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II. BAUSTEINE DER MODERNE 3. Das Maß aller Dinge?
ОглавлениеWie bei dem Epochenwechsel zum Mittelalter ist die Heraufkunft der Neuzeit zunächst von krisenhaften Erschütterungen, Seuchen, Hungersnöten, Niederlagen, nicht zuletzt dem Niedergang des Papsttums, begleitet. Lorenzo Valla schloss seinen Traktat über die konstantinische Schenkung mit dem Wunsch einer baldigen Säkularisation des Kirchenstaats ab, und Battista Montovano, ein Zeitgenosse, stellte fest: „Käuflich sind bei uns Priester und Heiligtümer, Altäre und Gebete, ja der Himmel und Gott selbst.“ Die fragwürdig gewordene Institution konnte sich nur durch skrupellose Geld- und Machtpolitik erhalten.
Die andere universale Autorität des Mittelalters, das westliche Kaisertum, sah sich, trotz erfolgreicher Hausmachtpolitik der Habsburger, auf den Rang einer Macht unter Mächten reduziert; die Absage an die Reichsidee stützte sich auf eine stark säkularisierte Geschichtsschreibung, die ohne Wunder, Vorsehung und translatio-imperii-Gedanken auskam: Die Germanen hatten das Römische Reich nur überrannt, aber nicht fortgesetzt.
Jeder Epochenbruch erweist sich nachträglich als nur relativer. Auch das Weltbild der Neuzeit lebt stärker als zugegeben von einer Vielfalt an Traditionen und Impulsen, auch solchen, die ihre Protagonisten als einer gesunkenen, barbarischen Zwischenzeit zugehörig hinter sich zu lassen gedachten. Die Neuzeit steht im Zeichen der Selbstbehauptung der Vernunft, aber auch des menschlichen Willens, das Leben nicht nur zu ertragen, sondern selbst zu gestalten (Blumenberg): ein keineswegs identischer Doppelanspruch. Die Entsakralisierung der Realgeschichte und das Fehlen einer allgemeinverbindlichen Instanz musste zum Schluss gelangen, dass allein die menschliche Natur den Gegenstand lohnender Überlegungen bildet.
Tatsächlich war eine Vision des Menschen und der Natur – vom Göttlichen durchdrungene Substanzen – einer ganzen Generation neuplatonisch inspirierter Humanisten des späten 15. Jahrhunderts das eigentliche Leitbild. Sie hielten die Vorstellung vom Sündenfall und der Welt als Jammertal für lächerlich, die Gestalt des Prometheus wurde zu ihrem Paradigma. Platon hatte die Lehre des Protagoras vom Menschen als Maß aller Dinge für fragwürdig gehalten: das ‚maßloseste Wesen‘ könne nicht zur Norm erhoben und müsse strengen Regeln unterworfen werden. Der kreative Aufbruch eines stark säkularisierten Selbstbewusstseins strebte in Wirklichkeit eine Synthese an: Die klassische Gelehrsamkeit sollte nur auf neue Weise die Weisheit des Schöpfers demonstrieren.33
Die heilsgeschichtliche Perspektive war längst verblasst; die breite Präsenz einer säkularen Antike weitete sich zur Vorstellung eines alle Kulturen übersteigenden, sich universal manifestierenden Logos aus, der seine christliche Komponente nicht ganz verleugnen konnte. Die Philosophie hatte ihren dienenden Charakter abgestreift, aber die Philosophen wurden in der Regel von der weltlichen Machtraison vereinnahmt, ebenso wie die Teleologie der Geschichte von der Herrschaft des Zufalls. Ohne Förderung und Schutz eines starken Fürsten konnte die Arbeit der Humanisten, ebenso wie die der Maler, Bildhauer, Architekten und Erfinder, nicht gedeihen. Das Neue war aber gewissermaßen im ‚Schoß des Mittelalters‘ entstanden, das ja als eine Vielfalt betrachtet werden muss. Dem Nominalismus stellte sich die Wirklichkeit als kontingent und individuell dar: Alles Allgemeine sollte erst das Ergebnis menschlicher Abstraktion sein. Damit wurden auch die vorhandenen Ordnungen auf eine Weise relativ und hinterfragbar, gerieten in die Zuständigkeit praktischer Vernunft. Dieser Ansatz war nicht ganz zu Ende gedacht; in seiner Konsequenz führte er aus der Ordnung des Mittelalters heraus. Die verpönte intellektuelle Neugier, symbolisiert im ruhelosen Odysseus, ein schrankenloser Erkenntniswille, der nicht mehr zwischen Wissenswürdigem und Beliebigem unterscheiden wollte, hatte einen nur mehr instrumentalen Bezug zu den Dingen.34
Diesem Denken war eine unzweifelhafte Affinität zu dem weltlichen Lebensgefühl eigen, das vor allem von den oberitalienischen Stadtstaaten ausstrahlte, und das sich seinerseits in den Wertvorstellungen der antiken Stadt (und in der griechisch-römischen Profanliteratur) wiederzufinden glaubte. In den von Geldwirtschaft und Orienthandel bestimmten Kaufmannsrepubliken hatte man für Weltflucht und Endzeiterwartungen nicht mehr viel Sinn; die Bedeutung von Mittelalter als Provisorium vor dem Jüngsten Gericht verschob sich hin zu einer als ‚dunkel‘ empfundenen Zeit vor der glücklichen Wiederentdeckung des antiken Erbes. Entsprechend hielten wachsende Schichten schriftkundiger Laien, in Anknüpfung an antike Lehren, Cicero, Vergil, den 1417 wiedergefundenen Lucretius, die autonome Vernunft (als Bemühen um das Wohlgeordnete) und natürliche Moral für ausreichende Wegweiser. Dazu kam das römische Recht, das ausgehend von der Bologneser Rechtsschule, die komplizierter gewordenen innerstädtischen Verhältnisse regelte und durch objektives Recht konfligierende subjektive Rechtsansprüche einzudämmen suchte.
Im politischen Bereich war das Mittelalter gescheitert, aber hatte „Hebammendienste“ bei der Geburt der Neuzeit (H. Diwald) geleistet. Seit dem 14. Jahrhundert bildeten sich aus den Erschütterungen von Papstschisma und Hundertjährigem Krieg in gegenseitigem Konflikt die ‚nationalen‘ Identitäten Englands und Frankreichs heraus und lösten sich in ihrem Souveränitätsanspruch von kirchlich-kaiserlicher universalistischer Suprematie; ironischerweise übernahmen sie vom avignonesischen Papsttum eine der Ursachen des kirchlichen Ansehensverlusts – die effiziente juristisch-finanztechnische Zentralverwaltung. Ein bürgerlich besetzter einheitlicher Behördenapparat war der Schlüssel zu Ordnung, Macht und Reichtum, auch zur Konzentration von Architekten, Malern, Dichtern und Humanisten als notwendiger kultureller Repräsentation weltlicher Herrschaft. Dabei unterschieden sich die Renaissancepäpste in territorialem Machtstreben, Prunkentfaltung und Kulturmäzenatentum kaum von den übrigen Fürstenhöfen des 15. Jahrhunderts und blieben auch in Skrupellosigkeit nicht hinter diesen zurück.
