht Jude, Barbar, Skythe, Knecht oder Freier, sondern alles und in allen ist Christus“ (3,11). Orosius’ christliche Weltgeschichte machte sozusagen aus der Not eine Tugend und aus dem Zusammenbruch des Reiches ein sinnvolles Geschichtsziel derart, „dass im Osten und Westen die Kirchen sich füllen mit Hunnen, Sueben, Vandalen, Burgundern“. Und Salvianus, ein Priester in Marseille, behauptete sogar, viele Menschen „suchten bei den Barbaren römische Menschlichkeit, weil sie die barbarische Unmenschlichkeit bei den Römern nicht ertragen könnten“.

Aus der jüdischen prophetischen Tradition kennt man die Figur der Reinigung durch die große Katastrophe. Der Landesverräter Jeremias weissagt Feuer, Tod und die Zerstörung des Tempels als sinnvolle Taten Gottes. Große Herausforderungen, wie der Einbruch einer fremden Macht, mögen manchmal Anlass für kulturelle Neuschöpfung gewesen sein; der Zusammenbruch des Westreiches ließ aber zunächst nur zaghafte Versuche von der Art des Cassiodor und Boethius aufkommen, den gotischen Barbaren über die Taufe hinaus einen Grundstock antiker Bildung zu vermitteln. Das karge Ergebnis waren mönchische Studienpläne, die immerhin ein Asyl boten zur Bewahrung von Teilen der klassischen Literatur in der entstehenden Klosterkultur. Der von dieser ausgehende geistige Impuls war zwangsläufig weder auf irdischen Progress noch auf neue Erkenntnisse gerichtet. „Weder Hoffnung noch Furcht“ empfahl der 526 hingerichtete Boethius in seiner im Mittelalter vielgelesenen Consolatio philosophiae. Von der festen Burg der Weisheitsliebe könne man über die Räuber von eitlem Tand nur lachen. „Aber auf was für eine andere Freiheit darf man noch hoffen?“ Gemäß der neuplatonischen Lehre von der Gefangenschaft der Seele im Körper und von der Erkenntnis als wiederkehrender Erinnerung konnte das allein Rückzug und Umkehr, Rückkehr zu Gott als Quelle aller Wahrheit und alles Ursprünglichen bedeuten.

Auch im Osten des Reiches blickte man bald nur mehr nach rückwärts. Die in den Wirren der Gegenwart nachträglich idealisierte Pax Romana wurde hier durch allzu enge Verbindung mit dem Christentum providentiell aufgeladen: die kaiserliche Politik wird als Werkzeug Gottes auf eine irdische Triumphstraße („ein Gott, ein Gesetz, ein Glaube“) gewiesen, die schon durch den ständigen Dogmenstreit nicht einlösbar war, auch wenn das oströmische Reich im 6. Jahrhundert noch einmal große Teile des alten Imperiums zurückeroberte und auch der Kaiser immer wieder versuchte, durch Kompromissformeln die Schismen der Kirche zu überbrücken (Chalkedon, 451). Anders als im verwüsteten Westen, war im kosmopolitischen Byzanz jedoch die städtische Kultur bestimmend geblieben; obwohl Justinian die Philosophen vertrieb, wusste eine staatstragende Schicht gebildeter Beamten die literarischen Überlieferungen der Antike ebenso zu bewahren, wie das römische Recht (das erst unter Justinian 533/34 eine bleibende Zusammenführung erfuhr). Der an klassischen Vorbildern geschulte Historiker Prokopios von Cäsarea († um 565), Sekretär des Feldherrn Belisar, blickte mit Spott auf die theologischen Haarspaltereien und den Streit der Kleriker herab, auf den Fanatismus des ungebildeten Volkes, in einem späteren Werk auch auf den Bauernsohn auf dem Thron. Es fehlte dem Basileus, der selbst theologische Traktate verfasste und sich als Gottes Werkzeug empfand, die ebenbürtige geistliche Gegenmacht, so dass die ‚Theokratie‘ eine weitgehend äußerliche blieb und die Kirche ein ‚Departement der Staatsverwaltung‘, die den römischen Staat mitsamt seinem Recht und seiner hellenischen Kultur unangefochten bestehen ließ (Troeltsch). Es gab Proteste und Aufstände, aber Kritik an den erstarrten Formen des sozialen und religiösen Lebens konnte regelmäßig auf asketische Gleise gelenkt werden. Die erneuerte Reichsidee und in ihrem Rahmen ein mönchisch-introvertiertes Christentum stießen nicht zuletzt an äußere Grenzen, die die alten Kulturen Ägyptens und Syriens schon durch ihr monophysitisches Credo zu betonen wussten.

Trotz Assimilierung nicht-griechischer Völkerschaften und einer folgenreichen Slawenmission setzte dann der Islam im 7. Jahrhundert der byzantinischen Expansion ein ähnliches Ende, wie die Germanen davor der Herrschaft Roms im Westen. Dem geschrumpften und in seinen Ambitionen herabgestuften Ostrom war damit bloße Verteidigung und Bewahrung als Staatsraison geblieben. Der Kirchenhistoriker Orosius, Schüler des Augustinus, hatte den Untergang römischer Macht als selbstverschuldet, jedoch als Chance eines Neuanfangs im Zeichen der Ausbreitung des Christentums unter den Heiden, verstehen wollen. Die Geschichte Roms verdiene keine nostalgische Verklärung: Wenn Rom siegte, war die übrige Welt unglücklich.23 Das Christentum, indem es besänftigend auf die barbarischen Völker einwirkte und deren Schwerter in Pflugscharen zu verwandeln suchte, sollte eine neue Zivilisationsstufe einläuten. Ausgehend von dieser – nicht immer nachvollziehbaren – Sicht, wagten gebildete Kleriker einen anderen geschichtsphilosophischen Ansatz auf der Basis der neuen barbarischen Staatsgründungen.

Die eingefahrenen Strukturen des Römischen Reiches hatten sich meist als resistent gegen religiös-ethische Totalkritik erwiesen und wenig von der Art einer christlichen Einheitskultur entstehen lassen; nur der Schutz der Kirche und die Anerkennung eines ethischen Minimums wiesen das bestehende Gefüge weltlicher Zwecke und Zwänge als christlich aus. Die primitiven und chaotischen Verhältnisse bei den westlichen Barbaren ließen dagegen mit der Christianisierung die Fiktion eines geistlich-weltlichen Neuanfangs, der Anwendung des christlichen Sittengesetzes auf naturrechtlichem Neuland, aufkommen. Chronisten und Bewahrer antiken Wissens, wie Isidor von Sevilla, Gregor von Tours, Beda Venerabilis verfassten außer Sammelsurien und Heiligenviten die Geschichte der neubekehrten Völkerschaften im Westen: der Westgoten, Franken, Angelsachsen, Langobarden und anderen. Aus der barbarischen Anonymität sollten sie ins Licht der Großen Erzählung treten: in die Weltchronik einer zeitlichen Linie der sechs (oder vier) Weltalter und des christlichen Heilsgeschehens zugleich.24

Die christliche Idee der einen Menschheit, der einen Kirche und der einen irreversiblen Zeit war allerdings in der wieder bäuerlichen, „geschichtslosen“ Lebenswelt und einer halbheidnischen Volksreligiosität keine Erfahrungstatsache; geistiger Fortschritt schien nota bene gar nicht in irdischen Zeiteinheiten messbar.

