Читать книгу Der Fortschrittsglaube - Werner Bedrich Loewenstein - Страница 6
VORWORT
ОглавлениеIn des Verfassers jungen Jahren, nach dem II. Weltkrieg, war „Fortschritt“ ein allgegenwärtiges Schlagwort. Es besaß eine mobilisierende, aber auch dichotomisierende Qualität: nach den stickigen Jahren der Unterdrückung vermittelte es Hoffnung auf einen Aufbruch in Neues und Besseres, machte aber zugleich auf einem Auge blind. In der Tschechoslowakei, dem eher skeptischen Land von Hašeks ‚Partei des gemäßigten Fortschritts im Rahmen des Gesetzes‘, genoss der Begriff über das linke Parteienspektrum hinaus eine hohe Wertschätzung. Der neugeschaffene Staat begriff sich nicht einfach als Frucht des I. Weltkriegs, sondern einer jahrhundertelangen, sinnvollen Geschichte; als Gegenstück zum ‚reaktionär‘ etikettierten Habsburgerreich hatte sich die Republik in den zwei Jahrzehnten ihrer Existenz in manchen Bereichen dem modernen Zeitgeist angepasst. Das mochten frustrierte Bevölkerungsteile, die marginalisierten Sudetendeutschen, die katholischen Slowaken, die moskaugläubigen Kommunisten, anders empfunden haben; durch das Trauma von 1938–1945 war dann das fortschrittliche Renommee, vor allem Masaryks „humanitäre Demokratie“, ihr Glaube, von der Geschichte getragen zu werden, stark angeschlagen.
Die Fortschrittsidee wussten nun die Kommunisten mit Vehemenz und einigem Geschick für sich in Beschlag zu nehmen: Nur ihre radikalen Rezepte und vereinfachenden Parolen entsprachen dem kategorischen Imperativ der Zeit nach 1945; nur sie beanspruchten, den Schlüssel zur Zukunft zu besitzen, und wer ihnen zu widersprechen wagte, war in ihrer manichäischen Rhetorik ein ‚Reaktionär‘.
Das war für den Autor ein prägendes Schockerlebnis, das sich fortsetzte in Überrumpelung und anschließender gewaltsamer Gleichschaltung aller Bereiche nach sowjetischem Vorbild. Dabei war nicht nur Gewalt durch skrupellose Aktivisten im Spiel, die sich mit ‚dem‘ Fortschritt legitimierten, sondern auch die innere Schwäche einer verwirrten Mehrheit vor einer scheinbar unwiderstehlichen Logik der Geschichte.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dieses Urerlebnis mit seinen vier Jahrzehnte dauernden Folgeprozessen habe dem Verfasser die Themen vorgegeben. Die totale ideologische Herausforderung hat aber die geistige Auseinandersetzung immer wieder unausweichlich gemacht: das Nachdenken über Voraussetzungen, geschichtliche Weichenstellungen, mögliche Alternativen zum sowjetmarxistisch verflachten Fortschrittsglauben. Das war dem zunächst geduldeten jungen ‚Nischenwissenschaftler‘ innerhalb der realsozialistischen Strukturen begrenzt möglich, dem nach 1968 definitiv ernüchterten, von Berufsverbot betroffenen und 1979 emigrierten Dissidenten ein dringendes Bedürfnis.
Es waren naturgemäß, ob man sich mit Liberalismus, dem Weltkriegserlebnis, Rechtsradikalismus, Aufklärung, bürgerlicher Gesellschaft, Nationalismus oder Revolutionen befasste, eher Einzelaspekte, die sich nicht automatisch zu einem geschichtsphilosophischen Konzept zusammenfügten. Aber der vorwissenschaftliche Erlebnishintergrund, nicht zuletzt die ideologischen Anmaßungen des Regimes, haben die eigene Wahrnehmung immer beeinflusst, nicht nur in einem fruchtbaren, erkenntnisschärfenden Sinn: Auch die Kritik falscher Fragestellungen kann die Sicht beeinträchtigen. Wenn nun, gegen Ende eines schon ziemlich langen Gelehrtenlebens, versucht wird, Bilanz zu ziehen, dann bildet das, was einen bewegte, natürlich einen Wahrnehmungsfilter, doch geht es nicht nur um Existentielles, sondern in erster Linie darum, zu verstehen. Es soll auch nicht behauptet werden, es handle sich um die bloße Zusammenfassung ein halbes Jahrhundert lang angedachter Ansätze.