Die Glaubenswerte, die Duns Scotus aus aristotelischen Wissensformeln befreien und auf menschliches Handeln orientieren wollte, gerieten durch diese Praxis in allgemeinen Misskredit bei den Gebildeten. Der Kult der Schönheit, neuplatonisch-byzantinisch als Emanation des Geistes, aber auch „zweite Offenbarung“ interpretiert und oft in Pantheismus übergehend, stellte das erhabene Weltall als vornehmsten Gegenstand der Erkenntnis in den Vordergrund und den Menschen als „Mikrokosmos“ in seiner Mitte: Gott als ‚letzte Ursache‘ wird als auf eine Weise zum Künstler. Schönheit sollte mit einem Kunstensemble Askese und dogmatischen Streit begraben, wohl auch kompensatorisch mit einer heiteren symbolischen Kulisse zudecken. „Der Katholizismus war selbst zur Kunst geworden“ (Durant).35 Das war eine Übertreibung, aber nicht ganz falsch. Die begrifflich-analytische Scholastik wurde als unangemessenes Werkzeug der Weltorientierung empfunden; Kunst und Poesie schienen diesem adäquater zu sein, ja die Theologie mochte selbst zur Poesie herabgestuft werden. Niemand lügt mehr über das Göttliche, erklärte Marsilio Ficino († 1499), als wer es mit genauem Maß misst – was aber die Scholastik zu tun versuchte. Der Mensch, ein „deus in terris“, solle aufhören, seiner eigenen Göttlichkeit zu misstrauen, empfahl der Begründer der platonischen Akademie im mediceischen Florenz. Der Mensch ist im Sinn des populären Mythos des Protagoras nicht nur imstande, die Welt nach seinem Maß zu messen und nachzubilden, sondern kunstreich zu beherrschen. Nicht nur Künstler, auch Kaufleute, Bankiers und Soldaten können Träger schöpferischer Tätigkeit sein: die vita activa wird der mönchischen vita contemplativa vorgezogen.
Der Horizont der Zeit hatte sich zweifellos erweitert – um den Preis, dass sich Raum und Natur als Leitbilder über die mittelalterliche zeitliche Erwartung des Gottesreiches schoben; der Raum, der für Maler, Wissenschaftler und Architekten der Renaissance im Zentrum ihrer Tätigkeit stand, ersetzte den hierarchischen Kosmos schließlich in Form eines leeren, unendlichen und homogenen geometrischen Netzes (Patočka), was sich auch bei der Formulierung der mathematischen Prinzipien der Mechanik als fruchtbar erweisen sollte. Es war keine zufällige Parallele, dass in der Lebenswelt der Renaissancemetropolen die Beherrschung von Raum, neben leiblichen und ästhetischen Genüssen, die Orientierung am kommenden Heil und das Sündenbewusstsein verdrängten.
Der Kardinal-Philosoph Nikolaus von Kues († 1464), Gegner des Aristotelismus und Vorreiter einer mathematisierten einheitlichen Naturlehre, wollte in der Zunahme rationaler Erkenntnis einen Fortschritt, doch Fortschritt im Nicht-Wissen, docta ignorantia sehen. Der Verstand ist fürs Zähl- und Messbare zuständig, für das Abgrenzen und definierende Begreifen. Nur in der Rückwendung auf sich selbst findet der Mensch ein Kriterium, das mit dem unzugänglichen Absoluten, dem unendlichen Deus absconditus, zwar noch keine Ähnlichkeit besitzt, aber doch ein Spiegel des Universums ist: der Mensch, ein Mikrokosmos, ist eben deshalb der Schlüssel der Erkenntnis.36 Die Renaissance ging mit dem Neuplatoniker Pico della Mirandola († 1494), der 1486 ein Philosophenkonzil zur Versöhnung aller Konfessionen und Denkrichtungen abhalten wollte, einen Schritt über Cusanus hinaus, in Richtung einer Vergöttlichung der menschlichen Natur, Vernunft und Schöpferkraft: „Du, durch keine Beschränkung eingeengt, sollst dein Wesen bilden nach freiem Ermessen“. Im Menschen ist die gesamte Welt – als Möglichkeit rationaler Erkenntnis und Beherrschung, wie künstlerischer Nachbildung – enthalten; noch die Entdeckung der Zentralperspektive unterstreicht die Wahrheit des menschlichen Auges. Das Goldene Zeitalter des mediceischen Florenz und mit ihm konkurrierende Zentren der Bildung sammelte besessen antike Handschriften und kanonisierte die Maßstäbe der Alten, doch war die Wiedergeburt der Antike, und mit ihr des zyklischen Zeitverständnisses, keine bloße Verklärung der Vergangenheit, sondern ein regenerierender Griff nach vermeintlich überzeitlich gültiger Vollkommenheit.
Und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns (Schiller).
Das könnte bedeuten, dass im Bewusstsein der Renaissance, trotz aller Begeisterung der Humanisten, im Grunde kein Fortschritt stattfindet, sondern man sich nur auf halbvergessene frühere Höhen zurückbesinnt. Das Studium der Alten war aber letztlich kein Selbstzweck, sondern nur eine Stütze für die neue, noch unsichere Subjektivität und Ich-Bewusstheit (auch für die neue italianità). Der Mut zu sich selbst, die Freiheit als Lebensform, wie sie die Humanisten proklamierten, bedurfte der Absicherung, gegebenenfalls einer ‚Wiederkehr der Transzendenz mit Hilfe immanenter Faktoren‘ (Münkler).
Es sollte eben kein sklavisches Konservieren des vor tausend Jahren Erkannten und Erreichten sein, hatte schon Petrarca († 1374) verkündet: „Niemals wird scharfsinnigen Geistern der Weg zur Erforschung neuer Dinge versperrt sein“. In Kenntnis der Klassiker gelte es, „inaccessa tentare“ (Unversuchtes erproben). Von ihm stammt die Trias Altertum-Mittelalter-Neuzeit, eine Verlegenheitseinteilung, die sowohl die christliche Endzeiterwartung als auch die Lehre von der Abfolge der Weltreiche verdrängte. Der Brückenschlag über das ‚Dunkelzeitalter‘ hinweg zu den unübertroffenen klassischen Vorbildern schien wie gesagt der Entwicklung einer authentischen Fortschrittsidee im Wege zu stehen: Nur weil sich im Grunde alles wiederholt, ist gültiges Begriffsdenken, ist auch Wissenschaft möglich: „Wer also sorgfältig die Vergangenheit untersucht“, führt Niccolò Machiavelli († 1527) aus, „kann leicht die zukünftigen Ereignisse in jedem Staat vorhersehen und dieselben Mittel anwenden, die von den Alten angewandt wurden“ (Discorsi I). Machiavellis Politikverständnis ist scheinbar moralfrei und „naturgeschichtlich“-zeitlos, technisch:37 bewaffnete Propheten siegen, waffenlose werden gekreuzigt; Grausamkeiten sind nützlich, wenn sie wohlüberlegt Ruhe schaffen, aber unzweckmäßig, wenn sie nur weitere Grausamkeiten nach sich ziehen; Furcht vor Strafe ist sicherer, als Vertrauen in Pflichtgefühl; ein unumgänglicher Krieg ist auch ein gerechter; der gewissenhafte Herrscher geht unter, weil die Menschen böse sind.
Das entsprach etwa Thukydides’ pessimistischer Anthropologie des Bürgerkriegs und einem Menschenbild, das vor allem von Machttrieb und Furcht bestimmt wird („…dass alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht“); entsprechend ist der Zweck politischer Macht die „technische“ Beherrschung des Schicksals, insbesondere in der Form menschlicher Unbeständigkeit. – Die Wiederherstellung politischer Tüchtigkeit war aber eine schwerere Aufgabe als die Übernahme antiker künstlerischer Maßstäbe. Machiavellis Therapie bestand in der versittlichenden Wirkung des Milizsystems: der Bürger-Soldat lernt, weniger auf sein Privatvorteil zu achten, wie auf das Gemeinwohl. Machiavellis pragmatische Geschichtsschreibung lehrt, dass Geschichte reines Menschenwerk ist und weder göttliche Eingriffe noch providentialistische Heilspläne darin vorkommen. Der Einfall der Franzosen in Oberitalien 1494 ist eben kein Zeichen von Gottes Zorn über Sittenverderbnis der Italiener – wie ihn Savoraloa deutete –, sondern die Aufforderung, aus immer wiederkehrenden analogen Problemlagen zu lernen und entsprechend zu handeln.