Und doch erhielt die Idee des Fortschritts ein Stück Evidenz durch die unermüdliche Tätigkeit unzähliger Mönche und Missionare: Ausgehend von den irischen und angelsächsischen Klöstern und gestützt auf das geistige Zentrum Rom, das seinerseits Flüchtlinge aus dem verlorenen Afrika aufnahm, gelang es, den Kontinent schrittweise mit neuen Lebensformen und Idealen zu überziehen. Das Fortschreiten wurde so trotz des Rückfalls in die alten Stammesordnungen (und in die Naturalwirtschaft) zumindest für eine Elite von Kirchenmännern erfahrbar.

Erst deren intensive geistige und zivilisatorische Tätigkeit gab der Erneuerung des Westreichs durch Karl den Großen (800) den übergreifenden und dauerhafteren Sinn. In der augustinischen Tradition mochte es fragwürdig sein, den Eroberer, dessen Triebfeder zur guten Hälfte die dominandi cupiditas (Herrschsucht) war, als geradezu alttestamentarischen Vollstrecker von Gottes Willen zu interpretieren; realgeschichtlich erwies sich der karolingische Pakt mit der römischen Kirche als durchaus fruchtbar für beide Seiten. Die Karolinger benutzten die fränkische Kirche als „Stützkorsett“ ihrer Herrschaft sowie zur Organisation und Kultivierung ihrer illiteraten und dämonengläubigen Völker, bei denen die Grenze zwischen Gebet und Zauberspruch noch fließend war; der Klerus verstand mit großer Selbstverständlichkeit diese Aufgaben als Verwirklichung einer christlichen Lebensordnung. Vor allem der Bildungsgedanke der Palastschule Alkuins von York († 804) schuf durch ein zunächst recht weitmaschiges Netz von Klöstern, Abteien und Bischofssitzen erstmals Kernpunkte einer einheitlichen Kultur Westeuropas,25 die den Zerfall auch des karolingischen Reiches im 9. Jahrhundert überdauerten.

Die Kirchenlehrer hatten Mönchstum, Askese und Weltverneinung nicht unbedingt als Selbstzweck verstehen wollen, sondern als quasi-heroische Mittel der Disziplinierung, die der Konzentrierung auf den kirchlichen Beruf dienen sollten. Die Mönchsfrömmigkeit stand zwar über der Weltfrömmigkeit, aber der Laie konnte unter Umständen eine gleichwertige Vollkommenheit erreichen, wie der meditierende Asket – der im übrigen auch zu Arbeit, Lehre und Caritas verpflichtet war. In einer Wirklichkeit, die von permanenter Drohung mit Gewalt und Rechtsbruch, von Furcht vor unsichtbaren Mächten geprägt war, leisteten die kirchlichen ‚Heilsmittel‘ durchaus praktische Lebenshilfe. Dem entsprach eine gewisse Aufwertung des Alltags: Weil jeder Augenblick einzigartig war, nämlich rechenschaftspflichtig vor Gott, musste allem irdischen Handeln, ungeachtet seines tatsächlichen Stellenwerts, Bedeutung zufallen. Schon Ambrosius von Mailand wollte das zeitweilige Überhandnehmen des Bösen nur als produktive Herausforderung für christliches Handeln verstehen, und eben das brachte Dramatik in die Geschichte. Die Steigerung des Bösen in der Gegenwart mobilisiert die Kräfte des Heils.26

Der Gedanke wird wiederholt aufgegriffen und zur Zeit des ersten Millenniums vom Cluniazenser Rudolfus Glaber weiterentwickelt zur Auffassung der Geschichte als fortschreitender Verwirklichung des göttlichen Heilsplans. Der Fortschritt, den Glaber nach dem Grad der Durchsetzung von Gerechtigkeit in der Welt misst, manifestiert sich stufenweise, immer von Rückfällen unterbrochen. Staatszerfall, Sarazeneneinfälle, Ketzerei, Abstumpfung der Herzen, machen dabei die Erziehung der Menschen, letztlich die Erkenntnis Gottes, nur umso gewisser. Die Herausforderung, das Fortschreiten Gottes „per actus humanos“ voranzubringen, wurde in der Tat ungeachtet der faktischen Rückschläge gerade auch in dunklen Zeiten angenommen. Wir haben gehört, wie insbesondere Klostergemeinschaften in Zeiten des Zerfalls der Staatsordnung in archaische Stammes- und Kriegergefolgschaften Reste der antiken Bildung samt dem Bewusstsein einer übergreifenden geistigen Einheit bewahrt haben: Herkommen, Sitten, Sprache und Gesetze werden innerhalb der Gemeinschaft durch gemeinsamen Glauben unwichtig.

Obwohl die Klostergemeinschaften nicht eigentlich an eine Reform der Welt dachten, sondern an die imitatio Christi und die Schaffung geschlossener Heilsräume, war ihr vorgelebtes Ethos, das auf die umgebende Laienbevölkerung ausstrahlte, wenn auch kaum deren geistig-sittliche Durchdringung erreichte, von besonderer zivilisatorischer Bedeutung. Zu produktivitätssteigernden Verbesserungen – von der Wassermühle, dem Kummet bis zur Walkmühle und dem Spinnrad – kam die neuartige Hochschätzung von Handarbeit bei den Rodeorden. Das Frühchristentum hatte ursprünglich Arbeit, ebenso wie Recht, Eigentum, Zwang und Sklaverei, als ‚Folge der Sünde‘ hingenommen, allenfalls als Disziplinierungsmittel verstanden, aber noch keineswegs mit Berufsethos verbunden; spätestens seit der Benediktinerregel begann sich die Einstellung zur Handarbeit zu ändern: sie durfte aber nicht in Selbstzweck ausarten (Gurjewitsch). Zum materiellen Fortschritt trug zu einem gewissen Maß schon die extensive Ausbreitung christlicher Herrschaft bei, die den Anschluss an die Zentren höherer Zivilisation zur Folge hatte, konkret den Zustrom von Ideen, Praktiken, Handelsgütern und Lebensformen, die auch die eigentliche Macht, ihr Selbstverständnis und die Art ihrer Ausübung nicht ganz unberührt lassen konnten. Ein aus klösterlichen Reformbestrebungen hervorgegangenes Menschheitsideal vermittelte der meist noch in archaischem Selbstverständnis befangenen weltlichen Herrschaft Grenzen und positive Aufgaben.

