Читать книгу Der Fortschrittsglaube - Werner Bedrich Loewenstein - Страница 7
I. PRÄFORMATIONEN 1. Prometheus und Ewige Wiederkehr
ОглавлениеWhat future bliss, he gives not thee to know,
But gives that Hope to be thy blessing now,
Hope springs eternal in the human brest;
Man never is, but always to be blest
Alexander Pope
Nur als Heilsgeschichte angeschaut hat die
Geschichte unbedingten Sinn. Dieser
Charakter liegt freilich in der Tiefe; er kann
nicht Darstellungsprinzip werden.
Paul Tillich
Das Fortschreiten vom Einfachen zum Komplizierten, vom Unbewussten zum Verstandenen, vom Nicht-Können zur Beherrschung kultureller oder technischer Praktiken gehört zu den menschlichen Grunderfahrungen. Es wiederholt sich im Erwachsenwerden der jungen Generationen, das über das organische Wachstum hinaus ein Lernvorgang ist. Erziehung und Ausbildung stellen in jedem Kulturkreis einen Kanon anzueignender Regeln und Fertigkeiten bereit, die die Heranwachsenden Fortschritte zur jeweiligen Gesellschaft der Erwachsenen und zur Übernahme der vorgegebenen sozialen Rollen machen lässt. Diese Fortschritte werden durch ritualisierte Übergänge, Initiationsfeiern mit unterschiedlichen Graden der Einweihung, sichtbar gemacht und dadurch gefestigt. In ihnen versichert sich jede Gesellschaft, gleich ob Buschmänner oder Europäer im Zeitalter der technischen Zivilisation, ihrer Identität: der Geltung ihrer Wertvorstellungen.
Fortschritt und Bewahrung stehen in einer engen gegenseitigen Beziehung. Die Gesellschaft ist auf Weitergabe praktischer und symbolischer Wissensbestände angewiesen, und die kontrollierten ‚Fortschritte‘ der Heranwachsenden bewegen sich innerhalb eines festen Werterahmens als Maßstab. Diese Verknüpfung wiegt die physische Schwäche und die zeitliche Begrenztheit des Einzellebens auf – solange die Menschen nicht das Tradierte vergessen, verleugnen und neues Wissen nicht das alte verdrängt.
In archaischen Zeiten, die das Individuelle oft als Schuld gegenüber dem statisch verstandenen Ganzen hervortreten ließen, waren die Fortschritte des Lernvorgangs ausschließlich Stadien eines ununterbrochenen Generationswechsels, und dieser nur ein Sonderfall der Wachstumszyklen der Natur. Hier herrscht das Gesetz des Lebensrhythmus, und ‚Fortschritte‘ der einen sind zwangsläufig ‚Rückschritte‘ der anderen.
Auch Gesellschaften mit wachsenden Wissensbeständen und Anfängen eines Geschichtsbewusstseins, also eines Wissens um einzigartige Ereignisse, wenn auch in mythischer Verkleidung als Taten von Kulturheroen, leben innerhalb eines unüberschreitbaren normativen Rahmens ihrer kollektiven Repräsentation, die meist das Kosmisch-Bleibende darstellt. Das Sich-Wiederholende, das typischerweise in Symbol, Mythos und Ritus zum Ausdruck kommt, bleibt jedenfalls grundlegender für die Gemeinschaft, als das Neuerworbene; analog ist das Einzelne nur eine zugeschriebene Rolle innerhalb der ewig gültigen Stammesgesetze.
Das Unbekannte bricht herein als Verhängnis, und Erzählungen – von der Büchse der Pandora, vom Baum der Erkenntnis – zeigen Misstrauen gegenüber ungebührlicher Neugier und titanischem Vordringen in den Bereich des Unheimlichen. Mit Pandora endet das Goldene Zeitalter: „… ihr entstammte das schlimme Geschlecht und die Reihe der blühenden Frauen“– was man als Einbruch von Geldwirtschaft, Eifersucht und Rivalität in die heile patriarchalische Welt interpretieren mag. Noch die klassische griechische Polis ist misstrauisch gegenüber weiblicher Irrationalität und privater Häuslichkeit, die nicht eindringen darf in die geheiligte Öffentlichkeit, die Männern vorbehalten bleibt.1
Vor allem das Neue ist verdächtig, die traditionelle Ordnung zu destabilisieren. Fortschritt bedeutet Versündigung, auf die die Strafe folgt: Sie erklärt das Elend der Gegenwart. Die Wahrheit ist nicht abhängig von der Zeit, jener „Hebamme, die alles enthüllt“ (Thales): Sie ist das Gleichbleibende, wie die demonstrierbaren Sätze der Geometrie, während das, was wird und wieder vergeht, nur Schattenbilder sind, auf die im besten Fall ein Abglanz der unwandelbaren Ordnung fällt. Auch die beginnende profane Geschichtsschreibung, die sich von der archaischen Vorgeschichte abwendet und das eigenständige menschliche Handeln entsühnt, will mit ihrem Bericht einen Besitz für immer schaffen: die Erkenntnis des Vergangenen ist der Schlüssel für das, was immer gilt.2
Gerade in einem Zeitalter sprunghaft ausgeweiteter Handlungsspielräume und eines offenen Menschentums der klassischen Polis ist die griechische Leidenschaft des Fragens auf das Gesetzmäßige, somit das Sich-Wiederholende, als Voraussetzung jedes Begriffsdenkens gerichtet, während das Einzigartige verwirrt, weil es sich unter keine allgemeine Kategorie bringen lässt. Schon Sprache und Zeichen als Mittel der Artikulation setzen Wiederholung voraus; auch das Ritual ist vor allem die Versicherung einer unveränderlichen Ordnung. Platons Utopie will nicht einmal neue Musik zulassen: Man rüttelt nicht straflos an den alten Weisen, ohne dass die Gesetze der Polis Schaden nähmen. Aus demselben Grund soll auch die Dialektik, die Kunst des Widerspruchs, die zur Infragestellung herkömmlicher Werte führen kann, erst nach dem dreißigsten Lebensjahr gelehrt werden.
Die ewig gleichen Wellenbewegungen des Lebens, der natürliche Wechsel von Entstehung und Niedergang, musste jedoch den Gedanken nahe legen, ob nicht auch das menschliche Kollektivindividuum analogen Wachstums- und Verfallsgesetzen unterliegt wie seine Glieder. Haben nicht auch Völker und Städte ihre Jugend, ihr Mannes- und Greisenalter? In Platons Timaios werden die Ägypter als alt und die Griechen als „ewige Kinder“ bezeichnet, die sich nicht auf die Antworten der Vorväter verlassen wollen: Das erscheint Platon als fragwürdig. – Von der unbefangenen Kindheit mochte das Zeitgefühl in das des Alterns der Welt, ihrer Erschlaffung und Unfruchtbarkeit umschlagen, wie es insbesondere für die spätere senatorische Geschichtsschreibung der Römer bezeichnend war. Die Herrschaft des Lebensgesetzes lässt Seneca die Lebensalter vom Säugling zum Greis als Stufengesetz der Geschichte Roms verstehen: nach dem Zeitalter der Reife, in dem Rom Karthago besiegte, ist es durch die korrumpierende Wirkung von Erfolg und Luxus ins Greisenalter eingetreten (A. Demandt). Scipio soll nach Polybios angesichts des brennenden Karthago der Zerstörung Trojas gedacht und ein ähnliches Schicksal der eigenen Vaterstadt vorausgeahnt haben.