Nachträglich glaubt man, eine gewisse Logik im eigenen intellektuellen Werdegang zu erblicken, doch war vieles zunächst nur unpräzise angedacht, das theoretische Begriffsinstrumentarium des philosophischen Einzelgängers nicht ausreichend und evidente Zusammenhänge unklar. Man lernt auch im hohen Alter ständig dazu, und natürlich beruht auch im vorliegenden Text nicht alles auf eigenen Forschungen: Das Panorama einer europäischen Ideengeschichte übersteigt zwangsläufig die Kräfte eines einzelnen Autors.
Auch das methodologische Vorgehen bedarf des Kommentars. Der Verfasser versteht sich als interdisziplinär arbeitender Historiker, und eben nicht als systematischer Philosoph. Das hat zwar vermutlich Vorteile für den Nicht-Fachmann als Leser, nicht zuletzt durch Einbeziehung des realgeschichtlichen Hintergrunds, aber kann die professionelle theoretische Analyse nicht immer ersetzen: man bleibt möglicherweise unterhalb der letzten Feinheiten des Fachdiskurses, jedenfalls angewiesen auf Hilfe über den Zaun der Zunft hinweg. Auch die Auswahl der einzelnen Themenschwerpunkte und exemplarischen Persönlichkeiten dürfte kontrovers sein; das Prisma des subjektiven Interesses und eigener Vorarbeiten, eines nur-europäischen Horizonts, auch mangelnder naturwissenschaftlicher Ausbildung, mag zum Ärgernis werden oder zur Illustration von Wittgensteins verlorenem Hausschlüssel, der nur im Lichtkreis der Straßenlaterne gesucht wird – obgleich er woanders liegen kann.
Die sich zur Neuzeit hin verdichtende Untersuchung oszilliert zwischen dem biblischen Fortschrittsparadigma in seinen einmal mehr, einmal weniger säkularisierten Varianten, der realgeschichtlichen Lebenswelt und dem gedanklichen Selbstverständnis bzw. Zukunftsentwurf der Protagonisten. Das kann als Überbleibsel marxistischer Methode missverstanden werden, doch ist das Denken nie auf das soziale oder kulturelle Milieu, gar auf biographische Banalitäten reduzierbar. Der Dialog zwischen dem subjektiven Ausdruck und den jeweiligen Lebensumständen bildet in der Regel ein sich gegenseitig erhellendes Instrumentarium der Erkenntnis.
Noch eines bleibt zu erläutern. Im Titel dieses Buchs ist von Fortschrittsglauben die Rede, nicht von realen Fortschritten, und auch nicht von Fortschrittstheorie. Damit wird das unvermeidliche Werturteil im Begriff unterstrichen. Es ist wenig umstritten, dass es in der Geschichte der Menschheit reale Verbesserungen der Lebensumstände gegeben hat und diese auch quantitativ darstellbar sind. Jenseits des Wissenschaftlich-Technischen, gar als geschichtsphilosophische Idee eines einzigen, zielgerichteten Prozesses nach Art der biologischen Evolution, gerät der Gedanke aber unter Ideologieverdacht. Menschen, die in ihrer Zeit etwas bewegten oder entdeckten, die sich im Namen bestimmter Wertvorstellungen für Reformen, für die Abstellung von Missbräuchen oder auch nur Verbesserungen ihrer technischen Geräte einsetzten, haben vieles bewirkt, aber im Rückblick nur selten das, worauf sie hofften oder woran sie glaubten, manchmal geradezu das Gegenteil. Dieser Diskrepanz zwischen dem Wünschenswerten und dem Resultat, dieses jesuanischen Nicht-Wissens, was sie tun, sind sich die handelnden Menschen selten bewusst, ebenso wenig, wie die Nachgeborenen der Kontingenz des Geschehenen: dass es hätte wesentlich anders kommen können.