Ende des 11. Jahrhunderts haben sich, parallel zum Bevölkerungsanstieg, auch die geweckten religiösen Energien stellenweise der Kontrolle entzogen bzw. auf ursprüngliche Motive zurückbesonnen: Endzeit-Wanderprediger fanden Gehör insbesondere bei städtischen Unterschichten, die durch Übervölkerung, Hungersnöte und Seuchen aus ihrer traditionellen Lebenswelt herausgerissen, sich eschatologischen Phantasien und messianischen Vorstellungen öffneten. Es waren diese pauperes, die sich von Kreuzzuggedanken (Clermont 1095) begeistern und Jerusalem als Versprechen eines irdischen Pararadieses inspirieren ließen. Die Eschatologie endet oft im Blutbad, exekutiert nicht nur an ‚Heiden‘ im Heiligen Land, sondern auch an dämonisierten Juden, deren Halsstarrigkeit das Kommen des Tausendjährigen Reiches hindert, und aus denen nicht zuletzt der Antichrist hervorgehen soll (N. Cohn)

Die gegenseitige Instrumentalisierung und Durchdringung weltlicher und kirchlicher Lebensformen war radikalen Kirchenmännern spätestens seit Gregor VII († 1085) zu wenig. Ausgehend von einer geschlossenen, auf absolute letzte Werte, Jurisdiktion sowie Sakramentalgewalt gestützte geistliche Macht, forderte die Kirche eine vollkommene Unterordnung der „temporalen Gewalten“. Das hieß die Kontrolle des gesamten gesellschaftlichen Lebens, die Formung der Gewissen durch Seelsorge und Ketzerrecht, der Hochkultur durch Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Kirchenkunst, ja auch eine direkte Lenkung des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens durch kirchliche Würdenträger in weltlichen Ämtern, auch direkt durch riesigen Grundbesitz. Die Papstrevolution war keine totale, sondern endete in Kompromissen. Gerhoch von Reichersberg, der die Weltgeschichte als einzigen Verfallsprozess verstand, in dem nur einzelne „arme Christen“ eine Art Nachtwache halten, kritisierte das Wormser Konkordat (1122) gar als Anfang eines letzten Weltalters, in dem Habgier als Hauptlaster bis zu Christi Wiederkunft herrschen werde (nach H. Keller). Trotzdem war das Geschehen des Hochmittelalters in mancher Hinsicht geeignet, das Leitbild des Fortschreitens im Bewusstsein vieler Menschen zu untermauern.

Gestützt auf beschleunigten Landesausbau, Stadtentwicklung, Kirchenreform, verstärkte sich dieses Bewusstsein insbesondere seit dem 11. Jahrhundert, wobei vielfach eher weltliche Kriterien zur Geltung kamen. Der Walliser Giraldus Cambrensis, der im 12. Jahrhundert Irland beschrieb, konnte z.B. auf das antike Geschichtsschema Wälder-Äcker-Städte zurückgreifen und die Iren als ‚Waldvolk‘, gens silvestris, der untersten noch vorlandwirtschaftlichen Barbarei zuordnen: Die eigene Fortgeschrittenheit wird nicht allein heilsgeschichtlich verstanden. Das hing, wie gesagt, mit dem wiedererstandenen städtischen Leben, zu einem großen Teil auch mit den überall emporschießenden Schulen und Universitäten zusammen. Ihnen entsprach eine wachsende Nachfrage nach Wissen, nach den artes liberales und überhaupt nach antiker Überlieferung; der Universitätsbetrieb förderte seinerseits die Bedeutung der ratio (neben auctoritas und experientia) als kritischer und unterscheidender Instanz. Nach Anselm von Canterbury, Benediktinerabt und Lehrer († 1109), sollte sogar die Glaubenseinsicht sola ratione, mit notwendigen Gründen, möglich sein; und so erscheint auch das geschichtliche Handeln Gottes von innerer Vernunft bestimmt, zumindest in Teilen rational verstehbar. Abaelard, der „erste neuzeitliche Intellektuelle“ († 1142), geht noch einen Schritt weiter und erklärt angesichts einander widerstreitender Autoritäten die menschliche Vernunft als letzte Instanz: Nur darum glauben wir der göttlichen Offenbarung, weil sie vernünftig ist.

Die Intellektualisierung des Glaubens konnte in mathematische, kosmische Spekulationen ausufern, entfaltete aber auch, wie an der berühmten Domschule von Chartres, eine verfeinerte humanistische Innerlichkeit, die den anmaßenden Schwertglauben der Adelskirche, einschließlich der Kreuzzüge, verabscheute. Die vermeintlich „schamlose“ Neugier der Neuen speiste sich aus Quellen jenseits der bisherigen Grenzen des Abendlandes: Von Toledo und Palermo, auch Rom und Oxford, breiteten sich, getragen von wachsendem intellektuellen Bedarf, Übersetzungen aus dem arabischen Kulturbereich aus, Rückübersetzungen des Aristoteles, dessen Gedankengebäude jetzt erstmals voll erfasst und zum Inbegriff des Wissenschaftlichen erhoben wurde; Euklid, Ptolemäus, Hippokrates, Avicenna, Averroes und Maimonides folgten als mehr oder weniger christianisierte Geistesheroen.

Ein Strom aus medizinischem, mathematischem, astronomischem, geografischem Wissen ergoss sich über den Westen, dessen Weltbild der Herausforderung kaum standhalten konnte. Die Hölle wurde bei den als ‚Averroisten‘ verschrienen Scholastikern oft zur bloßen Unwissenheit verdiesseitigt und der heilige Geist mit dem menschlichen Intellekt identifiziert; die Materie galt einigen als ewig und als alleiniger Gegenstand der Wissenschaft; Verstand und Logik schienen imstande die gesamte Welt begrifflich zu erfassen und zu beherrschen. Die Begeisterung einer Generation städtischer Intellektuellen über den erweiterten Horizont schlug sich nieder als Selbstbewusstsein der moderni, wiewohl sie sich zugegeben als „Zwerge auf den Schultern von Riesen“ wussten.