Das organische Leben könnte ein suggestives Denkmuster für das Fortschreiten zu einer ‚reiferen‘ Entwicklungsstufe liefern, auch wenn es logischerweise die Konsequenz von Niedergang und Tod des eigenen als Organismus verstandenen Staatswesens einschließt. Deshalb wird die Metapher oft aufgegeben und platonisch auf ein unwandelbar Seiendes geschlossen. Rom ist für Livius oder Cicero ewig, also aus Werden und Vergehen herausgehoben; nicht anders später der Gottesstaat des Augustinus Aurelius. Inmitten des Vergänglichen gibt es etwas, das Bestand hat und über der ständigen Wiederholung steht. Vollkommenheit kann nur dargestellt werden im Bezug zum Unvollkommenen, als Bezugspunkt, die unvollkommene reale Gemeinschaft bedarf der mythisierten Form als symbolisches Urbild und Garant. Letztlich ist weder das organische noch das utopische Denken mit einer historischen Fortschrittskonzeption vereinbar.
Geschichtliche Existenz im eigentlichen Sinn beginnt mit der Erfahrbarkeit von Distanz – räumlicher, zeitlicher, wertmäßiger; mit dem Kreuzverhör der Augenzeugen. Die griechischen Apoikien von Magna Graecia, manchmal mit der Amerika-Erfahrung der Neuzeit parallelisiert (R. Lane Fox), legen den Neubeginn ohne automatische Geltung des Alten nahe: Die eigenen Orientierungen werden durch Fragen und Vergleich relativiert. Das ist eine ungewohnte, verwirrende Erfahrung, die die Beispielhaftigkeit der Tradition bedroht und mitunter die Entstehung willkürlicher Tyrannenherrschaften fördert. Auch der nüchterne Historiker Thukydides will nicht auf die Wirkung kollektiver Symbole verzichten, Bilder militärischer Größe, wie den Auszug der Athener zum sizilianischen Feldzug (416 v. Ch.), die rekonstruierte monumentale Rede des Perikles auf die gefallenen Athener: „Wir sind uns und anderen Vorbild.“ Auch wenn die Beschwörung realgeschichtlich nicht standhält, ja als Hybris verstanden werden kann, wäre es das Schlimmste, „ohne Ruf“ zu sterben, ohne ein zeitübergreifendes Andenken zu hinterlassen. Am meisten fürchtet man die Strafe der damnatio memoriae, des Ausmerzens und Ausmeißelns des Namens missliebig, damit ‚ruflos‘ gewordener Personen – jene kindische Methode des Verdrängens und Vergessens einer peinlich gewordenen Geschichte – mit der man sich der einzigen Chance begibt, über der Vergangenheit zu stehen, also aus Fehlern zu lernen.
Wieder jung zu werden, die mystische Suggestion östlicher Aion-Kulte, ist eine analoge törichte Versuchung. Dabei kann die Jugendmetapher über die Doppeldeutigkeit des Lebensbegriffs zu historischen Einsichten führen. Angehörige selbstbewusster, zivilisierter Nationen blicken verächtlich herab auf unwissende, grausame, unfreie Barbaren. Sie mögen ‚von Natur zur Sklaverei bestimmt‘ sein, bieten aber in ihrer Bedürfnislosigkeit, ihrem Kinderreichtum und naturwüchsiger Sittlichkeit auch ein mögliches Kontrastbild zu Verfeinerung und Sittenverfall. Hier machen Reichtum und Luxus die Menschen zu Krieg und Politik untüchtig, dort gilt, dass
…alle die Güter waren ihr Teil,
Frucht brachte der nahrungsspendende Boden
Willig von selbst (Hesiod).
Das ist die nostalgische Paradiesfigur, ohne Habsucht und Luxus. Platon († 348/347 v. Ch.), der selbst die Maßgeblichkeit des primitiven Beispiels bekämpft, erzählt von den Vorfahren der Athener als armseligen Gebirgsbewohnern, die in Mangel lebten und deren Krieger „alles für gemeinschaftlichen Besitz aller“ hielten. – Dagegen glauben wir Modernen allzu sehr an die Chance des Neubeginns, ja der glückliche Wilde wird in der europäischen Neuzeit zu einer beliebten Waffe gegen die Zwänge der Zivilisation. Diderots Tahitaner ist den Anfängen der Welt, sprich: der Natürlichkeit, nahe, und der Europäer ihrem Alter, dh. dem Niedergang. Griechenland, das Pädagogik analog zur Tier- und Pflanzenzucht begriff, waren Verklärungen der Jugend eher fremd; nur die Kyniker haben eine Rückwendung zur Kindheit, von der Kultur zur Natur, zumindest als Gedankenspiel, ins Auge gefasst: Die künstlichen Bedürfnisse der hellenistischen Stadt werden durch die Vorstellung vom unverdorbenen einfachen Zustand in Frage gestellt. Entsprechend werden die organischen Metaphern nur rhetorisch eingesetzt, um ein Unbehagen, ein Ressentiment gegen die negativ empfundenen Verhältnisse auszudrücken.
Der nachlassenden Gestaltungskraft der Tradition wird die Idee der Frühzeit gelegentlich als Warnung (Van Doren), nicht aber als möglicher Jungbrunnen oder Sprungbrett in eine nicht-dekadente Welt entgegengehalten. Allein im jüdisch-christlichen Chiliasmus gelten die gegenwärtigen Übel geradezu als Zeichen für den nahenden Umschlag, die rerum innovatio.
Diese Vorstellung ist im klassischen Hellas unbekannt; trotz und gerade wegen der hohen Kulturleistungen hängt ein unerbittliches Schicksal über den menschlichen Dingen. Die Sterblichen mögen in vieles Einsicht haben, aber über nichts Gewalt, verkündet gleich der erste große griechische Historiker Herodot († 425 v. Ch.); übermäßiges Glück weckt die Missgunst der Götter oder, anders gesagt, führt zum Nachlassen der Wachsamkeit gegenüber drohenden Gefahren. Militärische Tüchtigkeit wird mit Genügsamkeit verbunden, und so legt Herodot dem Lyder Kroisos in den Mund, der Luxus mache aus Männern Weiber. Das Schicksal wird zunehmend als menschenverursacht verstanden und der Pendelschlag vom übermäßigen Glück ins Elend primär als Ergebnis von Verblendung. Geschichtliche Besinnung lehrt solche immer gültige Regeln und will durch den Bericht gegen Vergehen und Vergessen Dauerhaftigkeit stiften; Sakrales und Profanes gehen dabei fließend ineinander über.
Die Demokratie ist nirgendwo zielstrebig entstanden, sondern als Ergebnis kontingenter Umstände (H. Leppin), die Regeln der isonomia ergaben sich aus aristokratischem Wettbewerb, der schrittweise auf die gesamte Bürgerschaft ausgeweitet wurde: Vorzug und Ansehen sind in Athen nicht Sache der Zugehörigkeit, d.h. der Geburt, sondern des Verdienstes, erklärt Perikles. Das Gesetz der Demokratie beruft sich nominell auf eine archaische gemeinschaftliche Ordnung, deren Verletzung, Ahndung und Versöhnung das Thema der attischen Tragödie bildet; ihre Basis ist aber nicht das individuelle Gewissen, sondern vielmehr verwandtschaftliche Ehre und Schande. So ruht alle Identität auf gesellschaftlicher Wertschätzung, und Leben bedeutet, in den Augen der anderen zu leben. Deshalb ist die primäre Form des Weiterlebens nach dem Tode eben diejenige im Gedächtnis der Gemeinschaft (J. P. Vernant).