Machiavellis Rückgriff auf die Antike war eine verständliche Reaktion nicht nur auf die verworrene Lage Italiens um 1500, sondern auch auf den Niedergang platonisch-christlicher Politikauffassung als Ordnung der Gerechtigkeit und Erziehung zum Guten: Diese war gerade von der verweltlichten Anstaltskirche zum bloßen Aushängeschild weltlicher Machtpolitik degradiert worden. Aber die Entdeckung der vita activa und die Ablehnung in sich gekehrter Askese war nicht unchristlich; umgekehrt konnte die „Wiedergeburt der Antike“ ein partielles Missverständnis sein, wenn der Mensch als Maß aller Dinge in keinen lebendigen Kosmos im griechischen Verständnis eines umfassenden Ordnungsgefüges mehr eingebunden, sondern auf sich selbst gestellt war.
Der Drang, das Leben in seiner Einmaligkeit zu ergreifen, führte, zumindest bei vielen Humanisten, zu ständiger Beschäftigung mit sich selbst, zu Selbstbeobachtung, wenn nicht selbstverliebter Ich-Pflege, jedenfalls zum Rückzug ins Subjektive und Private. So versammelt Petrarca die großen Alten um sich, um der erbärmlichen Wirklichkeit der eigenen Zeit zu entgehen. Man beschwört eine Welt der Freiheit, der Toleranz und des Friedens, sucht in Sprache und Literatur eine geistige Heimat, die ein Kontrastbild zur Beschränktheit und Barbarei der äußeren Wirklichkeit darstellt.
Auch die neuen Formeln, die das präzisere Verständnis der Natur versprechen, lassen den Menschen nicht mehr, wie noch bei Cusanus, als Glied des Universums durch ständiges Vorwärtsschreiten an Gottes schöpferischem Tun, seiner creatio perpetua, teilhaben. Es sind Instrumente zur Beherrschung eines begrenzten Raums, mit denen der Mensch seinem Schicksal, der ‚unbegreiflich flüchtigen Zeit‘, trotzt. Von der eschatologischen Zukunftserwartung ist nur die Entschlossenheit geblieben, durch die Beherrschung dieses bestimmten Raums den Zufall zu meistern; der Wille, die Verhältnisse so zu formen, wie der Bildhauer die Statue: „Gott will nichts Ungeformtes“ (Ficino). Sofern in der entsakralisierten Welt noch Gott eine Rolle spielt, beraubt er die Menschen weder ihres freien Willens, noch des Anteils am Ruhm. Das Glück ist mit den Tapferen (virtù bedeutet: männliche Durchsetzungskraft gegenüber der Fortuna); ‚Schicksal‘ ist keine providentiale Kraft, sondern die Chance, einen vorhandenen Stoff nach eigenem Willen zu formen: die Lehre des Principe (1513).
Dem ist allenfalls hinzuzufügen, dass der uomo virtuoso, der Heros, der dem Chaos das Gesetz aufzwingt, auf den augenblicklichen Zustand der Herrschaft im ständigen Kreislauf von Ordnung und Unordnung, Verfeinerung und Degeneration, Rücksicht nehmen muss, weil er sonst das falsche politische Instrument einsetzt. Römische Gesetze auf veränderte Verhältnisse anzuwenden, lehrt auch Guiccardini, hieße einem Esel die Gangart eines Pferdes beizubringen. Im Fall des Niedergangs eines Staates kann man diesen nur verzögern, denn in der Geschichte herrscht letztlich die necessità, nicht völlige Gestaltungsfreiheit (Kersting).
Dem Paradigma des aktiven Eingreifens auf der Basis unwandelbarer Naturgesetze entspricht idealtypisch das Werk des vielseitigen Genies Leonardo da Vinci († 1519). Getrieben von unbändiger Neugier und Tatkraft, wendet sich der große Maler, Bildhauer, Ingenieur, Baumeister und Erfinder ohne humanistische Schulbildung, Verächter von „Trompetern und Rezitatoren der Werke anderer“, dem Studium des Buchs der Natur zu. In den Diensten der Mailänder Sforza, Cesare Borgias, Franz I. von Frankreich, entwirft er Schleusen, Kanalbauten, Wasserleitungen, Brücken, Gewölbe, Befestigungen, Kriegsgeräte, Heizungsanlagen – immer auf der Suche nach praktischer Nutzung mathematisch formulierter Gesetze der Natur. Obwohl ganz Kind seiner Zeit, ist die volle Tragweite von Leonardos titanischem Werk erst späteren Generationen bewusst geworden.
Die Wesensbestimmung des Menschen durch weltliche kreative Tätigkeit, wird rhetorisch als Abglanz göttlicher Schöpferkraft apostrophiert, ist aber letztlich eine Leistung aus eigenem Recht. Die Würde, die dem Menschen durch die Gestaltung der Dinge nach ewigen Maßstäben der Harmonie zukommt, wertet das Diesseitige und Sinnliche über den Bereich der Kunst hinaus auf und entwirft die spezifisch neuzeitliche Idee des Menschen als Schöpfers seiner selbst. Später wird man das Titanische der neuzeitlichen Existenz auf die Formel bringen, die Prophezeiungen des Menschen erfüllten sich, indem er „die Begebenheiten selber macht“. Es kommt keine präexistente Zukunft auf uns zu, sondern wir gestalten einen leeren Zeit-Raum mit unseren Verwirklichungen.
Das war – ganz abgesehen von der Qualität der Prophezeiungen – eine radikale Wendung, die die psychologisch schwer erträgliche Position durch heilsgeschichtliche Konstruktionen und mehr oder weniger säkulare Teleologien kaschieren musste. Uns wird insbesondere die Wiedereinführung einer sinnvollen Zeit, einer Vorsehung, als Kontrast zur blinden Krisengöttin Fortuna, interessieren. Parallel zur Entchristlichung der Weltbilder mit Hilfe einer wiederbelebten Antike kommt somit auch das entgegengesetzte Bedürfnis nach Re-Sakralisierung auf, sei es unter Rückgriff auf das Evangelium, das Naturrecht oder das Gottesgesetz als unmittelbare Handlungsanweisung. Es ist eine Bewegung, die seit dem Spätmittelalter immer wieder die Kompromisse der verweltlichten Kirche mit Macht und Luxus radikal verworfen hat. Die expandierende Wirtschaft und der sie begleitende Triumph der Wissenschaften und Künste war von Selbstherrlichkeit und Rationalitätsvertrauen durchdrungen, ruhte aber auf einer von Irrationalität, Unsicherheit und Zufall geprägten Lebenswelt. Sie mochte deshalb als unzulässige Kalkulierung des Unkalkulierbaren, ja als Herausforderung des Schicksals erscheinen.