Die Kirche war unsicher, wie sie sich gegenüber dem neuen Geist verhalten sollte, der ja keineswegs nur eine kleine Gruppe von Gelehrten ergriffen hatte. Die zunehmende Verrechtlichung, Verschriftlichung und Monetarisierung war seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts oft gerade von der Kirche ausgegangen, hatte aber bei dieser auch das Bestreben ausgelöst, das explodierende geistige Leben stärker zu kontrollieren, mit unschönen Folgeerscheinungen, wie Ketzerprozessen und Albigenserkriegen, aber auch Aristotelesverboten (1210,1231). Siger von Brabant, bewunderter Wortführer der Pariser ‚Averroisten‘, starb 1282 im päpstlichen Kerker von Orvieto. In einer Atmosphäre geistiger Beweglichkeit, wie sie die einsetzende städtische Geldwirtschaft, eine bürgerliche Neigung zu rationaler Voraussicht sowie zunehmend abstrakte Rechtsbeziehungen anzeigten, taugten aber die Repressionen kaum mehr als Integrationsmittel. Man lebte in einer dynamisch gewordenen Zeit, und die traditionalen Denkmuster, auch der überspannte Führungsanspruch der Kurie, wirkten ein wenig wie Fremdkörper in einem veränderten Erfahrungsraum, nicht zuletzt einer stärker individualisierten Seelenlandschaft.

Der Rückgriff auf die griechisch-römische Antike eröffnete neue Perspektiven und rationale Erkenntnischancen auch bei der Interpretation der eigentlichen christlichen Lehre; die Frage war, ob nicht dabei die Reste des eschatologischen Erbes verloren gehen würden. Die augustinische Synthese von Glauben und Vernunft war in eine Krise geraten; würde es gelingen, in Vertrauen auf die Kräfte der menschlichen Vernunft ein neues Gleichgewicht zu finden? Die Reformklöster mit Cluny an der Spitze wehrten sich lange gegen die Rezeption der antiken Philosophen und den Zugriff der Vernunft auf die Glaubenswahrheiten: den Klosterschulen wurde deshalb, im Unterschied zu den Domschulen, konservative ‚Aufklärungsfeindlichkeit‘ nachgesagt. Aber es war darin zweifellos auch ein Unbehagen enthalten gegenüber der Reduktion der Religion auf das Kognitive und Beweisbare: der Rückkehr des Ewiggleichen der antiken fysis als Norm.

Petrus Abaelard war noch über Anselms Ansatz hinausgegangen, den Glauben mit Mitteln der menschlichen Vernunft verstehen zu wollen: „Ich greife meiner Gewohnheit nach nicht auf die Tradition zurück, sondern auf meine Geisteskraft“, verkündete der vielgerühmte, vielgeplagte Logiker; es schien ihm möglich, die Sünde als Abwesenheit von Wissen und die Vernunft als letzte Instanz zu verstehen. Das war den Traditionalisten zu viel Intellektuellenhochmut. Bernard von Clairvaux († 1153), Vater der Kreuzzüge, Mystiker und Vertreter einer strengen, mönchischen Frömmigkeit, wollte im abaelardischen Wissensstolz nur „Stultologie“, ein destruktives Zerreden der Glaubenswahrheiten sehen. Aber das eigene militante, herrschaftliche Verständnis der Kirche war durchaus verantwortlich für die Pervertierung des Heilsgedankens zu blutigen Kreuzzügen gegen Ketzer, Wenden, Sarazenen oder Byzanz, auch eine Verwechslung des Reichs Gottes mit überdehnter Papstherrschaft.

Der Kampf gegen die verabscheute Welt des Islam und das zivilisatorisch überlegene Byzanz hatte oft umstürzende Folgen, wiewohl das Einströmen neuer geistiger Impulse manchmal auch nur zur Folge hatte, dass sich der Kreis der zu zitierenden Autoritäten erweiterte. Für Albertus Magnus († 1280), den Theologen, Philosophen und Naturwissenschaftler in einem, bot ein averroistisch interpretierter Aristoteles tatsächlich den Weg zum Verständnis eigenständiger Erkenntnisbereiche, das auch durch eigene Erfahrung des zu Fuß reisenden „Kommentators“ ergänzt wurde. Sein höchstes Erkenntnisziel waren aber nicht die Dinge an sich, sondern ihre zweckbestimmte Zuordnung auf das Ganze der Schöpfung. Dabei vertrat der Dominikaner, in einer Atmosphäre ständiger öffentlicher Streitgespräche, so wie sein Ordensbruder Thomas von Aquino († 1274), das erkenntnisfördernde Recht auch des irrenden Bewusstseins. Der zunächst (1270, 1277) verketzerte, später heiliggesprochene Thomas, der außer Aristoteles auch Averroes, Avicenna und Maimonides verpflichtet war, lehrte ebenfalls die Eigenwertigkeit und Eigenwirksamkeit der Welt (der causae secundae):die Welt bildet eine unveränderliche, vollkommene Ordnung, kein einfaches Nebeneinander, sondern ein stufenweises System aufeinander folgender Zwecke. Weil Gott jeder Kreatur gestattet, sich gemäß ihrer eigenen Natur zu entfalten, sollte auch der Mensch sein Menschsein, nicht allein den Intellekt, voll verwirklichen. Auf dieser Grundlage schien es ihm möglich, die Vernunft auf der Basis von Trieben und Leidenschaften wirken zu lassen, und analog die natürlichen sozialen Bindungen als Stufe zu einer höheren Form der Gottesliebe zu begreifen; aus dem relativ Guten wird schließlich das bonum universale.

Die Stufenlehre, die Thomas auch im Nacheinander der biblischen Geschichte – von der alttestamentarischen lex imperfecta zur nova lex Cristi – verwirklicht glaubt, beruht auf der aristotelische Lehre von den Zweckursachen, bei denen die niedere Stufe die höhere schon im Keim enthält; das höchste Ziel ist für Thomas das Schauen einer vorgegebenen Wahrheit, die fruitio divina. Daneben kennt er das ebenfalls legitime Ziel einer perfectio naturalis, des Lebens in Tüchtigkeit und Tugend; die Gesellschaft als teleologische Einheit, die die in ihr angelegten Möglichkeiten tätig-kommunikativ verwirklichen soll. Die Bibel wird unhistorisch als Bestandteil einer ewigen kosmologischen Ordnung interpretiert, wobei dem Doctor angelicus vor lauter rationalen Konklusionen die existentiellen Aspekte des Glaubens und der Zukunftsbezug verloren zu gehen drohen. Gewiss: Gnade hebt Natur nicht auf, sondern vollendet sie. Aber auch die Natur der Selbstsucht und des Zwangs – Privateigentum, politische Herrschaft, ja Sklaverei – im Grunde sündhafte Einrichtungen der Gesellschaft, werden von Thomas’ weltoffener Theologie providentiell aufgeladen zu Mitteln des Guten. Sie dienen, wie die Arbeit, der Existenzerhaltung und der Askese in einem, man kann sie als Werkzeuge menschlicher Höherentwicklung verstehen. Das absolute Ziel der Seligkeit wird erreicht auf der Basis relativer Ordnungen, gewissermaßen einer ‚Bearbeitung der Welt durch Gott‘, dem der Mensch gerade mit seinem freien Willen und seiner Vernunft zuarbeitet. Es fällt Thomas aber nicht ein, seine Architektur der göttlich bestimmten Zweckursachen realgeschichtlich zu verorten, „in den Fluss des Werdens hineinzuziehen“ (Troeltsch).27