Schon Herodot durchbricht häufig diesen Rahmen der patriotisch-mythologisierenden Aufgabe. Der Halb-Karier aus Halikarnassos kennt den Wert griechischer Freiheit, aber weist auch auf erstaunliche Ähnlichkeiten mit Werten der Perser hin, sogar auf parallele Bestrebungen, die Politik zur Sache des gesamten Gemeinwesens zu machen – was ihm die Griechen nicht glauben wollen (L. Canfora). Der Vielgereiste hält sich in seinem Urteil schon deswegen zurück, weil er gelernt hat, dass der Brauch König ist bei den Völkern. Und der aus der Vaterstadt vertriebene Historiker weiß darüber hinaus: „das, was früher groß war, davon ist das meiste klein geworden, und das, was zu meiner Zeit groß war, das war früher klein.“ Er erzählt nicht die Geschichte, sondern Geschichten, und sein Maßstab ist das Relative. Auch wenn man die griechische Freiheit hochschätzt, kommt man kaum auf die Idee, sie bei anderen einführen zu wollen oder gar in ihrer Ausbreitung eine Geschichtsmission zu erblicken.
Beim Vergleich der eigenen Kultur mit den Sitten der anderen mag, wie schon erwähnt, die Ahnung aufsteigen, dass das alte Hellenentum nach gleicher Sitte lebte, wie die heutigen Barbaren, über die man sich erhaben dünkt. Dieser Gedankengang deutet ein gewisses Fortschrittsbewusstsein an; doch Thukydides († nach 400 v. Ch.), dem wir diese Betrachtung verdanken, liegt jede optimistische Perspektive fern. Die Überlegenheit der Fortgeschrittenen ist zumindest nicht von Dauer. Mit großer Nüchternheit hatte gerade er den Niedergang Athens im Peloponnesischen Krieg beschrieben, und ein besseres Staatswesen kannte er nicht. Die gnomé, die Fähigkeit zu vernünftig begründeter Voraussicht, ist für den Historiker von eminenter Bedeutung, und die freie Bildung und Verfassung des perikleischen Athen ein Idealbild. Wie alles Menschliche, ist es aber der Irrationalität ausgesetzt – den Leidenschaften, der Depravation und Auflösung. Gerade weil die Wechselfälle der Tyché die menschlichen Dinge letztlich bestimmen und der geradezu naturwissenschaftlich denkende Thukydides glaubt, das, was er beschreibt, werde gemäß der gleich bleibenden Menschennatur immer wieder geschehen, will ja sein Werk ein Besitz für alle Zeit sein.
War sich Herodot der Relativität der Kulturnormen bewusst gewesen, so zeigt sich in der 2. Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts bei den Griechen ein starkes Gefühl kultureller Überlegenheit: die Errungenschaft der freien Polis sticht ab vom asiatischen Despotismus; das eigene Wissen und Können verdrängt das aristokratische Dekadenzgefühl. Reichtum und Macht, eher Sache des Wettbewerbs als ständischer Verfestigung, erscheinen den Athenern sittlich neutral: Sünde, nicht Wohlstand, führt Kummer herbei, lässt Aischylos († 456 v. Ch.) seinen Agamemnon sagen. Wie man innerhalb der Polismauern den Kreislauf der Blutrache unterbunden und der Areopag das Geheul der Erinnyen zum Verstummen gebracht hat, so glauben jetzt manche, die Lebensverhältnisse der traditionalen Macht mythisch-sakraler Ordnung entziehen und politischer Vernunft überlassen zu können; die alten Götter verblassen gegenüber den Kräften menschlichen Wollens und Könnens. Die Fortschritte bleiben jedoch umstritten. In Platons Phaidros wird sogar die Erfindung der Buchstaben in Frage gestellt, weil sich die Menschen dadurch zu sehr auf die objektivierte Vernunft der geschriebenen Erinnerung verlassen, statt selbst zu urteilen.
Es fehlt nie an Zeichen des Niedergangs. „In der Faust liegt das Recht“ hatte Hesiod (um 700) geklagt, „die Scham schwindet dahin und den besseren Mann unterdrückt der Schlechtere.“3 Athen, im Hochgefühl der überragenden Leistungen in vielen Bereichen, verdrängt Hesiods bäuerlichen Mythos vom verlorenen Goldenen Zeitalter und deutet entsprechend die Anfänge der Menschheit nach dem Bild von Homers Kyklopen als kulturlos, armselig, tierähnlich. Kritiker der Demokratie halten dagegen gerade Periklés’ Politik für eine Ursache des Niedergangs: Er habe den Staat aufgebläht und Begehrlichkeiten des Volkes geweckt (Platons Gorgias). Vielleicht war ein Zuviel an Freiheit gefährlich, auch mutete die Demokratie der Allkompetenz ihrer Bürger zuviel zu.
Kritias, athenischer Aristokrat († 403) und Hasser der Demokratie, hält das Leben in den Anfängen für gewalttätig und willkürlich: Erst die staatliche Ordnung und die „schlaue Lehre“ der Furcht vor den Göttern habe die Menschen gezähmt. Freiheit hat nur einen Wert unter strengen Gesetzen. Auch ein Demokrit († 370 v. Ch.) zugeschriebener Text lässt die Menschen durch Furcht und Not zu den auxeseis, Verbesserungen ihrer primitiven Lebensweise, gelangen. Das technische Können der Athener ist im 5. Jahrhundert auf einem hohen Stand, und die Meinung der Philosophen, der ‚philotechnos‘ sei minderwertig, weil er nur Wissen anwende, aber nicht verstehe, ist wohl nur das bildungsaristokratische Vorurteil einer Minderheit. Es war weniger die zeitraubende Bürgerrolle, als die große Bedeutung der Sklavenarbeit, die den Kontakt zwischen geistiger und materieller Praxis verkümmern ließen. Man wusste zwar von der Entstehung der Stadt durch Bedürfnis und den Vorzügen der Arbeitsteilung, aber das Ideal der Allseitigkeit würdigte kein Spezialistentum; es fehlten vermutlich auch die Antriebe für eine Weiterentwicklung in den meisten Bereichen. Nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg (404) dessen Sieger nicht Sparta war, sondern Persien, ging der Krieg zwischen den Poleis weiter; Athen, die Schule von Hellas, war auf sich zurückgeworfen und verarmt. Die weitgetriebene Vernunft zieht sich von der Agora in den Hain des Akademos zurück.4
Man hatte in der klassischen Periode gewusst, dass die Menschen nur durch die technai – von der Staats-, Kriegs- und Heilkunst bis zum Können der Handwerker – „die Oberhand gewinnen, wo sie von Natur unterlegen sind“ (Antiphon). Die Griechen haben sich um die Erfinder gestritten, sie haben sie oft sogar vergöttlicht, auch wenn sie fremder Herkunft waren. Die Geschichte vom Betrüger Prometheus, dem ‚Vordenker‘, wurde umgedeutet in eine Fortschrittserzählung über den Ausgang der Menschen aus Unwissenheit und Elend: Die Zivilisation ist ein Geschenk titanischer Voraussicht. Aber die Geschenke haben sich als ambivalent erwiesen; ohne Gerechtigkeit und Scham hat das Gemeinwesen keinen Bestand. Der Satz des Parmenides: „Aller Dinge Maß ist der Mensch“ beklagt möglicherweise eine unangemessene anthropomorphe Perspektive.
Bloße deinotes, Gewandtheit, lässt auch die größten Erfolge in Verderben umschlagen. Vollkommenheit beruht weniger auf technischer Macht und Perfektion, wie auf harmonischer Einbindung in die bestehende Raumordnung. Die menschliche Bestimmung ist primär die Polis, ihr Recht und Gesetz: „stadtlos ist er, der verwegen das Schändliche tut“ (Sophokles). Verstöße ziehen unweigerlich Strafe und Buße nach sich, wie der ionische Philosoph Anaximander wusste, wenn die Dinge ihre natürlich vorgegebene Bahn verlassen. „Auf das Gesetz nur gründet das Gute der Mensch, baut er Beständiges auf“, mahnt der Gesetzgeber Solon. Maßlosigkeit, Habgier und privater Luxus haben nun das natürliche Chaos wiederkehren lassen (Paul Veyne). Die große Zeit der Polis war vorüber: War sie nicht schuld an den unaufhörlichen innerhellenischen Kriegen, und hatte sich nicht der Verdacht des Kalliklés bestätigt, es sei nur die große Masse der Schwachen, die zu ihrem Nutzen Gesetze gibt und Lob und Tadel erteilt? Zweifel an der Freiheitsfähigkeit der Vielen, sei’s der Armen, Sklaven, Frauen oder Fremden, lassen die Poleis, statt der Erweiterung partizipatorischer Rechte, exklusiver werden; die hellenischen Großstädte, vom Luxus der Diadochenhöfe bestimmte Agglomerationen, eröffnen ein neues Kapitel.