Auch die damit verbundene Monetarisierung aller Beziehungen und Werte, verstärkt durch die unverständliche Abstraktion des Geschäftsverkehrs von Moral, konkreten Menschen und sogar Produkten, musste Protestbewegungen provozieren. Die neue Trias „Kapital, Kunst und Macht“ hatte auch in den immer noch florierenden oberitalienischen Handelsmetropolen keine Mehrheit zu Profiteuren des neuen Reichtums gemacht. Die Folgen des Aufschwungs waren eher polarisierend und ließen breite Mittel- und Unterschichten, vom weltlichen Humanismus nur oberflächlich geprägt, anfällig werden für fundamentalistische Fortschrittskritik. Das Neue Jerusalem Savonarolas († 1498), eine von Luxus, Frivolität und Parteienhader befreite geschlossene Kommune, wollte die plausible Behauptung widerlegen, ‚die Staaten ließen sich nicht durch Vaterunser regieren‘, und durch eine totale sittliche Erneuerung dem Zeitgeist Paroli bieten.
Savonarola beeindruckte Zeitgenossen, wie Botticelli, der seine Bilder mit heidnischen Motiven verbrannt haben soll; trotz einiger Ähnlichkeiten mit dem puritanischen Sittenregiment Calvins war die „Herrschaft Christi“ in Florenz aber wenig geeignet, zur Herausbildung einer tragfähigen Ordnung beizutragen. Savonarola war, sowenig wie andere Reformatoren, Vertreter humanitärer sozialer Reformbestrebungen. „Das Seelenheil und dies allein war der Angelpunkt ihres Lebens und Wirkens.“ (Max Weber).
Auch Martin Luther († 1546) gehörte in manchem einer statisch-vormodernen Lebenswelt an, ja auf eine Weise griff er in seinem alttestamentarischen prophetischen Pathos gegen die kommerzialisierte und ästhetisierte Kirche noch hinter das Mittelalter zurück. Luther hielt an der Herrschaft einer geistlichen Autorität ebenso fest, wie an einer stabilen Ständeordnung, und verwarf nicht nur die autonome Vernunftethik der Humanisten, sondern schon den freien Willen der „semipelagianischen“ Scholastik, ja verfocht sogar noch die mystische Realpräsenz von Fleisch und Blut Christi beim Abendmahl. Aber subjektives Wollen und reale Wirkung klaffen bei Luther besonders weit auseinander: Aus dem Versuch einer Wiederherstellung des ursprünglichen eschatologischen Christentums entstand in vieler Hinsicht Neues. Die Reformation stellte die sakraments- und wahrheitsverwaltende Anstaltskirche radikal in Frage; sie hatte sich ‚zu häuslich in der Welt eingerichtet‘ und sozusagen Eschatologie mit Hierarchie verwechselt. Dagegen bestand Luther auf dem unbedingten Jenseitscharakter des Gottesreichs. Seine Vorstellung war ursprünglich eine reine Schrift- und Predigtkirche, die ausschließlich auf die Verkündung des Wortes ausgerichtet war, auf „Botendienst für das in Anbruch begriffene regnum Christi“ (D. Braun). Deren äußere Ordnung unterlag aber bloßen Zweckmäßigkeitsüberlegungen, konnte also unter Umständen von Laien als ‚Notbischöfen‘ bestimmt werden.
Machiavelli hatte der Kirche vorgeworfen, dass ihre Ethik des Duldens und ihre Geringschätzung der irdischen Dinge die Realgeschichte den Schurken ausgeliefert habe. Luther verlagerte das centrum securitatis von der Kirche mit ihren Lohn- und Strafrechnungen, die die Sünde zur ‚monetär tilgbaren Lässlichkeit‘ reduzierten, ins Einzelgewissen. Sein radikaler Individualismus wollte dabei auf keinen Fall die Gewissensinstanz autonom erklären: Seine Kriterien waren vorgegeben und das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, wie Müntzer und die aufständischen Bauern, hieße die Evangelisch freyheytt missbrauchen. Der im Grunde pessimistisch aufgefasste Mensch ist also für ihn alles andere als das Maß aller Dinge; das individuell-Besondere bleibt als Abweichung eine mögliche Bedrohung der normativen Ordnung (M. Sonntag). Luthers Entwertung der mönchischen Weltflucht war aber zumindest insofern Weltbejahung, als er diese Welt als gottgegebenen Boden interpretierte, auf dem sich der Mensch zu bewähren hatte; in Ernst Troeltschs Worten: „mitten in der Welt das Herz von der Welt befreien“.
Luther verwarf zwar die nach-konstantinische verweltlichte Kirche samt ihrer ‚heidnisch verunreinigten‘ rationalisierten Theologie, aber hielt im Prinzip an der Idee der Einheitskirche fest. In ihrer äußeren Auflösung wollte er ein Zeichen des beginnenden apokalyptischen Endkampfes sehen, somit waren die protestantischen Landeskirchen ein bloßes Provisorium. Völlig außerhalb seines Denkens lagen die realgeschichtlichen Folgen seines Handelns, etwa dass mit der verdorbenen päpstlichen Institution nicht allein eine Klammer der Christenheit verloren ging, sondern auch eine mögliche zwischenstaatliche Schiedsinstanz, und die souveränen Territorialstaaten erst damit ihr Eigeninteresse zur obersten Richtschnur erheben konnten. Dies bestritt Luther energisch, ja stellte weltliche Fürsten, die „meynen, sie mügen thun und gepieten yhren unterthanen was sie nur wollen, in Aussicht, sie würden scheytern gehen mit bischoffen, pfaffen und münchen, eyn bube mit dem andern“. Dem weltlichen Regiment wies er die einzig legitime Aufgabe zu, es solle als „remedium naturae corruptae eusserllch frid schaffen und bösen wercken weren“.38 Dem universalen kaiserlichen Anspruch und seiner sakralen Funktion war nun jede Grundlage entzogen und das Reich zum Staat der Deutschen geworden – bestenfalls aufgewertet durch einen bildungsgeschichtlichen Fortschritt der translatio imperii et studii.
Zu den unbeabsichtigten Folgen von Luthers Revolte zählte, trotz Ablehnung des Heilswerts menschlicher Werke, die Auffassung des Berufs als vocatio, eine Art Selbstverleugnung des Menschen im Dienst, als verselbständigter Impuls bei der Entstehung eines modernen Ethos. Die Alltagsarbeit wurde auch von Luther als sittlich indifferent und bloßer Bestandteil innerweltlicher Pflichterfüllung begriffen; traditionalistisch verurteilte er alle Versuche, sich der göttlich verfügten Ordnung zu entziehen: ein jeder bleibe bei seiner ‚Nahrung‘. Es war aber lutherisch, in der Arbeit ein Stück Gottesdienst zu erblicken. Dadurch erhielten Fleiß und Pflichterfüllung eine Prämie, die der Armut umgekehrt verlorenging.