Das ist auch Otto von Freising (Chronica, um 1146) nicht eingefallen: der in Paris ausgebildete Babenberger wollte aber in der Nachfolge Augustins, im Bewusstsein des nahenden Endes der Geschichte, die Hand Gottes im irdischen Geschehen erkennen. Spätere wissen mehr: Wir werden durch die fortschreitende Zeit über den Sinn des Ganzen belehrt. Der gelehrte Zisterzienser war gegenüber immanent-weltlichen kausalen Zusammenhängen relativ offen; so griff er den polybianischen Gedanken eines inneren Entwicklungsgesetzes der Macht auf, auf deren Entfaltung die schrittweise Selbstzerstörung und Übertragung auf andere folgt. Nach seinen Worten hat er das Elend der Zeit „nach Art eines Trauerspiels zusammengeflochten“; seit dem Investiturstreit schien die Zeit der weltlichen Macht abgelaufen, und eine neue translatio imperii würde nicht mehr erfolgen. Der Griff der Kirche in den politischen Bereich war dem Enkel Heinrichs IV. und Onkel Kaiser Barbarossas dennoch fragwürdig; aus den Wirren der Gegenwart kündigte sich ihm nur das nahende Endgericht an.

Solch prophetisches Geschichtsdenken lag dem Aquinesen fern. Das hing vor allem mit seinem antik-zeitlosen Gedankengebäude zusammen und einer vermittelnden Haltung, die es weit von sich wies, die bestehende organische Ordnung mit ihren Abstufungen und arbeitsteiligen Gliederungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Wichtig war ihm eine lenkende und ordnende Instanz, die nicht unbedingt der Papst sein musste; er war sich der Gefahr bewusst, dass auf eine schlimme Gegenwart eine noch schlimmere Zeit folgen könne. Eine innergeschichtliche Perspektive hatte in Thomas’ großer Synthese aber ebensowenig Raum, wie ein apokalyptisches Ende.

Von ihm bekämpft wurde die Lehre von der zweifachen Wahrheit, einer natürlichen und einer offenbarten, wie sie (der von Dante neben Thomas ins Paradies versetzte Averroist) Siger von Brabant vertrat: Die natürliche und die offenbarte Wahrheit mochten in letzter Instanz zusammenfallen, doch werde das, was der Denker klar und begrifflich erkannt hatte, von der Menge nur in bildlicher Hülle geglaubt, die Forderungen der Vernunft dieser nur durch Strafe und Lohn aufgezwungen (Windelband). Ein „modernes“ Paradigma bot die Vorstellung von der Erde als einer großen Werkstatt und des Menschen als eines schaffenden Handwerkers schon bei Gerhoch von Reichersberg († 1169), der allerdings, entsetzt über den selbstzerstörerischen Kampf zwischen Kaiser und Papst, Niedergangsgedanken anhing. – An der Fakultät der freien Künste, die Voraussetzung jeder universitären Bildung war, herrschte meist ein sehr weltlicher, ja anarchischer Geist, bis hin zur satirischen Infragestellung überlieferter Einrichtungen, die Ehe und die gesellschaftlichen Hierarchien eingeschlossen (Johannes von Meung).

Eine neue Geisteshaltung, wenn auch kaum die „faustische“ Indienstnahme der Wissenschaft, der bisherigen Magd der Theologie, für einen „technischen Willen zur Macht“ – um mit Oswald Spengler zu sprechen –, kündigte sich in den Franziskanerklöstern an. Franz von Assisi († 1226), der Laie, der gar keinen eigenen Orden gründen wollte, sondern sich der exemplarischen Armut, Handarbeit und demütigen Nachfolge Christi als hilflosem Menschen und Friedensstifter ergab und der die Schöpfung als ‚Schwester Sonne‘, ‚Bruder Mond‘, und ‚Bruder Wolf‘ besang, stand mit seiner Botschaft der Liebe im faktischen Gegensatz zur herrschenden Gewalt und Habsucht, ja kam in mancher Hinsicht dem Ideal der verfolgten Katharer und Waldenser nahe. Trotz der Verfremdung und Unterdrückung des Gedankenguts des Poverello fanden Teile seines radikalen Vermächtnisses Zuflucht bei dem nach ihm benannten Orden, wobei seine Öffnung zur Schöpfung allerdings recht unkonventionelle Formen annehmen konnte.

Oxforder Franziskaner, wie Roger Bacon († 1294) lehrten, gegen die Berufung auf Autoritäten und gegen die Eitelkeit und Trägheit der Gelehrten, die Wichtigkeit von Erfahrung und Experiment im weitesten Sinn. Die Kirche missbilligte traditionell den Griff ins Innere der Natur als quasi Entweihung des Schoßes der Großen Mutter, und Roger Bacon, dessen Ansatz auf eine All-Wissenschaft und Allreligion hinauslief, wurde von seinen Ordensoberen ins Gefängnis geworfen.28 In Kombination mit einem ekstatischen Prophetismus, der die fleischliche Kirche überwinden wollte, kam es zu wiederholten Verfolgungen insbesondere der ‚Franziskaner-Spiritualen‘; sie pflegten nicht nur Experimente, Zahlen- und Lichtmystik, sondern strebten eine grundlegende Reform der verdorbenen Kirche an, einschließlich des leeren Intellektualismus der Universitäten. Ihr Streben nach Erkenntnis der Natur, nach einer Verwandlung der Elemente, war auf Erlösung gerichtet, der noch astrologische Berechnungen der Endzeit dienen sollten. Aus dieser Mischung von Empirie und Magie, Astronomie und Prophetie entstand aber kein ‚faustisches‘ Weltgefühl, und schon gar keine säkulare Geschichtsauffassung.