Menschengeschichte ist unvermeidlich mit Wandel und Kontingenz verbunden und Teilhabe am Wesentlichen und Dauerhaften böte allein der platonische Blick aufs göttliche Urbild; sich diesem anzunähern ist aber für die Griechen kein Geschichtsziel. Der große Staatsmann Periklés hatte den Athenern durch grandiose Unternehmungen den Kopf verdreht, statt Maß zu halten, wie ihm Sokrates vorwarf. Gerade hohe Kultur ist immer von Auflösung bedroht; zumindest stoßen die menschlichen Leistungen an Grenzen. Sind sie nicht schon früher bekannt gewesen? Die prokopoi (Fortschritte) erscheinen manchen als Rückbesinnungen auf Früheres oder Verborgenes. Die geistigen Durchbrüche des fünften Jahrhunderts werden aber selbst fragwürdig; schließlich hat sich das vergleichsweise archaische Sparta durchgesetzt und das athenische Überlegenheitsbewusstsein als Selbsttäuschung erwiesen.
Der Neuerungssucht scheint der Atem auszugehen, wenn auch der Glaube an die technai, die Anwendung des methodischen Sachverstandes auf allen Gebieten, nicht auf einmal erlischt. Aber es gibt Zweifel. Ruhte nicht die Lehre der Sophisten von der Konventionalität des Gerechten und vom Menschen als Maß aller Dinge auf fragwürdigem Grund? „So sei denn insbesondere die ganze Gesetzgebung nicht Sache der Natur, sondern der Kunst, daher entbehrten denn ihre Satzungen der eigentliche Wahrheit“, lässt Platon einen Athener in seinen Gesetzen sagen. Die Kunst ist das Unsichere gegenüber der immer gleichen Natur, von der sich der Mensch sträflich entfernt hat. „Über Verhoffen begabt mit der Klugheit erfindender Kunst“, ist gerade deshalb „nichts unheimlicher als der Mensch“, warnt der Chor in Sophokles’ Antigone.
Wie sich die griechische Geschichtsschreibung zu keinem übergreifenden Gesamtprozess formt, so bildet das ‚Könnensbewusstsein‘ (Christian Meier), das von unzähligen Einzelleistungen ausgeht, keine Zukunftsperspektive, die die einzelnen prokopoi bündelt zum Ziel verbesserter Handlungsmöglichkeiten. Es ist nicht allein die Sklavenarbeit, die das Interesse an mechanischen Verbesserungen verkümmern lässt (dass die „Weberschiffchen von selbst weben“) und sie als bloße „Überlistung der Natur“ abwertet. Angesichts unsäglicher Grausamkeit, Hass und Zerrüttung in Krieg und Bürgerkrieg misstraut man der Fähigkeit der Polisdemokratie zur Zähmung und Höherbildung durch Partizipation und Wort, ja man glaubt an einen ursächlichen Zusammenhang von Arbeitsteilung, Luxusbedürfnissen, inneren Wirren und Krieg, wie es Platons „Staat“ formuliert.5 Der Krieg, ein „gewalttätiger Lehrmeister“, hält dem Menschen einen Spiegel vor und stellt alle seine Errungenschaften in Frage: die Wiederkehr des Chaos.
Der Redner Lysias († 380 v. Ch.) prangert, für uns vertraut, die Neureichen an, die jedes Land für ihr Vaterland halten, in dem sie wirtschaftliche Vorteile finden, „denn sie sehen ihr Vaterland nicht in der Stadt, sondern im (Geld-) Besitz“. Parallel wächst die Schicht des ochlos, des Pöbels. Aus ihm werden ebenso heimatlose Söldner geworben, die allein ihrem Anführer gehorchen, und die zur Untergrabung der guten Raum-Ordnung beitragen. So wird der alte Topos von der Unbeständigkeit des Glücks wieder geläufig; unter der alten Formel des Neids der Götter kommen die zerstörerischen, auch umweltzerstörerischen, Impulse des Menschen zutage.6
Es gibt weiterhin große Leistungen in Einzelbereichen: die Griechen scheinen aber seit dem traumatischen Erlebnis des Peloponnesischen Kriegs den Glauben an die Vereinbarkeit von techné und Gerechtigkeit verloren zu haben. Die Hoffnung auf eine Zivilisierbarkeit der Macht schwindet in der Realität entpolitisierter hellenistischer Monarchien mit ihrem orientalischen Herrscherkult, ihren Riesenarmeen und abhängigen Beamtenschaften. Der Krieg war für das Image der Diadochenfürsten von zentraler Bedeutung, nicht zuletzt als Faktor des Wirtschaftslebens (Lane Fox). So wird die grausame Strafe, die den Neuerer Prometheus im Mythos trifft, im mutlosen Gegenwartshorizont wieder nachvollziehbar; ein Grenzbewusstsein, das man in den Jahrzehnten des Aufbruchs, der griechischen „Achsenzeit“, verdrängt hatte, wird in der von konservativen Führungsschichten bestimmten Stadt Mode. Die Tugenden, die man in der Gegenwart vermisst, werden archaisierend in eine heile Vergangenheit projiziert, sogar in barbarische Nachbarvölker: Exotische Reiseromane (Iambulos) lassen das Gewünschte als fiktive Realität erscheinen. Lehren von der Ewigen Wiederkehr finden im Zuge des hellenistischen Synkretismus mit den Kulturen des Ostens wieder ein breites Publikum. Die oberflächlich gräzisierten kosmopolitischen Großstädte, mit Gymnasien, nicht der Agora als Mittelpunkt, bilden austauschbare Gebilde, in denen die Tradition musealisiert, aber kaum mehr gelebt wird.
Die Griechen kannten also durchaus das Leitbild der Wandlung zum Besseren als Ergebnis menschlichen Könnens. Schon von Xenophanes († 470 v. Ch.), der den ewigen Kreislauf des göttlichen Einen verkündete (ebenso wie den „aufklärerischen“ Gedanken, die homerischen Götter seien bloße Produkte menschlicher Phantasie), ist die Idee überliefert, die Götter hätten den Sterblichen nicht von Anbeginn alles Wissen offenbart, sondern „erst allmählich finden diese suchend das Bessere“. Aber war es wirklich das Bessere? Und: sie verlieren es auch wieder. Das kulturelle Vorankommen bleibt dem kosmischen Gesetz der Zyklen und der sich wiederholenden Katastrophen unterworfen. Insbesondere die Stoiker lassen die Kataklysmen und ständigen Wiedergeburten in der Regel aufeinander folgen und alles Geschehen sich in etwa wiederholen.7
An den Verfassungen zeigt sich dasselbe Gesetz. Der Systematiker Aristoteles († 322v. Ch.), für den „in allen Dingen etwas Natürliches und Schönes“ enthalten ist, verzichtet nicht auf normative Maßstäbe, wie die Unterscheidung von guten und entarteten Verfassungsformen, von politischer und despotischer Herrschaft, die Verurteilung der pleonexia, des unmäßigen Gelderwerbs als Selbstzweck, oder die einseitige militärische Ausrichtung Spartas, das die Bürgergemeinschaft zum Militärlager degradiert. Die beste Verfassung ist diejenige, die eine Vervollkommnung des Lebens ermöglicht. Aber wie das Gute verschieden ist nach Zwecken und es unterschiedliche Formen „wesenhafter Tüchtigkeit“ gibt, so empfiehlt er statt des platonischen Abbilds ewiger Urbilder eher die zweitbeste, ‚hippokratische‘ Lösung – die stabile Mischform der Politeia. Gewiss passt keine Verfassung für alle, aber die Norm der eudaimonia, des tugendhaften und glücklichen Lebens, steht über allen.