Der Nachdruck auf Verstehen des Gottesworts, auf religiöses Wissen, unterstrich in ungewollter Parallele zur Scholastik den Stellenwert des Verbalen und Schriftlichen gegenüber dem ästhetischen Renaissance-Katholizismus. Es schien sich der Sieg einer schreibenden, lesenden, druckenden, literarischen docta pietas abzuzeichnen, Triumph der Philologie über die Welt der Bilder und Wunder. Ohne die Geborgenheit im Gehäuse ritueller Entlastungen und kirchlich garantierter Dogmen fehlte einer lutherisch geprägten Kultur etwas von der Selbstverständlichkeit der traditionellen Lebenspraxis. Es entstand die typische protestantische Unruhe aus Überforderung und die ständige individuelle Selbstbeobachtung, eine nervöse Suche nach Rechtfertigung, Sinn und innerweltlicher Transzendenz.39
Die absolute Trennung von Gott und der Schöpfung, die Infragestellung der alten kirchlichen Autoritäten, trug längerfristig auch hier zur Entstehung eines säkularen Weltbilds und der Verselbständigung von Erwerb und kritischer Wissenschaft bei. Zwar verurteilte der ältere Protestantismus die Aufwertung des Erwerbslebens zur ‚Werkheiligkeit‘, legitimierte jedoch das weltliche Berufsleben als Bändigung der sündigen Triebe durch Arbeit. Nicht alle „modernisierenden“ Elemente im Luthertum kamen gleich zum Zuge; oft überwogen erst die konservativen Tendenzen. Schon aus praktischen Gründen der Selbstbehauptung geriet etwa in den Vordergrund eine affirmative Haltung zum entstehenden Territorialstaat als patriarchalischer göttlicher Einrichtung und Schutz der Ordnung. Luthers christlicher Individualismus blieb erst einmal „in die Tiefen der Gesinnung versenkt“ (Troeltsch).
Was der Epoche an eschatologischer Zukunftsausrichtung verloren ging, das floss über in Breitenwirkung, eine Revolution des mittelalterlichen Horizonts. Die kleine mittelmeerzentrierte Welt hatte sich seit den portugiesischen und spanischen Entdeckungsfahrten (1488, 1492,1498,1521) nicht einfach erweitert, sondern fundamental verändert; eine Raumrevolution sprengte die bisherigen Grenzen und veränderte total die bisherigen Vorstellungen von der Welt. Auch durch die osmanische Blockade der Handelswege durch die Levante wurde das Mittelmeer mit seinen Handelsrouten und Kulturzentren zugunsten der Atlantikhäfen degradiert. Kolumbus hatte den Indios sagen lassen, die Spanier kämen vom Himmel und seien auf der Suche nach Gold. Das zweite traf gewiss zu, aber der Himmel war zumindest subjektiv mehr als nur spirituelle Selbstermächtigung. Das Doppelmotiv ist jedenfalls von hoher Symbolkraft: die Gier der Konquistadoren nach Edelmetallen, die zum Untergang der indigenen Kulturen führte und auch die Sozialstrukturen Europas revolutionierte, war vom Glauben begleitet, das verlorene Paradies erreicht zu haben. Der Fortschritt hatte auf paradoxe Weise sein Paradigma gefunden.
1560 betrug die bekannte Erdoberfläche das Vierfache des Orbis terrarum im vorausgegangenen Jahrhundert. Ein unbegrenzter Horizont eröffnete sich den Seefahrern und Kaufleuten, ebenso wie dem zeitgenössischen Wissen. Der Anatom Vesalius, dessen Hauptwerk im selben Jahr 1543 erschien, wie das des Kopernikus, brach mit seinen durch Sektionen erworbenen Kenntnissen die Vorherrschaft Galens in der Medizin, und Petrus Ramus, der später in der Bartholomäusnacht ums Leben kam, verteidigte an der Pariser Universität die These, was immer Aristoteles gelehrt habe, sei falsch. Das galt dem Aristoteles der Scholastik und war schon lange ein Gemeinplatz der Theoretiker – obwohl Aristoteles manchmal noch spanischen Eroberern als Autorität dienen musste, um die Versklavung der Ureinwohner zu begründen: Naturgemäß herrscht der Vollkommene über das Unvollkommene, die Seele über den Körper, die Vernunft über den Trieb, die Form über die Materie.
Nicht die kontemplative Betrachtung der ewigen Wahrheiten und auch nicht die schrittweise Annäherung an die perfectissima humanitas des Anfangs (und Endes) der Schöpfung galten jetzt als menschliche Bestimmung. Der Imperativ der Neuzeit lautete, dem Chaos des Ungeordneten und Kontingenten Gesetze und Entwürfe praktischen Handelns aufzuzwingen – im Horizont einer immer vollständigeren Indienstnahme des ‚Niemandslands‘ durch den Menschen. Diese Perspektive konnte ihre Legitimität sehr wohl aus dem biblischen Gebot ziehen, sich die Schöpfung untertan zu machen, und ein Rest davon war bei allem praktischen Amoralismus der Conquistadoren ein mehr als nur verbaler Impuls geblieben. Das galt in Bezug auf die Unterwerfung überseeischer „Naturvölker“, die sich auf den Bekehrungsauftrag berief und die eigene waffentechnische Überlegenheit als empirische Bestätigung empfand.
Die europäischen Humanisten waren weniger sicher, ob sie das Neue als Überbietung der Alten feiern oder sich angesichts der Berichte über die Entdeckungsreisen für traditionelle Narrenschelte über eitle Neugier und Habsucht entscheiden sollten.40 Unbehagen an der götzendienerischen Macht des Mammon zog sich, ebenso wie Kritik an der enthemmten ‚heidnischen‘ Staatsraison, wie ein roter Faden quer durch die Fronten des konfessionellen Bürgerkriegs. Man fühlte das Unzeitgemäße der traditionell beschworenen „guten Ordnung“, die Entzauberung des sinnhaften Kosmos, aber auch die Unglaubwürdigkeit des auf ein unumstößliches Sittengesetz verpflichteten Herrscherideals; man hielt die alten Ideale trotzdem immer noch hoch – schon vor dem Hintergrund einer ungebrochenen Volksfrömmigkeit, die, nicht nur in Spanien, die Vertreibungspolitik der katholischen Könige „durch Reinheit zur Einheit“ begeistert mittrug. Sektoral erwies sich die Erfahrung der Unbeständigkeit und des Wertewandels stärker als das Gefühl der Kontinuität der alten Maßstäbe: Individueller Erfolg und Interessenkalkül wirkten in einem von abstrakten Geldwerten bestimmten Milieu überzeugender als die herkömmlichen Bindungen, die Gemeinschaftsmoral und Tugendlehre.
Machiavellis Leitbild der virtù war noch kein enthemmter „Wille zur Macht“, sondern in erster Linie die Beschwörung eines Heroismus antik-republikanischer Freiheit, der Bereitschaft zu Kampf und Krieg fürs Vaterland, zur Meisterung des Schicksals. Sein Misstrauen sowohl zu christlicher Caritas als auch zu privater Anhäufung von Reichtümern, ja der Einführung neuer Waffentechniken, nicht zuletzt gegenüber Wissenschaften und Künsten, war geleitet von einer Furcht vor Erschlaffung und Niedergang. Machiavelli blickte, wie Luther, nach rückwärts und suchte die polybianische Erneuerung bei den „Anfängen“, den principia. Dabei wirkten beide längerfristig als Revolutionäre wider Willen – gegen das ‚Mittelalter‘, als Befreier des Individuums und des modernen Staates.
Als besonders erfolgreich erwies sich diese Befreiung vom Ballast traditioneller Begrifflichkeit in der neuen Haltung zur außermenschlichen Natur. Statt des durch Dekalog und stoisches Denken überlieferten Naturgesetzes als Norm und Handlungsanweisung trat die manchmal als faustisch bezeichnete Suche nach unmittelbarer Beziehung und Entschlüsselung ihrer Geheimnisse, ihre Beobachtung und Beherrschung mit Hilfe quasi-magischer Formeln und Geräte. Darin trafen sich die Ansichten der Naturwissenschaftler mit denen der Konquistadoren, und Kompassnadel, Fernrohr, Schießpulver und Druckerpresse wiesen ihnen den Weg in die neue Zeit, die sich nicht mehr nach den Gesta Dei, sondern nach den exakt berechenbaren Bewegungen der Himmelskörper richten wollte.