Auch Dante Alighieri († 1321), der von der päpstlichen Partei aus seiner Vaterstadt verbannte Dichter, griff in seiner Monarchia (nach 1316) die Herrsch- und Habsucht der Kurie an. Dabei unterschied er zwei eigenständige Bereiche mit irdischer und ewiger Glückseligkeit als jeweiliger Zweckbestimmung; für den ersteren, die civilitas humani generis, setzte er, die humanistische Verklärung des Menschen vorwegnehmend, den Maßstab, „in höchstem Grade eins mit seiner Art zu sein“. Diesem Leitbild entsprach der Begriff einer kumulierten menschlichen Gesamtvernunft und einer – Christen und Nichtchristen umfassenden – Weltmonarchie als deren legitimem Ausdruck. Die darin verwirklichte Konzentration von Willen, Vernunft und Gerechtigkeit verstand sich, wie bei Thomas, als irdisches Abbild kosmischer Ordnung, nicht etwa innergeschichtliche prognosis: Dante dachte nicht daran, die aristotelische Teleologie, die im Menschen angelegter Potenzen als säkularen Zukunftsentwurf der beatitudo vite eterne (sic) der Theologen gegenüberzustellen.29 Seine Vision des Weltstaats war auch nicht auf den Luxemburger Kaiser Heinrich VII. bezogen, sondern drückte das Ungenügen an der eigenen Zeit aus (Miethke). Dantes Comedia verknüpft dann Elemente christlicher Symbolik mit ptolemäischer Astronomie zu einer poetischen Hierarchie der Sphären. Wenn der politische Dichter die Großen der Vergangenheit und Gegenwart in die Hölle oder ins Fegefeuer versetzt, dann ist das ein literarisches Jüngstes Gericht, ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, aber auch ein Hinweis darauf, dass die Zukunft der Menschheit letztlich bei Gott liegt. Dantes Geschichtsziel ist die gereinigte Geistkirche, politisch beschützt vom Kaisertum; für die Dimension der Zukunft, ohnehin nur Anlass zur Selbstbesinnung, ist nach wie vor die Theologie zuständig. Doch sah sich diese zunehmend außerstande, neben dem Bereich des Glaubens und Sollens, auch den des Wissens und Könnens unter einen Hut zu bringen.

Die thomistische Synthese erwies sich zunehmend als brüchig. Sie wurde von weltlichen Unterströmungen angegriffen, aber, wie wir gesehen haben, auch von Franziskanern, denen die Intellektualisierung des Glaubens, als bloße Anerkennung einer Lehre, ein Ärgernis war: Wille, Glaube und Liebe waren für sie – neben mystischer Versenkung – grundlegender als der Verstand. Duns Scotus († 1308) wandte entsprechend gegen Thomas’ Vervollkommnungsgedanken ein, der Mensch sei keine perfectio naturae, keine Frucht natürlicher Vervollkommnung sondern eher ein defectus naturae, ein kontingentes Mängelwesen, dessen natürliche Erkenntnis- und Vervollkommnungsfähigkeit durch den Sündenfall getrübt ist. Die Natur war für ihn unlesbar geworden und besonders die letzten Wahrheiten – der ganz andere Gott – nicht rational deduzierbar: eine Absage an den latenten Humanismus der scholastischen Methode. Der Verstand übt keine zwingende Gewalt über den Willen aus, sondern bietet ihm nur Gegenstände zur Wahl. So verschiebt sich bei Duns auch das letzte Ziel des Menschen vom intellektuellen Schauen der Wahrheit hin zum willensmäßigen Streben nach dem Guten, damit zur biblischen Primat des Handelns.

Auch aus anderer Ecke kündigte sich Kritik am hochmittelalterlichen kirchlichen Selbstverständnis an. Ein die Welt und ihre Ordnungen anerkennendes, intellektuell abgesichertes, sich auf Sakramentalvermittlung und Seelenleitung konzentrierendes Christentum hatte die ursprünglichen Elemente radikaler Weltablehnung, apostolischer Armut und Liebesgemeinschaft ins Ordensleben abgedrängt oder, schlimmer, als anarchisch-sektiererisch verfolgt. Die gregorianische Revolution von oben hatte nicht gezögert, städtische Laien gegen einen „simonistischen“ bzw. verheirateten Klerus zu mobilisieren; angesichts einer vor den radikalen Folgen zurückschreckenden restaurativen Kirche drängten die geweckten Energien, wie schon gesagt, über die päpstlichen Reformziele hinaus. Katharer, Waldenser, Albigenser mussten für ihr Reinheits- und Brüderlichkeitsstreben blutig büßen. Der Kompromiss der Anstaltskirche mit der Staatsgewalt, mit rationalem Recht und Geldwirtschaft, in Bedingungen einer sich differenzierenden städtischen Gesellschaft, musste den Graben zur überschaubaren, auf Naturalwirtschaft beruhenden Nachbarschaftsethik immer tiefer werden lassen.

Scholastische Rechtfertigungen einer in weltliche Händel und städtische Wirtschaftsformen verstrickten Kirche mussten entsprechend auf Unverständnis und schroffe Kritik stoßen: Das hektische Wachstum der Städte und der Luxus der Oberschichten waren kaum mehr als Fortschritte des Gottesreichs, auch nicht als Stärkung einer christlich organisierten Kultur, vermittelbar. Das in Bedingungen einer prinzipiell friedlichen Gewerbestadt herausgebildete Laienchristentum neigte, insbesondere in seinen unteren Schichten, zum Protest gegen die verweltlichte Kirche und zum Rückgriff auf die Bergpredigt, sozusagen auf ein absolutes Naturrecht des vorstaatlichen Zustands. Zur Skepsis gegenüber den Sakramenten aus der Hand unwürdiger Kleriker kam die Verwerfung von Zehnt, Eid, Gewalt und Krieg.

In der Gestalt joachitischer Visionen erhielt dieser Protest eine besonders explosive eschatologische Legitimation. Joachims von Fiore († 1202) eigenes Jahrhundert schien von Verfall und Untergang geprägt, während das Zukunftsbild des Mystikers und Zisterzienserabts aus Kalabrien die unmittelbar bevorstehende Ordnung des heiligen Geistes umso heller erstrahlen ließ. Seine von der Offenbarung Johannis ausgehende Deutung gelangt zu einem umfassenden, trinitarisch angelegten Geschichtsschema, wonach sich die Welt durch das Heilsgeschehen stufenweise progressiv verändert – vom Gesetz des Vaters, der Furcht und der Mühe, über die Zucht und das Stückwerk einer sapientia ex parte der Kirche des Sohnes, bis hin zum hereinbrechenden Zeitalter der Freiheit, der plenitudo intellectus, der Kontemplation im Zeichen des Geistes.

Die Fülle der Zeit (Gal.4, 4) liegt somit nicht in der Vergangenheit, die, wie Johannes der Täufer, nur allegorisch über sich hinausweist, sondern in der Zukunft. Nüchterne Wissenschaftshistoriker (J. Delvaille) stellen fest, derartige Spekulationen seien wertlos und ohne Einfluss auf den Fortschritt des menschheitlichen Denkens geblieben. Doch solche Fehlurteile übersehen die Brisanz der joachitischen Visionen, die vor allem in der vorwegnehmenden Entwertung der kirchlichen Autoritäten, Hierarchien und Sakramente durch die Künder des kommenden Dritten Reiches bestand. Ein neuer Mönchsorden und ein novus dux, die Schrittmacher der kommenden Ordnung, ließen sich auf tatsächliche Personen der Gegenwart (Friedrich II.) beziehen und das Zeitalter der Liebe und Freiheit als unmittelbar bevorstehend in die eigenen Hände nehmen.