Der Erkenntnisfortschritt durch Anhäufung von Wissen von Generation zu Generation kommt in Aristoteles’ eigenem Riesenwerk evident zum Ausdruck, aber bleibt historisch folgenlos, wie sich überhaupt seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert die antihistorische Tendenz des griechischen Denkens wieder verstärkt (Collingwood). Bei der Untersuchung der schleichenden oder plötzlichen Verfassungsänderungen überwiegt der Niedergang – das Umschlagen von Demokratie in Tyrannis, von gemäßigter Demokratie in eine exzessive, in der sich das Volk willkürlich über die Gesetze erhebt. Die guten Verfassungen sind in der Regel die früheren, während das Gemeinwesen sogar von denjenigen gefährdet wird, die mit plötzlichem Aufblühen eine Störung des bestehenden Gleichgewichts, der Autarkie, der stabilen Bevölkerungszahl, bewirken.
Der große Organisator wissenschaftlicher Forschungen, der den Schutz der makedonischen Militärmonarchie genoss (und eben deshalb noch ein Jahr vor seinem Tode Athen verlassen musste), zog das Maßhalten, die metropatheia, der apatheia unterdrückter Leidenschaften vor: Ohne Leidenschaften gibt es kein geordnetes Leben in der Gesellschaft. Aristoteles war sich der Entartung der freien Polis bewusst, aber auch der Tatsache, dass der schlechteste Mensch derjenige ist, der ohne Gesetz und Recht lebt: Das Schlimmste ist Ungerechtigkeit, wenn sie Waffen besitzt, und mit uneingeschränkter Macht droht die Herrschaft des Tiers.
Der Niedergang des Stadtstaats wurde von den Philosophen selten betrauert; die Polis galt vielen (Zenon von Elea † 264) wegen ihrer sozialen, politischen und ethnischen Schranken als minderwertig, zumindest gegenüber der geistigen Gemeinschaft der Weisen. Der erweiterte Horizont, die Öffnung der Polis zur Kosmopolis, der politische Wertewandel vom geschlossenen Gemeinwesen zum „Menschen als Gemeindegenossen und Mitbürger“ (Plutarch) hätte einen Anstoß zum Denken in positiven Entwicklungslinien geben können. Der hellenische Geist, der sich seit Alexander dem Großen die Ökumene unterwarf und insbesondere im ptolemäischen Alexandria einen glänzenden Schwerpunkt fand, hatte eine äußerlich imponierende übernationale Zivilisation geschaffen. War nicht dadurch das Individuum aus den Zwängen der Polis befreit worden und war nicht im emphatischen Begriff des Menschen (statt des Bürgers) eine übergreifende Wertvorstellung entstanden, die erstmals Griechen und Asiaten, Freie und Sklaven, Männer und Frauen, verband?
Bei näherem Zusehen erweist sich das als nachträglich hineingelesene Idealisierung. Das Menschenbild des Hellenismus war skeptisch-kynisch relativiert und privatisiert, das angehäufte Wissen spezialisiert und musealisiert, so dass es durch seine schiere Fülle, so vom Dichter Kallimachos, geradezu als Unglück empfunden werden konnte. Riesige Städte bildeten natürlich einen Impuls für Landwirtschaft, Handwerk, Handel und Schifffahrt, auch für Medizin, Mathematik, Architektur, Ingenieurwesen. Einzelne Wissenschaftler und Schriftsteller, nicht zuletzt Erfinder, wurden von Herrschern, schon im Interesse von Macht und Repräsentation, protegiert, gelegentlich aber auch vertrieben. Der Pharos von Alexandria galt als eines der Weltwunder. Die Bibliothek des dortigen Museion enthielt eine halbe Million Buchrollen aus vielen Wissensgebieten. Eine übergreifende Menschheitsperspektive hat sich aber auf der Basis eines müden Epigonentums und entbürgerlichten Spezialwissens nicht entwickeln können.
Der Verlust der Polis war nicht zuletzt der Verlust eines überschaubaren Raums, in dem aktive Mitwirkung möglich gewesen war; jetzt sah sich der einzelne auf seine Privatheit zurückgeworfen, während das Ganze sich rationaler und moralischer Beurteilung entzog.
Diese eifern um Ruhm in Böses wirkendem Ehrgeiz,
Jene wollen Gewinn und kennen nicht Ordnung noch Fügung…
Frieden erlangt nicht einer, und streben doch hierhin und dorthin,
Ja, ihr Bemühn, es findet als Lohn nicht das, was sie wollen,
klagte der stoische Philosoph Kleanthes († 232 v. Ch.)
Die Stoiker hatten eigentlich die Zeit und den Zufall zugunsten des göttlichen Logos aus ihrem Weltbild ausmerzen wollen, aber das war nur durchführbar, wenn sich der Weise aus der feindlichen Welt zurückzog und durch die Beschränkung auf das Selbst beruhigte. Der Historiker Polybios († 120 v. Ch.) war stoisch gebildet, und wenn er die großen Ereignisse beschrieb, sah er die tyché am Werk, „die mit unserem Leben keinen Vertrag schließen will“, unsere Berechnungen über den Haufen wirft und „ihre Macht gerade im Unerwarteten offenbart“. Damit wird aber gerade Polybios’ romzentrierte Geschichtsperspektive relativiert und der unerbittlichen anakyklosis, dem Gesetz des ständigen Verfassungswandels, unterworfen. Der Sohn eines achäischen Strategen war als langjährige Geisel vom Patrioten des eigenen Landes zum Bewunderer Roms und dessen gemischter Verfassung geworden. Der Freund Scipios d. J. und Zeuge des Untergangs Karthagos (146 v. Ch.) verachtete als Pragmatiker idealistische Konstruktionen und rhetorische Effekte, sondern wollte verlässliche politische Belehrung aufgrund nüchterner Einsicht. Doch ließ er sich von der quasi-hegelianischen Idee faszinieren, der Fortgang zum Besseren ließe sich als Verwandlung des römischen Wolfs in einen platonischen Wachhund (Toynbee) deuten: die Herrschaft Roms als Geschichtstelos. Rom bringt der Welt den Frieden; die Versuchung bot sich an, im Imperium eine Art Vollzug der Weltvernunft zu sehen. Die Aussicht war zur guten Hälfte Wunschdenken. Rom hatte durch die Erfahrung der Königsherrschaft mit dem Begriff der res publica den Schutz vor Willkür verbunden und dem aristokratischen Senat plebejische Institutionen (sowie Aufstiegschancen) hinzugefügt; Freigelassene konnten Vollbürger und besiegte Städte Verbündete werden. Gegenüber zu ehrgeizigen Feldherren herrschte nur allzu berechtigtes Misstrauen, und die immer weitergehende Expansion (seit der Schlacht von Magnesia 190 v. Chr. auch im Osten) veränderte sich die innere Struktur der Republik.