Es war bezeichnend, dass sich seit dem späten 14. Jahrhundert, ausgehend vom Strassburger Münster, überall in Europa die Mode der astromischen Uhren – eine Kombination von städtischer Turmuhr, Planetarium, immerwährendem Kalender und Symbolen der Vergänglichkeit – ausbreitete. Die mechanische Uhr brachte schrittweise ein neues Zeitgefühl ins Leben der Städte. Vor die kirchlichen Feiertage, die immerhin ein Memento der Ewigkeit als Maßstab des Lebens sein sollten, schob sich eine gleichförmig fließende, in gleiche Einheiten eingeteilte und gemessene Zeit als das eigentlich Wichtige und Kostbare nun auch für den städtischen Menschen – während der bäuerliche Zeitrhythmus von der Natur bestimmt und rituell geprägt blieb.
„Es gibt keine Sicherheit, wo sich keine mathematische Wissenschaft anwenden lässt“, hatte Leonardo da Vinci erklärt, für den das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben war und Gott nur mehr als primo motore galt. Über Malerei und Kunst hinaus, die er als Wissenschaft, nicht einfach Nachahmung der Natur verstand, war es aber nicht so leicht, die Regeln der Mechanik auf die menschlichen Beziehungen anzuwenden. Auch in Machiavellis ‚amoralischem‘ Geschichtsverständnis herrscht nicht nur Kausalität: Das, was sein sollte, ist zwar unmaßgeblich für das tatsächliche Geschehen; es dreht sich ständig das Rad der Fortuna, angetrieben von den immergleichen menschlichen Leidenschaften, die alles begehren und Überdruss an allem empfinden, was man schon besitzt, so dass sich am Lauf der Welt letztlich kaum etwas ändert. Den bequem und feige gewordenen Zeitgenossen und ihrer Ausrede, die Zeit heile alles, hielt der italienische Patriot die Rückkehr zur heroischen Moral der Römer als Mittel der Genesung entgegen: Man muss nur sein Vaterland mehr lieben als sein Seelenheil. Für den Uomo virtuoso ist die Schicksalsgöttin nur zur Hälfte die Herrin seiner Taten.
Andere Geschichtsschreiber gingen in ihrer nüchtern-empirischen Kritik an den menschlichen Idealen noch weiter, bezogen aber, im Unterschied zu Machiavelli, das antike republikanische Pathos in ihre Skepsis mit ein. Die Menschen werden vor allem von Ehrgeiz und Machtwillen getrieben, auch wenn sie Freiheitsideale vorschieben, führt der schon erwähnte Francesco Guiccardini († 1540) aus, der die heroischen Selbsttäuschungen als Konstanten menschlichen Verhaltens der Aufmerksamkeit der Historiker empfiehlt, mehr aber die vielfältigen Umstände, die circumstanze, die zu Vorsicht bei Vergleichen und Lehren aus der Geschichte mahnen: So hat nach seiner Meinung das wirkliche alte Rom mit den Verklärungen der Humanisten nicht viel zu tun. Vorschnelle Verallgemeinerungen führen in die Irre; so hatten die von Machiavelli positiv gewerteten Konflikte zwischen Plebejern und Aristokraten keine freiheitlichen Konsequenzen, sondern gerieten Rom nur zum Schaden.
Guiccardini, dessen Vermögen die Republik Florenz konfisziert hatte und der später als Gouverneur in päpstliche Dienste trat, ist verständlicherweise kritisch gegenüber inkompetenten, selbstgerechten Volksvertretern, die zu Tyrannen werden, überhaupt gegenüber spektakulären politischen Aktionen; zwischen Absichten und Ergebnissen besteht kein direktes Kausalitätsverhältnis, sondern klafft in der Regel ein Abgrund, wie bei den Reformen der Gracchen, die zur Verschlimmerung der Übel führten, die sie beseitigen sollten. Statt der Rückkehr zu den vermeintlich guten Anfängen und statt humanistischer Tugendrhetorik ist Guiccardinis Wahl die machtgeschützte Freiheit (H. Münkler). Ungeachtet der Staatsform, begnügt sie sich mit der Herrschaft von Ordnung und Rechtssicherheit als Voraussetzung von bürgerlichem Wohlstand. „Die wahre Freiheit des Volkes besteht in nichts anderem, als das Eigentum in Sicherheit nutzen zu können“, erklärte analog der französische Jurist Jean Bodin, mit einer Spitze gegen die partizipatorische Freiheitsidee (über ihn weiter unten). Die Volksfreiheit lässt Unwürdige zu Amt und Gewinn kommen und vergisst in ständigen inneren und auswärtigen Konflikten, dass „Religion, Gerechtigkeit, Nächstenliebe,…alle Wissenschaften und Künste am besten gedeihen, wenn der Friede gesichert ist“ (Bodin: Six livres VI, 4 und V, 5). Ein neues, nicht-antikes Freiheitsverständnis unter dem Schutz des frühabsolutistischen Staates kündigt sich hier an, das in der Folge auch der Geschichtsschreibung neue Fortschrittsperspektiven bieten wird. Es ist bürgerlich in dem Sinn, dass der Friedensraum der Stadt zum Ziel der Politik erhoben, aber auch das Instrument seiner Durchsetzung, die bezahlten Söldnertruppen der Zentralmacht, durch die fortschreitende Monetarisierung ermöglicht werden. Die bürokratisch-militärisch gestützte Staatsmacht erweist sich durch ihr Gewaltmonopol den lokalen und ständischen Kräften überlegen, und die kann sich mit Hinblick auf ‚rationale Staatsinteressen‘ von traditionalen Bindungen dispensieren.
Eine Reihe von Fürsten bildete nicht allein Ordnungszentren in chaotischen Zeiten, sondern gab auch einzelnen Humanisten, die der scholastischen und konfessionellen Streitereien müde waren, eine Zuflucht, in der sich allerdings das Preisen republikanischer Tugenden erübrigte.41 Immerhin konnte sich jetzt das Interesse am Diesseits und das Vertrauen in die Leistungen der eigenen Zeit stärker artikulieren. Der weltliche Machtstaat hatte sich oft die Kirche als Disziplinierungs- und Weltanschauungsinstanz dienstbar gemacht; analog gewannen Themen des Hier und Jetzt, der praktischen Lebensbewältigung und der sektoralen Verbesserungen einen Primat gegenüber Fragen nach dem Seelenheil: Die Gestaltung und Ausfüllung der Jetzt-Zeit hatte Vorrang vor der Erwartung einer von außen kommenden Zukunft.
Die Zeitdiskurse verlagerten sich so vom „Transhistorischen“ immer mehr zum Innerweltlichen als der eigentlich maßgeblichen Tribüne. Die humanistische Orientierung schloss die Verachtung der dummen Masse bzw. satirische Seitenhiebe auf den unangebrachten Lärm eines geringen Lebewesens (animalculum) durchaus ein, das sich schnell wie Rauch auflöst, wie wir von Erasmus († 1536) hören. Dessen Menschenbild war geistaristokratisch, aber auch vom Vertrauen in die Bildungsfähigkeit des Menschen geprägt: „Wir dürfen nicht auf die Ausgießung des Heiligen Geistes warten, uns tut wissenschaftliche Bildung not.“ Das sollte keine bloße Anhäufung von Wissen aller Art sein, sondern die Erkenntnis des Sinnvollen und Vernünftigen, mit dem Ziel einer Durchbildung des ganzen Menschen, auch zu sittlicher Würde. Deshalb empfahl er dem Revolutionär Luther, „lieber mit beständigen und wirksamen Argumenten zu disputieren, als schroffe Behauptungen aufzustellen“, denn: „mitten im Streben nach Frömmigkeit drohen Fußangeln“ (Brief vom 30.5.1519).