Wenn man sich als Agent einer eindeutigen Vorsehung weiß, beruhigt, ermuntert, legitimiert das zweifellos die ‚Geschichtstäter‘: Sie handeln sozusagen in höherem Auftrag. Es ist uns trotzdem nicht primär um die Entlarvung solcher ideologischer Selbsttäuschungen zu tun, eher um die Aufarbeitung jener langen Reihe von trial and error, die nicht zuletzt die europäische Identität ausmacht. Diese ist nicht auf eine Formel zu bringen, sondern bleibt ein nie entschiedener, offener Diskurs. Im Glaubensbegriff, für den wir uns entschlossen haben, ist natürlich das Motiv des Zukunftsvertrauens enthalten, die Zuwendung zum Neuen und Ungewohnten, das Wagnis der Grenzüberschreitung; aber weder hat die Richtung des prometheischen Ausgreifens einen eindeutigen gemeinsamen Nenner, noch ist die europäische Dynamik vermutlich eine völlig einzigartige. Analogien der Suche nach dem Gottesreich, okzidentaler Rationalität, des Freiheits- und Emanzipationsstrebens, des ausgeprägten Individualismus mag es auch in anderen Zivilisationen gegeben haben; kaum aber in ständigen gegenseitigen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Relativierungen, die eine Selbstinfragestellung und Selbstkorrektur immer wieder ermöglicht haben.
Aus der Volkswirtschaft kennt man das Phänomen der Erwartungen, die sich mit den Realitäten alles andere als decken, aber dennoch relevant für die Situationsanalyse sind. Beim Beschreiten unerprobter Wege, der Einführung neuer Werte und Kulturtechniken, dem Kampf um die Neugestaltung des Zusammenlebens, bedurfte es einer Geisteshaltung, die den Entschluss, sich vom beherrschenden Kanon des Raums, dem heiligen Mutterboden des Hergebrachten zu lösen, nicht völlig unterbindet, sondern möglich macht. Es mag realgeschichtliche Erklärungen dafür geben, warum das „Abendland“ in der Neuzeit die übrigen Weltkulturen überholte, mit Sicherheit auch Impulse geistiger Art: das Selbstverständnis dieses Aufbruchs wird immer von älteren Inspirationen geprägt. Diesen Weg säumten Missverständnisse oder Missbrauch, und vielleicht gerade deshalb ist der Dialog zwischen dem Denken und konkreten Lebenswelten wichtig; es ist aber alles andere als gleichgültig, worauf sich die Menschen beziehen, wofür sie sich selbst halten.
Heute scheint der in seiner Herkunftsregion fragwürdig gewordene Fortschrittsglaube in andere, ‚nachholende‘ Teile der Erde auszuwandern; man versucht dabei auch an Elemente autochthoner Traditionen anzuknüpfen, aber die wesentlichste Wurzel des Fortschrittsglaubens ist zweifellos die europäische. Damit werden die Peripetien des westlichen Glaubens, einschließlich westlicher Irrtümer und Sackgassen, auch zu deren Herkunftsgeschichte.
Den chronologisch angelegten Kapiteln wird eine die Problematik klärende theoretisch-bibliographische Überlegung hinzugefügt. Sie enthält Hinweise auf eine Reihe einschlägiger Werke zum Thema, während der eigentliche Text sich mit einem Minimum an Anmerkungen begnügt, die nur gelegentlich die eigenen Ausführungen ergänzen. Auf ein Literaturverzeichnis musste im Hinblick auf den Essaycharakter, aber auch den leider zu groß geratenen Umfang des Buches, verzichtet werden.
Bedrich Loewenstein