Ein Jahrhundert nach Polybios wird Poseidonios († 50 v. Ch.), der dessen Werk fortsetzt und versucht, die gesamte ihm bekannte Menschheit in sein Geschichtsbild einzubeziehen, schon überzeugt sein von der unwiderruflichen Dekadenz, der Gewissheit des Scheiterns.8
Gegen diese Perspektive hatte Cicero, Konsul des Jahres 63 v. Ch. und erfolgloser Verteidiger der alten republikanischen Verfassung Roms, die in dieser enthaltene bürgerliche Ordnung, der gewachsenen ratio rerum civilium, hochgehalten. Die Fortschritte (progressus, eine Übersetzung von prokopé), die sich aus Zufall, Not und schöpferischen Krisen ergaben und sowohl die agri cultura als auch die cultura animi einbegreifen, führen dennoch zu einer Ordnung, die in seiner Vorstellung keinem polybianischen Kreislauf unterliegt. Sie ist für den athenisch Gebildeten keine willkürliche, sondern beansprucht, irdisches Abbild der kosmischen Ordnung zu sein. Dazu gehört – wie bei Aristoteles – die Herrschaft über diejenigen, die der Selbstregierung unfähig sind. Der Herrschaftsanspruch kann allerdings verspielt werden, wenn Rom gegen die ererbten Grundlagen des Konsensus und des Sittengesetzes verstößt und seine legitime Herrschaft in bloße Gewalt ausartet.
Tatsächlich hatten Misswirtschaft und Willkür, steuerliche Auspressung der Provinzen durch eine dünne römische Oligarchie – nach den Worten Theodor Mommsens – den verbreiteten Eindruck eines „unsäglichen Elends über alle Nationen vom Tajo bis zum Euphrat“ aufkommen lassen. Recht und Frieden waren schon immer relative Begriffe, aber diesen Zustand mit vernünftiger Vorsehung in Verbindung zu bringen, konnte nur einem Nutznießer des römischen Herrschaftssystems in den Sinn kommen. So mancher Hellene zählte zu ihnen: Victi victoribus leges dederunt, die Besiegten werden zu Gesetzgebern (Seneca † 65 n. Ch.). Die Hellenisierung war in Rom nicht unumstritten, ja ein Senatsbeschluss wollte die griechische Philosophie als potentiell zersetzende Kraft und Gefahr für die altrömische praktische Tugend verbannen. Aber die stoische Ethik fand durchaus Anklang bei der römischen Oberschicht; ein adaptiertes griechisches Denken sollte der Republik eine unumstößliche naturrechtliche Basis liefern.
Im 2. Jahrhundert n. Ch., einer relativ langen Glanzzeit, besang wieder ein Grieche, der Rhetor Ailios Aristides, das Friedensreich in einem Hymnus. „Die Besiegten beneiden und hassen die Siegerin Rom nicht. Die Erde ist durch Rom zur Heimat geworden.“ Ähnliche Gedanken äußerte noch der Gallier Pompeius Trogus, für den Rom die Nachfolge der vorangegangenen Weltreiche angetreten und allgemeinen Frieden unter den Völkern hergestellt hatte (nach W. Kranz).9
Der Geograph Strabon († 19 n. Ch.) beschreibt die Segnungen der Pax Romana anhand von Lusitanien, einem potentiell reichen Land, das die dortigen Stämme durch Krieg und Raub zerrüttet hatten; erst mit den römischen Legionen seien Frieden und Wohlstand eingekehrt. Ein weiteres Beispiel für die Rom-Idee liefert der Offizier und Naturwissenschaftler Plinius d. Ä., der bei einem Feldzug im Jahre 47 n. Ch. über die friesischen Chauken urteilt, manche habe das Schicksal nur „verschont, um sie zu strafen“. Von Rom unterworfen zu werden, bedeutet Fortschritt durch Einbeziehung in die Ökumene (nach Demandt). Die Unterworfenen teilten diese Perspektive selten.
Andere, wie Sallust († 35 v. Ch.), Volkstribun und Gefolgsmann Cäsars, hatten von einem bestimmten Augenblick an den Aufstieg Roms in Frage gestellt. Ohne äußere Gegner, die die Römer bis dahin zu militärischer Tüchtigkeit und Disziplin gezwungen hatten, „fing das Glück an zu wüten und alles zu verwirren… So wuchs denn zuerst die Sucht nach Macht und danach die nach Geld, und beides wurde gewissermaßen die Quelle aller Übel.“ Habsucht, Überheblichkeit, Grausamkeit, Bestechlichkeit griffen wie eine Seuche um sich, und Macht wurde nicht als Verantwortung für die Res publica verstanden, sondern vielmehr als „Möglichkeit, nach Belieben Unrecht zu tun (Verschwörung des Catilina).
Lassen wir beiseite, dass Sallust selbst durch zweifelhafte Methoden ein großes Vermögen erworben hatte und auch erst nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus der Politik zum – parteiischen – Schriftsteller geworden war. Ursachen der Krise der Republik waren andere als die von ihm beschworenen: der Niedergang der Kleinbauern durch das Einströmen von Sklavenarbeit in die Landwirtschaft; die Machtfülle ehrgeiziger Politiker auf der Basis der Beherrschung und Ausplünderung einzelner Provinzen. Ein Zusammenhang zwischen alten Sitten und außenpolitischen Erfolgen des Reiches gehörte jedoch seit Cato zu den Topoi römischer Publizistik, und ein kulturkritischer Ton in erzieherischer Absicht überwog auch in der Geschichtsschreibung. Es fehlte nicht der Stolz auf das vermeintliche imperium sine fine (Vergil), auch nicht Träume von der einzigen Stadt, in der Weisheit und Eintracht herrschen, wohl aber die von Eliten und einer breiten Bevölkerung gleichermaßen getragene Reformperspektive. Octavians Prinzipat brachte die Befriedung nach dem Bürgerkrieg, auch unter seinen weniger fähigen Nachfolgern herrschte, trotz turbulenter Oberfläche, weitgehende Akzeptanz der bestehenden Ordnung. 212 wurde das römische Bürgerrecht auf alle Einwohner des Reiches ausgedehnt. Ohne eigentlich subjektive Rechte zu kennen, genossen sie für lange Zeit einen weitgehenden Rechtsfrieden (Leppin).
Euripides hatte einst die Zeit als die Mutter der Gerechtigkeit bezeichnet: Sie brachte alte Schuld (die Wahrheit, das ‚Entborgene‘) an den Tag. Unter den Cäsaren wäre es den Philosophen und Rhetoren auch ohne in die Klagen der senatorischen Geschichtsschreibung einzustimmen, absurd erschienen, sich mit Zukunftsperspektiven abzugeben: Die Weisheit kann nur lehren, die bestehende leidliche Ordnung zu erhalten, die Wechselfälle standhaft zu ertragen, sie allenfalls durch rückwärtsgewandte patriotische Geschichten nach Art des Vergilius oder Livius moralisch zu festigen. Das römische Recht bedeutete in der Praxis durchaus eine Versachlichung der Entscheidungen; es gab auch sozialen Aufstieg und Integration der Bevölkerung annektierter Gebiete, Bemühungen um eine Versorgung nicht nur der Veteranen, sondern auch von Waisen und Armen; sogar um eine rechtliche Milderung der Sklaverei.
Aber die Anläufe blieben kurzlebig; bei Zeitgenossen verfestigt sich inmitten von privatisierendem Wohlleben und städtischer Pracht der Eindruck, „dass wir weder unsere Laster noch die Heilmittel dagegen ertragen können“ (T. Livius).10 Marc Aurel († 180 n. Ch.) hielt es für falsch, „auf Platons Staat zu hoffen“, d.h. eine ideale Lösung zu erwarten; seine eigene edle Idee, den Menschen als „Bürger des höchsten Staates“ einzusetzen, „von dem die übrigen Staaten gleichsam die Häuser sind“ (Selbstbetrachtungen), eine stoische Quelle der späteren Zwei-Staaten-Lehre des Augustinus, blieb ohne direkte politische Relevanz. Rom hat wohl auch unter den Kaisern den typischen Charakter der antiken Stadt als exklusiver Krieger- und Kultgemeinschaft nie ganz abgestreift. Es war imstande, Besiegte in Verbündete zu verwandeln; auch die Ausweitung von Bürgerrechten bedeutete aber keine politische Mitsprache, sondern vor allem die Verpflichtung zum Militärdienst. Wirtschaftliche Monopolinteressen der Hauptstadt ließen gleichfalls keine wünschenswerte Gemeinschaft vollberechtigter Bürger aufkommen: Das Bündnis zwischen Staatsallmacht und einem aus den Provinzen versorgten Pöbel erstickte jeden Bürgersinn.