Fußangeln drohten dem humanistischen Bildungswerk überall, gerade in der sich abzeichnenden Bildungsperspektive, auf der Grundlage der Geschichte als einer riesigen Exempelsammlung weiter zu kommen als die Vorfahren, so der katholisch gebliebene spanisch-niederländische humanistische Pädagoge Juan Luis Vives († 1540), für den das türkische Vordringen nur der Uneinigkeit der Europäer zu danken war (De Europae dissidiis et bello turcico dialogus). Vives ermahnte nicht nur zur Einigkeit der Christen, sondern schlug einen internationalen Schiedsgerichtshof vor; ein anderer praktischer Entwurf war dem aktuellen Armenwesen gewidmet (De subventione pauperum, 1526).
Wenn die humanistische Rhetorik verklang, war der Mensch auch ohne lutherisches Sündenbewusstsein eine Verkörperung der Unbeständigkeit, und so kamen manchen Zweifel, auch und gerade wegen der fortschreitenden Entdeckung und Beherrschung der Natur durch den Menschen, der selbst Bestandteil der Natur ist (Montaigne). Hatte nicht der unersättliche Entdeckungstrieb Europa die Syphilis beschert und eine verheerende Preisrevolution, hatte nicht das Schießpulver zur Verpöbelung und Verrohung des Kriegs, sogar die Erfindung des Buchdrucks zur Nivellierung und Absenkung der Bildungsinhalte, zur Verbreitung nur halbverstandener Gedanken im Volk geführt? Die schrankenlose Bejahung dieser Welt und der Selbstgenuss eines zur Destruktivität neigenden Wesens waren vielen ein Problem. Das zeigte sich nicht zuletzt auch am Territorialstaat, der die ihm zugedachten Erwartung der inneren Befriedung allzu oft enttäuschte. Aber die empirische Wirklichkeit als entschlüsselbarer Gesamtzusammenhang und der Mensch, wie er einmal ist, nicht, wie er sein sollte, waren die eigentlichen Themen der Zeit.
Der Geschichtsbedarf des Publikums war, wie bei dem nach Berichten aus den neuentdeckten Kontinenten, erst einmal auf Erweiterung des Horizonts gerichtet, vermutlich auch auf außerkirchliche Belehrung in schwierigen Lebenslagen. Aus diesem Bedürfnis – und dem immer noch christlichen Glauben an die symbolische Einheit alles Menschlichen – waren die Adagia des Erasmus, Aussprüche berühmter Männer, zu einem der meistgedruckten Bücher seiner Zeit geworden. Jacques Amyot († 1593), ein Schützling der Margarete von Navarra, schrieb analog im Vorwort zu seiner Übersetzung von Plutarchs Lebensbeschreibungen, die Geschichte sei voller Beispiele von Tugenden und Lastern, von politischer Größe und Niedergang. Auch seine Übersetzung wurde ein großer buchhändlerischer Erfolg.
Die Vielfalt des Menschlichen, auch ohne Transzendenz, sei es eine irdische oder die heilsgeschichtliche, war interessant an sich. François Rabelais († 1553), Arzt und Weltgeistlicher, bemerkte einleitend zu seiner phantastischen Zeitsatire über den Riesen Gargantua, man solle nicht leichtsinnig schließen, die Geschichte bestehe nur aus Narreteien, Dummheiten und Windbeuteleien; entsprechend war das wachsende lesende Publikum gespannt auf die mannigfaltigen Formen menschlicher Existenz. Der theologischen Belehrungen satt, suchte es eher nach weltlichen Quellen und Beispielen, die dem Lebensgefühl einer gehobenen städtischen Leserschicht besser entsprachen.
Das irdische Geschehen hatte im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte einen absoluten Bezugspunkt im herkömmlichen Transzendenten besessen. Der Humanismus neigte oft zur Instrumentalisierung der christlichen Lehren: Das Christentum wird zu bloßer Ethik.42 Christus als Friedenskünder lässt Erasmus von Rotterdam Kriege unter Christen zum verbrecherischen Theater werden (Querela pacis, 1517). Und der schon genannte französische Staatstheoretiker Jean Bodin äußert kaltschnäuzig: „Selbst Atheisten stimmten damit überein, dass nichts den Staat besser stabilisiert, als die Religion.“ Damit wurde dem Christentum eine quasi zusätzliche Disziplinierungs- und Sublimierungsfunktion zugewiesen – ein blasser Rest jenes einstigen eschatologischen Zukunftsbezugs, der sich aus der ausgebliebenen Parusie ergeben hatte und noch im Täufertum und in der calvinistischen Idee des Fortschritts in der Heiligung der Gemeinde aufflackerte.
Der Gedanke einer Gotteskindschaft aller Menschen und einer höheren Lenkung der irdischen Schicksale war auch in einer stark verweltlichten Gesellschaft nie ganz verlorengegangen. Es war empirisch kaum möglich, aus der verwirrenden Vielfalt menschlicher Historien eine einzige sinnvolle Gesamterzählung zu bilden oder auch nur zu einem zusammenfassenden Begriff für alle verschiedenartigen Leistungen der Menschen zu gelangen, und so behalf man sich, außer der beliebten Filiation von den Trojanern und Römern, mit der bequemen Annahme einer Koinzidenz der historia divina, humana et naturalis, wobei die vorausgesetzte göttliche Lenkung oft kaum mehr war als eine rhetorische Floskel, und der Ausblick nach vorn in dichten Nebel gehüllt blieb.
Loys Le Roy († 1577), Lektor des Griechischen am Collège Royal, war keineswegs von der Höhe der Leistungen seiner Zeit überzeugt, sondern klagte mit einigem Recht über sittliche Verwilderung, doch wollte er seine Franzosen anspornen, zumindest in ihrem Erkenntnisstand über die Alten hinauszugehen (De la vicissitude, Von der Unbeständigkeit, 1575). Sein Menschen- und Geschichtsbild war durchaus von der traditionellen Überzeugung geprägt, das zeitliche Geschehen sei hinfällig, wechselhaft und unberechenbar, die Überzeugungen und Sitten in ständiger Wandlung begriffen. Doch meinte er geschichtliche Höhepunkte in Wissen, Künsten und Macht „en divers saisons“ und bei verschiedenen Völkern abwechselnd festzustellen: „où finit l’une, l’autre commence & est avancee par la ruine de la precedente“. Jede Nation hat durch höhere Fügung ihre große Zeit, aber keine dauert allzu lange.