Gleich, ob die Prophezeiung primär und die Verurteilung der misslichen Gegenwart von der Erwartung ihres baldigen Endes abgeleitet war, oder aber das Unvermögen, die Verhältnisse zu verändern, nur verzweifelte Zuflucht suchte in der Berufung auf ein apokalyptisches Ende: Das Unbehagen an einer krisenhaften Zeit spitzt sich zu und der rationalen Begrifflichkeit der Scholastik droht der Verlust der Deutungshoheit. Hatte sich schon in der franziskanischen Bewegung ein Primat des Willens und Glaubens angekündigt, so nahm die Frömmigkeit des 14. Jahrhunderts immer häufiger Formen eines mystischen Enthusiasmus an. Theologia non est scientia propre dicta, die Theologie ist keine strenge Wissenschaft, erklärte der Oxforder Franziskaner William Ockham († 1348); nicht allein Gottes Allmacht lässt sich mit den Mitteln menschlicher Vernunft nicht erfassen, den menschlichen Begriffen entsprechen überhaupt jenseits der Einzeldinge keine „Universalien“. Die Unangemessenheit unserer Kategorien gegenüber Gott sollte nicht als Willkürlichkeit dessen Handelns verstanden werden, dennoch brach der Gedanke der Kontingenz aller Ordnung mit der scholastischen Einheit von Glauben und Vernunft. Auch der Papst konnte nach Ockham irren, gar der gegenwärtige, „in ketzerische Verkehrtheit verfallene“ Johannes XXII.; christlichen Laien wird deshalb von Ockham das Notrecht eingeräumt, aus Glauben und Willen heraus für eine Rückführung der verweltlichten Kirche auf das ursprüngliche Ideal zu sorgen. Die Sache Gottes ist nicht ausschließlich Sache der Kleriker.

Das hatten französische Könige, wie Philipp der Schöne, nach 1300 mit der Demütigung des Papstes und der von seinen Legisten gerechtfertigten Vernichtung des reichen Templerordens vorweggenommen, wenn auch ohne Absicht einer Kirchenreform im Sinne der Franziskaner. Der Streit wiederholte sich nach 1324 um die franziskanische Armutsauffassung, und führende Ordensgeistliche mussten Schutz am Münchener Hof Ludwigs des Bayern suchen. Aber auch den Königen ist nach Ockham nur in Dingen zu gehorchen, die dem allgemeinen Wohl dienen: die Herrschaft über Menschen ist, ebenso wie die Eigentumsordnung, das Ergebnis menschlicher Entscheidungen, und an der Erfüllung ihrer Aufgaben zu messen, also im Notfall widerrufbar: Kraft Naturrecht sind Könige absetzbar und auch das Eigentum nicht sakrosankt. Überhaupt argumentiert Ockham äußerst ‚modern‘: weder lässt es die Würde des Menschengeschlechts zu, dass freie Menschen wie Sklaven behandelt werden, noch sollten die Gelehrten das Wort Gottes verschweigen, es sei denn, sie werden zu canes muti non valentes latrare – stumme Hunde, die nicht bellen können (Miethke). – Spätestens seit dem Schwarzen Tod (1348/49), dem auch Ockham zum Opfer fiel, mit dem Verlust von etwa 30 % der Gesamtbevölkerung des Kontinents, schlug das Gleichgewicht und das Selbstvertrauen des Hochmittelalters in Angst vor dem bevorstehenden großen Strafgericht um.

Auch die Universitäten bildeten keine Ausnahme; alles andere als Inseln selbstgewisser Rationalität, wurden sie von der Krise des Spätmittelalters voll erfasst. Ihre Aristokratisierung und Privilegierung förderten Verknöcherung und das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis; die aufkommende Tendenz zur Verunglimpfung von Wissenschaft ließ einzelne naturwissenschaftliche Erkenntnisse (Buridan, Nikolaus von Oresme) folgenlos bleiben. Beim Jüngsten Gericht wird man euch nicht fragen, was ihr wusstet, sondern was ihr tatet, und in der Hölle wird es keine Wissenschaft mehr geben, hieß es in einem Jean Gerson, dem Pariser Rektor und Hus’ Richter in Konstanz zugeschriebenen Buch. Allgegenwärtige Bilder von Totentanz und Teufel, begleitet von Flagellantentum und barbarischen Judenpogromen, sind erschreckende Zeugnisse einer Verunsicherung, die sich nicht zuletzt gegen die versagende Anstaltskirche, ihre Träger und Heilsmittel, wandte.

Im Unterschied zum verbreiteten Nominalismus, wollte der Oxforder Neuplatoniker John Wyclif († 1384) in den ewigen Ideen die wahren Dinge sehen, letztlich unmittelbare Emanationen Gottes. Sie waren aber nicht dazu bestimmt, in Kontemplation geschaut, sondern Vehikel einer scharfen Gesellschafts- und vor allem Kirchenkritik zu werden. Die Verhältnisse werden auf diese Weise mit einem utopischen, sozusagen aus dem ‚Naturrecht vor dem Sündenfall‘ abgeleiteten Gottesgesetz als absoluter Norm konfrontiert. Wyclifs Prädestinationslehre, die die Kirche als Gemeinschaft der zur Erlösung Vorherbestimmten verstehen wollte, relativierte mit den Sakramenten mehr oder weniger konsequent die gesamte Institution; die Priester sollten, freiwillig oder vom Landesherrn gezwungen, zur apostolischen Armut der Urkirche zurückkehren. Aber auch die weltlichen Berufe standen in seinen Augen unter dem für alle gültigen Gesetz der Liebe. Die formale Rückwärtsgewandtheit der Kritik am weltlichen Fortschritt öffnet in der Lebenswirklichkeit den Horizont für eine neue Zukunftsorientierung – als Verinnerlichung des einzelnen, als Kirchenreform und Forderung einer Versittlichung der gesamten Gesellschaft. Das Gesetz Gottes, scheinbar aus archaischer Vergangenheit herbeigeholt, wird zum verbindlichen, prophetischen Leitbild.

In Böhmen vor allem fielen Wyclifs Lehren auf vorbereiteten Boden: Volkshäresien, die devotio moderna, die Kirchenkritik eines Matthias von Janov († 1393), ließen in einer Situation der weltlichen und kirchlichen Wirren auch die sichtbare Kirche als sündhafte, untaugliche Einrichtung erscheinen. Jan Hus’ († 1415) Angriff auf Amtsinhaber in Todsünde (nullus est dominus civilis, nullus est…episcopus, dum est in peccato mortaIi, es gibt keine weltlichen und keine geistlichen Herren in Todsünde), war mit dem Zusatz „digne“ versehen, also: kein Sünder ist würdiger Amtsinhaber. Das hieß, dass Hus das Gottesgesetz Wyclifs, anders als seine radikalen Anhänger, keineswegs als eschatologische, unmittelbare Handlungsanleitung interpretierte.