Dem unbestrittenen Fortschritt, die städtische Mittelmeerkultur, die römischen Institutionen und Rechtspraktiken auf den barbarischen Westen übertragen zu haben, steht die Tatsache gegenüber, dass die Militärkolonien nur der Sicherung des Imperiums und der Versorgung der Veteranen dienten und Provinzen im Prinzip als auszubeutende Hilfsquellen zugunsten Roms und seiner Armee galten. Die Städte der Provinzen, die sich mit römischen Proletariern und italischen Landlosen füllten, wirkten wie „schmarotzende Drohnenhaufen“ (Rostovtzeff), und waren, im Unterschied zum neuzeitlichen Europa, nur begrenzt imstande, als wirtschaftliche und kulturelle Integrationszentren ins Land hineinzuwirken.11 Das grandiose Straßennetz des Imperiums, militärisch bestimmt, war für den Fernhandel nutzlos, sodass Städte, die über keine Seeverbindung verfügten, agrarischen Charakter behielten.
Trotz der meist praktizierten Toleranz gegenüber den Göttern der Besiegten und einer gewissen Schmelztiegelwirkung, ist die auf Münzen und anderen Inschriften propagierte Sendungsidee Roms als Rechts- und Friedensverbund letztlich Ideologie geblieben. „Bei den Unerfahrenen hieß es Kultur, während es ein Teil der Knechtschaft war“, urteilt Tacitus († 115 n. Chr.) über die ansonsten bewunderte Tätigkeit seines Schwiegervaters Agricola in Britannien. Die Realität der Munzipien wurde durch quasifeudale Klientelbeziehungen des Amtsadels, steigende steuerliche Belastungen und Militärwillkür bestimmt, auf dem Lande trat neben den gutsherrschaftlichen Sklavenbetrieb das schollengebundene Kolonat.
Geschichtskompilationen, wie die des Poseidonios oder des Appianus (2. Jahrhundert n. Ch.) waren in ihrer Konzeption insofern neu, als sie Ägypter, Assyrer, Griechen, Gallier und weitere Völker der Peripherie der römischen Geschichte einverleibten. Die erweiterte Bühne offenbarte aber nur die recht geringen Handlungschancen der einzelnen; Stagnation, Auflösung und Demoralisierung in der späten Kaiserzeit haben keine „römische Menschheitsgeschichte“ als Metaerzählung mit gemeinsamem Erwartungshorizont entstehen lassen. Seneca hatte die barbarischen Völker mit Löwen und Tigern verglichen, die weder zu dienen noch zu herrschen vermögen. Eine spätere Alexanderbiographie wendet den Mangel ins Positive und legt einem Skythen die Worte in den Mund: „Dienen können wir niemandem und zu herrschen wünschen wir nicht.“ Es mag trotzdem sein, dass die Barbaren, die auf die Reichsgrenzen drückten, Rom nicht zerstören, sondern primär an seinem Wohlstand teilhaben wollten. Tacitus († 120), im allgemeinen eher an Beispielen von Tugenden und Lastern, als an den Fakten interessiert, wollte die Germanen umgekehrt kaum als Vorbild für seine Römer darstellen, sah aber im Fehlen von Gesetzen bei diesen einen Vorteil gegenüber der korrupten städtischen Zivilisation: Die guten Sitten bedürften keiner künstlichen Stützen. Damit ließ sich aber im wörtlichen Sinn kein Staat machen.
Man kennt exemplarische Einzelleben, wie die pietätvollen parallelen Biographien des unter Trajan wirkenden Plutarch († 120 n. Ch.), meist je eines Römers und eines Griechen, jedoch: „ich schreibe Biographie, aber keine Geschichte“: Episoden, sekundäre Historien, nicht übergreifendes Gesamtgeschehen. Den praktischen, aber grundkonservativen Römern fehlte der positive Sinn für den cursus temporum (ebenso wie für Würde und Bedeutung angewandter Naturkenntnis). Über das griechische Erbe hinaus kannten sie eine große Zahl technischer Verbesserungen in Künsten und Handwerk – vom Fensterglas und dem Prinzip der Dampfmaschine bis zum Tonnengewölbe, der Zentralheizung und sogar einer Vorform der Mähmaschine.
Aber sie fanden letztlich zu wenig Bedarf, um eine „industrielle Zivilisation“ einzuleiten. Auch von der Waffentechnik war man sich der Ambivalenz vervollkommneter Mittel (Fernwaffen) bewusst, was sich noch stärker auf Verfeinerung und private Luxusbedürfnisse bezog – öffentliche Verschwendung wurde hingegen toleriert. Umstritten blieb, ob etwa der Sieg der Philosophen über die Furcht vor den Göttern mit Epikur als Befreiung zu feiern oder mit den Nostalgikern als Zeichen des Sittenverfalls zu beklagen war.
Trotz großer Tüchtigkeit in vielen Bereichen und vieler Anstrengungen zur Überwindung der sich häufenden Krisen des Reichs durch effizientere Verwaltung und Mobilisierung aller Kräfte, war den Römern das alte Bewusstsein von der Unbeständigkeit des Glücks (und damit der Zeit) immer gewärtig. Eine Naturkatastrophe, ein unglücklicher Krieg, Wirren und Seuchen konnten zerstören, was Generationen zuvor geschaffen und angesammelt hatten, manchmal auch den Bericht der Kompilatoren und Wissenssammler von der Art des Galenos († 199 n. Ch.), Plinius († 79 n. Ch.) oder Ptolemaios († nach 160 n. Ch.) – und damit sogar das Bewusstsein des Verlusts: Ein Großteil der alexandrinischen Bibliothek wurde nicht erst von den islamischen Eroberern, sondern schon von Julius Cäsars Soldaten in Brand gesetzt.
Mit der Erfahrung der Brüchigkeit der Zivilisation gingen Zweifel an ihrem Wert einher; die Zerstörung der Dorfgemeinschaft zugunsten der wuchernden Städte und ihrem käuflichen Pöbel wurde schon lange als verhängnisvoll für die römische virtus und den Zusammenhalt des Gemeinwesens angesehen. So mochten noch die barbarischen Plünderungen und Zerstörungen der Spätzeit des Imperiums als Rache der Bauernsoldaten aus der Provinz an den parasitären Städten verstanden werden.