„Größe“ war ein nicht ganz eindeutiger Maßstab, aber indem sich die Leistungen der jeweiligen Zeit zur civilité, den bürgerlichen Tugenden und Künsten, verlagerten statt kriegerischen Ruhms, nahm die Lehre vom Nacheinander der Weltreiche eine neue Gestalt an. Auch das alte Rad der Fortuna erhielt ein korrigiertes Bild: Auf „kulturelle Fortschritte“, würden wir sagen, folgt zwar in der Regel der Niedergang; aber Le Roys Geschichtsschema ist nicht resignierend, antikzyklisch, denn ein Teil der progrez wird an andere weitergereicht. Auch weil die göttliche Lenkung des Ganzen etwas von ihrer Bedeutung behält, handelt es sich im Grunde um eine verweltlichte Variante der Heilsgeschichte (Hasslinger).43
Zugleich mit der beschriebenen Verweltlichung des Lebensgefühls und der zunehmenden Rationalisierung der bürgerlichen Lebensentwürfe hatte sich im 16. Jahrhundert auch das politische Geschichtsverständnis zumindest der staatsnahen Juristen und Beamten verändert. Jean Bodin († 1596), der schon erwähnte französische Staatsphilosoph, dem die Bartholomäusnacht von 1572 zu einer Art Damaskuserlebnis geworden war, suchte in seiner politischen Theorie den Staat sowohl von kirchlichen als auch privaten Interessen und traditionalen Bindungen zu emanzipieren. Im Konfliktfall galt für ihn die besitzbürgerliche Devise: erst die Sicherheit und dann die Moral. Anarchie und Bürgerkrieg sind in Bodins Augen, nicht anders als bei Guiccardini, die schlimmste Krankheit, die ein Gemeinwesen befallen kann. Deshalb ist das objektive Staatsinteresse der Rechtsordnung und den Regeln der Privatleute überzuordnen. „Zum Zweck der Staatserhaltung sollen die Untertanen nicht nur ihre Gegensätze hintanstellen, sondern auch ihr Eigentum aufgeben“ (Six livres 1, 8). Das war, 1576 formuliert, nur für den Notstand gedacht; als Regel galt es Bodin, fürstliche Willkür und Affekte ebenso ‚hintanzustellen‘ – zugunsten versachlichter, institutionalisierter, berechenbarer Macht. Bodin wusste: Es gibt nur wenige tugendhafte Fürsten (IV,1). Aber das Volk ist in noch höherem Maß „unbeständig, wankelmütig und nicht urteilsfähig“, weshalb die Monarchie in ihrer friedensstiftenden Rolle den übrigen Staatsformen vorzuziehen ist. Der Fürst steht über den positiven Gesetzen, die er nach Erfordernis kassieren oder verbessern mag, aber nur der Tyrann tritt auch die natürlichen und göttlichen Gesetze mit Füßen. Schon im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit hält sich der Herrscher an den Grundsatz „pacta sunt servanda“ und an das Beispiel der Natur, die weder Sprünge macht noch Extreme liebt. Der Fürst begnügt sich letztlich mit dem, was öffentlich ist und überlässt dem einzelnen, was privat ist (I,2, IV,3). Das war Empfehlung, nicht Beschreibung der gängigen politischen Praxis.
Der Auflösung des normativen, aufs gute Leben verpflichteten Politikbegriffs und der Entsakralisierung der „Staatsraison“ entsprach eine nach Ort und Zeit verschiedene Norm, ebenso wie die tendenzielle Auflösung des einen, immer gleichen Menschenbildes, das den Humanisten ursprünglich vorgeschwebt hatte. Auch Bodin kannte die Verschiedenheit der menschlichen Natur und folgerte daraus, wie Guiccardini, die Gesetze den ‚circumstanze‘ der natürlichen Gegebenheiten anzupassen (V, 1, III, 4). Darüber hinaus haftete dem Natürlichen ein Rest von Normativität an, der es ermöglichte, eine Grenze gegen persönliche Willkür zu setzen: natürliche Vernunft, verstanden als Teil der Schöpfungsordnung. Wie wenig Bodin auf die Notwendigkeit eines solchen ‚natürlichen‘ Rahmens für das Staatsleben verzichten konnte,44 so wenig mochte er in der Geschichte allein relative Maßstäbe ansetzen. „Welches Volk ist so ungeschlacht und barbarisch“, fragt er (1566) in seinem Methodus, „dass es, hätte es nur die richtigen Führer gehabt, nicht zur Humanität geleitet worden wäre?“ Das zeigt ein Bewusstsein der eigenen säkularen Fortgeschrittenheit, das einen Maßstab für Humanität und Barbarei liefert.
Der Methodus sollte einer besseren Erkenntnis der Geschichte (im Plural, „historiarum“) dienen. Postulativ wird darin das Ziel einer universalen Wissenschaft von der Geschichte ins Auge gefasst, wobei sich der Humanitätsbegriff als normativer Rest dem Gesetz historischer und lokaler Relativität zu entziehen scheint; Bodins Rekurse auf die autorié de la raison könnten aber auch zum unverbindlichen moralischen Dekor herabgestuft werden (de Rougemont). Zwar heißt es, die ganze Welt sei unter dem Schutz derselben Vernunft zu einer einzigen großen Stadt geworden; weil ihr aber der heilsame Zwang fehle, griffen die Fürsten immer wieder zu den Waffen.
So waren Sinn und Ausrichtung einer empirischen Menschheitsgeschichte alles andere als klar. Bodin ist sich, wie viele seiner antiken Vorgänger, der primitiven und ignoranten Anfänge der Menschheit bewusst, und er stellt diesen principia ein anderes Prinzip, „die verfeinerten Sitten und die Einhaltung der Gesetze“ in der Gegenwart entgegen. Auch was das Wissen im engeren Sinn anbelangt, hätten die Griechen und Römer vieles entdeckt, aber manches unvollendet gelassen. „Blütezeiten“ und „Niedergang“ stellen, wie bei Machiavelli, quasi-naturgesetzliche Zyklen dar, und wie bei diesem, ist der souveräne Fürstenstaat ein Mittel, Zerfall und Dekadenz aufzuhalten. Ein irreversibler Fortschritt steht noch außerhalb von Bodins Horizont.
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Der Mensch der Humanisten taugte nur bedingt als Maßstab für die Realgeschichte, nota bene geschichtlichen Fortschritt, und erwies sich insgesamt eher als Problem. Der selbstherrlich als Schöpfer seiner selbst apostrophierte Gestalter seines Schicksals musste eine „narzisstische Kränkung“ hinnehmen: Nach dem Absturz aus dem Zentrum des Universums in die periphere Umlaufbahn des Sonnensystems, kam die von Guiccardini aufgestellte Regel vom Missverhältnis zwischen Intention und Ergebnis: Ist der Mensch Herr seiner Taten, so kommt dabei etwas anderes, als das Intendierte heraus. Tatsächlich war Luthers Freiheit des Christenmenschen im Dogmatismus obrigkeitlich geführter Landeskirchen versandet und die Suche nach dem irdischen Paradies in Übersee hatte zumindest den Indios die Hölle bereitet. So schlug auch das Vertrauen der Humanisten in die Wirkung der Bildung angesichts der Schrecken und entfesselten Leidenschaften der Gegenwart in den Ruf nach dem Zuchtmeister um – zumeist in Gestalt des fürstlichen Territorialstaats, der aber seinerseits den Ruf als Friedensbringer und Schutzherr bürgerlicher Interessen selten verdiente.
Darüber hinaus drohte die schiere Vielfalt des Menschlichen die Idee des Menschen und den Rahmen der einen Menschheit zu sprengen. Vereinzelt tauchte der Terminus progrez auf, meist im Zusammenhang mit humanistischer Bildung; stärker war der Eindruck der Unbeständigkeit alles Menschlichen, der dazu neigte, das Neue mit Niedergang zu verbinden. Das Bild der Gegenwart blieb im besten Fall ambivalent: von kreativen Fähigkeiten wie verbrecherischen Energien, dem wirtschaftlichen Aufstieg der einen und dem Niedergang der anderen bestimmt, war am Zukunftshorizont kein vertrauenswürdigerer Leitstern in Sicht. Irgendeine Zielbestimmtheit war aus der Chronik säkularer Vorgänge nicht zu gewinnen, bestenfalls der Wille des Historienschreibers zur Offenheit: „demeurer universel et ouvert à tout“ (Pierre Charron, † 1603) und als eine Art Amtsschreiber Gottes zu wirken.