Die Untertanen sollten trotzdem selbst beurteilen dürfen, ob sie die Anweisungen ihrer Obrigkeiten als angemessen befolgen oder als falsch zurückweisen wollten – eine Radikalisierung der Lehren Ockhams.30 Hus’ Anhänger, in einer Situation allgemeiner Empörung und Unsicherheit, verstanden dies als Recht auf Ungehorsam und Widerstand gegen eine ihr Amt ‚gegen das Gottesgesetz‘ ausübende geistliche Obrigkeit; des Meisters Märtyrertod auf dem Konstanzer Scheiterhaufen hatte ja auch ein Beispiel für die Berufung auf Christus als höchste Norm gegeben.

Die in Hus’ Namen erfolgte Revolution der Gottesstreiter, die die böhmische Anstaltskirche zerschlug und die Kirchengüter einzog, folgte primär keinem säkularen Impuls. Die anfängliche eschatologische Erwartung des Gottesreichs, die den spezifischen Unterschied zwischen Priestern und Laien aufhob und den Heiligkeitsbegriff auf eine innerweltliche brüderliche Gemeinschaft übertrug, lebte vom heilsgeschichtlichen Auftrag. Die theokratische Utopie vom Gottesvolk, das dem Fortschreiten Gottes den Weg bahnen wollte, mündete, dem Gesetz aller Revolution folgend, in selbstermächtigte blutige Gewalt und Zerstörung. Die alte Kirche verlor aber in ihrem Abwehrkampf nicht nur die Deutungshoheit, sondern auch die Souveränität des Glaubens ans kommende Reich und konzentrierte sich zunehmend auf die Bewahrung ihrer institutionellen Machtstellung.

Das heilsgeschichtlich orientierte Denken des Mittelalters hatte sich vom zyklischen Zeitverständnis der Antike ebenso gelöst, wie von der Ausschließlichkeit der Raumordnungen samt deren ethnisch-kulturellen Begrenzungen. Mit der Frage nach Sinn und Wert des menschlichen Daseins entwächst der Mensch dem Mythos, dem Aufgehen in der Wirklichkeit (Hermann Cohen). Der Bezug auf die Erlösung durch Christus und die Erwartung einer kommenden „Fülle der Zeit“ schiebt über die sichtbaren Raumgenossenschaften eine unsichtbare universale Zeitgenossenschaft. Die Teilhabe an einer absoluten Zeit hebt die Entscheidungen der Realgeschichte als Letztinstanz auf und „entgöttert“ die Welt in einem befreienden Sinn31. Die weiterhin zyklisch bestimmten Erfahrungsräume verlieren dadurch nicht ihre bedingte Gültigkeit; umgekehrt muss sich die fortschreitende Zeit den raumgebundenen Lebensformen der Völker anpassen, muss ihre Freiheitsbotschaft in Begriffen der vergänglichen Ordnungen – und des antik-ontologischen Denkens – verständlich machen. Es entsteht ein Spannungsverhältnis sowohl zwischen weltlicher Herrschaft und den als unverfügbar empfundenen Geboten Gottes, als auch zwischen antikrationalem Anspruch auf Verstehen eines mystischen Geschehens und der Hoffnung auf absolute Gerechtigkeit und Freiheit.

Das irdische Geschehen ist aufgenommen in die Große Erzählung vom Fortschreiten des Gottesreichs, das aber von der herrschenden Kirche als schon anwesend gedeutet wird; die vielfältigen weltlichen Zwecke und Zwänge werden in einen übergreifenden Sinnhorizont einbezogen und geraten unter Rechtfertigungszwang, aber gelten auch als von Gott eingesetzt. Die Herrschaft der Kirche wird anderseits immer wieder an Freiheitsversprechungen gemessen, die sie verdrängt hat. Die Kirche ist auf die Welt angewiesen, sie hat keinen anderen Ort der Bewährung, sie nutzt sie für die eigene Machtstellung, oft skrupellos, und vergisst das Gesetz des Fortschreitens, unter dem sie einst angetreten war: Ihre Herrschaft wird zum Selbstzweck eines scheinbar schon erreichten Heils. Das erwartete Gottesgericht der Propheten und der Urkirche sowie die Ethik der Bergpredigt bleiben aber ein Stachel, der die Freiheit als hohen Wert bewahrt und die Welt als veränderungsbedürftigen Ort.

Aus weltlichen Lebensformen, politischem Ehrgeiz, antiken Traditionen schält sich im Hochmittelalter eine konkurrierende Ratio eigenen Rechts heraus, auch ein anderes Menschenbild. Die großen Städte erfordern technisches Wissen, abstrakte Rechts- und Wirtschaftsnormen, die mit der einfachen traditionellen Ethik im Widerspruch stehen. Das christliche Ethos hatte sich zu einem hohen Maß auf weltliche, zumeist antike Vernunft und säkulare Ordnungen eingelassen; was es dabei in zivilisatorischer Hinsicht gewann, hatte es zwangsläufig an Fähigkeit zu prophetischer Infragestellung des Bestehenden verloren.32 In einer Atmosphäre der Auflösung und gegenseitiger Verdächtigungen wandten sich von der verweltlichten Amtskirche einerseits die Befürworter evangelischer Armut ab, aber auch die am Gängelband gehaltene Laienkultur der Städte, der Höfe und des sich emanzipierenden weltlichen Wissens. Die ‚Raumgenossenschaft‘ des Territorialstaats, wie sie Marsilius von Padua († 1342) lehrt, bekämpft mit den weltlichen Gelüsten des Papstes auch die universale Zeitgenossenschaft der Heilsbotschaft: Frieden geht vor geistlicher Einmischung, lautete die Botschaft des Defensor pacis.

Doch war die neue Weltlichkeit, genau besehen, alles andere als eine authentisch „heidnische“, sondern eine durch nach-antike Impulse geprägte: die Hochschätzung menschlicher Arbeit und des Willens im weiten Sinn, auch das lineare Zeitverständnis, waren dem antiken Denken fremd gewesen, und nicht viel anders die providentiell auf den Menschen bezogene Naturordnung, überhaupt der auf menschliche Aktivitäten angewiesene offene Zukunftshorizont. Diese Elemente waren in der mittelalterlichen Gesellschaft noch eingebunden in statische Ordnungen, und eine weltliche Fortschrittsdynamik unvorstellbar. Aber sie waren durchaus vorhanden und sollten sich im neuzeitlichen Europa als Kraftquelle unterschiedlich geprägter Bewegungen bewähren.

Der Fortschrittsglaube

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