Hatte in der Epoche der Polis als Ordnungszentrum gegolten, dass „einer, der an den politischen Dingen keinen Anteil nimmt, nicht als stiller Bürger gilt, sondern als schlechter“ (Periklés’ Leichenrede), so verstärkte sich in den Jahrhunderten ohne Polisbezug und politische Handlungsmöglichkeiten das Desinteresse am Gemeinwesen. Plutarchs Meinung, die Tätigkeit für den Staat stelle die höchste Form der Selbstverwirklichung dar, blieb blasse Theorie gegenüber der zunehmenden Neigung der Oberschicht zu einem Leben in Kombination von Privatgenuss und Weltverachtung, gemäß Epikurs Empfehlung, der Weise solle sich nicht am öffentlichen Leben beteiligen. Auch Polybios’ pragmatische Geschichtsschreibung lehrte nicht in erster Linie politische Fehler zu vermeiden, sondern eher das stoische Ertragen von Schicksalsschlägen. Der Epikureer Lucretius, von dessen Leben wir leider kaum etwas wissen, eine Ausnahmeerscheinung insofern, als er – im ersten vorchristlichen Jahrhundert – scharfsinnig das Vorankommen der Menschheit durch Naturkenntnis und Erfindungen darstellt: auch er, der das Bild des „Fackellaufs der Völker“ gebraucht, ist sich jedoch der Ambivalenz des Fortschreitens sehr wohl bewusst: Statt Stolz und Willkür, modischer Verfeinerung und Weisheit aus zweiter Hand, hätte er es vorgezogen, die Leidenschaften zu beherrschen. Er braucht keine Götter, um zu verstehen, dass ein Mensch, der einen Gipfel erreicht, durch den Neid von Konkurrenten oder die eigene Verblendung stürzt. Von Späteren als „Kämpfer gegen die Weltangst“ gerühmt, kennt Lucretius weder Geschichtsteleologie noch Zukunftshoffnungen, sondern entwirft sein Weltbild nach dem Muster ständig wechselnder Atomkombinationen. Der Mensch und seine Schöpfungen, auch Himmel und Erde, Luft und Feuer, unterliegen dem unaufhörlichen Werden und Vergehen. Die Zeit ist gebrochen, heißt es an einer anderen Stelle seines unvollendeten Lehrgedichts, und durch Alter müde geworden, gehen alle Dinge dem Grab und Tod entgegen.
Die antiken Erzählungen summieren sich zu keinem „Gesamtmythos“, und ebenso wenig die einzelnen praktischen, technischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer einzigen ‚Erfolgsgeschichte‘ mit Ausblick auf menschliche Herrschaft über die Natur. Das hängt mit dem humanistisch-rhetorischen Charakter der Bildung und der Werteskala des Großteils der tradierten Literatur zusammen. Das Praktische und Technische gilt, auch aus Gründen, die mit Macht und Sozialprestige zu tun haben, als unmaßgeblich für die Zeitdiagnose. Schon der geniale Mathematiker und Physiker Archimedes († 212 v. Ch.), der für seine Syrakuser allerlei Kriegsgerät erfand, hielt die Arbeit des Mechanikers und alles, was der bloßen Befriedigung des Lebensbedarfs dient, für niedrig und vulgär. Werke wie Vitruvs (1. vorchristliches Jahrhundert) über Architektur oder des Frontinus, Direktors der römischen Wasserversorgung, über Aquädukte, verraten präzise Kenntnisse und Sinn für angewandte Wissenschaft, aber es fehlt, von der Neuzeit her gesehen, das Milieu einer erfolgreichen, selbstbewussten städtischen Mittelschicht. Der antike ‚Kapitalismus‘ lebte, wie Max Weber bemerkte, von staatlichen Präbenden, Steuerpacht, Amtssporteln, Bodenspekulation eher als von Handelsgewinn; die Schicht der Freigelassenen, an sich ‚friedliche Erwerbsmenschen‘, blieben Bürger zweiter Klasse, denen der Zugang zu Ämtern, Staatsliefergeschäften und den übrigen typischen Formen antiker Kapitalbildung verschlossen war. Weder technische Innovationen noch medizinisches Können bilden natürlich ein Argument gegen geschichtspessimistische Stimmungen.
Wir haben das Lebensgefühl in den nach-alexandrinischen Großreichen gestreift, das eine Mentalität des Rückzugs aus der Öffentlichkeit ins Private förderte, auch ins private Seelenheil, wobei die eigentlich geschichtliche, nämlich politische Welt, von den privaten Wertvorstellungen unbeeinflusst, den Irrationalitäten des Machtkampfes, und damit den natürlichen Zyklen der Fortuna, unterworfen blieb. Die Welt ist eine einzige Wandlung, notierte resigniert der in unaufhörliche Kriege verwickelte humane Kaiser Marc Aurel, und das menschliche Leben bloßer Wahn. Das war eine Radikalisierung der griechischen Überzeugung, dass das Zeitlich-Vorübergehende nicht bewiesen und damit kein Gegenstand von Wissenschaft werden könne. Zu einer Vorstellung der Bedeutsamkeit von Wandlungen kam man auch nicht mit einem weiteren Gedanken des Stoikers auf dem Thron: Wer die Gegenwart gesehen hat, „habe alles gesehen, was sich seit Ewigkeiten ereignet hat und auf unendliche Zeit ereignen werde“. Das Welttheater wiederholt sich, nur mit neuen Schauspielern (Soliloquia).
Es gibt immer auch anderslautende Zeugnisse. Seneca hat etwa die Ansicht geäußert, möglicherweise würden kommende Zeitalter sogar bessere Kenntnisse der Natur besitzen. Einzelne Naturwissenschaftler (Manilius, Plinius d. Ä.) blickten nicht nur mit Stolz auf vergangene Wissensleistungen zurück, sondern glaubten, man könne sie noch übertreffen. Aber in Zeiten skrupelloser Militärherrscher, von Barbaren an den Grenzen und auf dem römischen Thron, mit vergleichbar verheerenden Folgen, war es die blinde Schicksalsgöttin, die die Ereignisse bestimmte.
„So sehr sind wir dem Schicksal verhaftet“, glaubt Plinius d. Ä., der beim Vesuvausbruch 79 n. Ch. ums Leben kam, „dass uns das Schicksal selbst als Gott gilt“. Zum individuellen Ohnmachtsgefühl kam verstärkend hinzu der Eindruck allgemeiner Dekadenz. Ihm entsprach eine geistige Rückwärtsgewandtheit, die sich an die Bewahrung und Systematisierung des Alten klammerte, und oft mit finsterstem Aberglauben vertrug.12
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Zusammenfassend können wir feststellen, dass das griechisch-römische antike Denken gewiss nicht „ahistorisch“ war, wenn auch kaum historisch im Sinn der Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit von Situationen und Akteuren, oder gar einer schrittweisen ‚Selbstverwirklichung der Menschheit‘. Die Idee einer Entwicklung entsprach zwar den aristotelischen Vorstellungen von Entelechie, der Verwirklichung vorhandener Anlagen, aber der ansteigende Stufenbau von Zwecken gipfelt in keinem geschichtlichen Zukunftsprojekt. Die Alten wussten durchaus von Fortschritten in diversen Bereichen, blickten aber in der Regel zurück, auf die Großen der Vergangenheit und auf überzeitlich gültige Werke und Taten. Sie kannten sehr wohl das überragende Individuum, aber interessierten sich eher fürs Allgemeine, die fysis, den immer gleichen Naturprozess, in den das Menschenleben wieder einmündet (Windelband). Das zeigen die jedem Sterblichen gesteckten Grenzen, an denen noch die größte Tat scheitert. Daran sind nicht nur irrationale Leidenschaften, Streit und Krieg schuld. Auch die Begierde nach Neuerungen hat den Menschen, nach dem Beispiel des Ikarus, aus der festen Ordnung der Dinge gerissen – eine Denkfigur, die heute wieder eine gewisse Faszination ausübt. Alles Menschenwerk ist von Vergänglichkeit gezeichnet; schon weil die hohe Kultur uns besonders korruptionsanfällig macht, folgt auf die Blüte notwendig Niedergang und Tod. So wird auch Vergils Ewiges Rom als Endzustand des Friedens, des Rechts und der Gesittung seit den Einfällen der Barbaren durch Anschauung falsifiziert. Die antiken Erzählungen von der Entstehung der Zivilisation und ihren Leistungen verbleiben im Zeichen der Radmetapher – vielleicht mit dem Vorbehalt, Wiederholung finde nur statt, wenn man nichts dagegen unternimmt (Demandt).13