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5. Fortschritt, Erneuerung, Vorsehung

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Der übergreifende historische Sinnbezug ist eine Erbschaft aus Zeiten, die das menschliche Geschehen nicht als Gegenstand bloßer Neugier oder exemplarischer Belehrung, sondern als schrittweise Selbstoffenbarung Gottes verstehen wollten. Die Deutung dieses Geschehens als einer einzigen großen Kette, mit doppelter Ausrichtung auf eine sinnvolle Vergangenheit und eine zukünftige Erfüllung, war durch die allmähliche Enttheologisierung der Wertvorstellungen und Lebensentwürfe problematisch geworden. Eine weltliche Alternative, die mehr gewesen wäre, als eine diskontinuierliche Sammlung bevorzugter Lichtepisoden in der langen „abstrakten Nacht“ der Zeiten und Räume ohne erkennbare Fortschritte, bot sich vorerst nicht an.

Philipp Melanchthon erklärte 1518 in seiner Wittenberger Antrittsrede, unsere Erde könne eher die Sonne als Lebensprinzip entbehren, als unser bürgerliches Dasein die Geschichte. Das wäre rein säkular ein problematischer Satz gewesen. Seit Bacon und noch stärker seit Descartes († 1650) galt Tradition geradezu als Quelle aller Irrtümer; analog war nicht schrittweises Verbessern und allmähliches Finden philosophisch korrekt, sondern der intellektuelle Selbstentwurf, das clare et distincte percipere ohne Verunreinigung durch das Kontingente und Konfuse, ohne „kognitive Schulden“ (E. Gellner) bei unsicheren Autoritäten. Die gesamte Wirklichkeit sollte nicht mehr als vorgegebenes System objektiver, über sich selbst hinausweisender Zwecke aufgefasst werden, sondern als Objekt mathematisch begründeter Erkenntnis und praktischer Beherrschung. Die zweckmäßige, auf teleologische Ziele ausgerichtete Ordnung zählte zu Bacons „Idolen“: Was vor uns lag, war ein quantitativ erfassbares, mechanisches Naturgeschehen, ohne Unterschied von oben und unten, belebt und unbelebt.

Was die Wirklichkeit der Geschichte betrifft, hilft sie nach Descartes, „vorsichtig gelesen“, das praktische Urteil zu bilden, aber insgesamt verbleibt sie im Trügerischen und für die Wahrheit Bedeutungslosen. Die baconsche Perspektive eines „maître et possesseur de la nature“ enthält jedoch die stillschweigende metaphysische Voraussetzung eines nach dem Unendlichen strebenden Wesens, das auf der Basis wachsender Erkenntnis sowie freier Entscheidung für das Wahre und Gute der Bestimmung zu Gottähnlichkeit näherkommt. Diese Voraussetzung, nebenbei Descartes‘ Gottesbeweis, steht auf recht unsicheren Beinen. Der Mensch, der lernt, die Natur zu beherrschen, ist kein anderer als der, der über seine Mitmenschen Schrecken bringt und die gewonnene größere Macht regelmäßig für seine beschränkten, egoistischen Zwecke benutzt. Schon eine durch individuelle Anstrengung erzielte ‚unbefleckte Erkenntnis‘ war im gegebenen sozialen Kontext kaum zu haben und bedurfte bei Descartes der Absicherung durch die Annahme eines göttlichen Aktes, der das erkennende Ich und die erkennbare Welt, res cogitans und res extensa, zweckmäßig aufeinander abstimmt.

Die galileische Wissenschaft war im übrigen nicht einfach evident, sondern widersprach regelmäßig der alltäglichen Erfahrung des gesunden Menschenverstands; bei aller Mathematik war sie irgendwie auf Glauben angewiesen (v. Weizsäcker). Hinzu kam, dass sich der deklarierte erkenntnistheoretische Nullpunkt nur auf einzelne Wissensbereiche bezog, und die Einfallstore des Herkömmlichen schon aus soziologischen Gründen breit bleiben mussten: Die Sprecher der neuen Zeit standen trotz aller sektoralen Verweltlichung und allen methodischen Zweifels einer traditionalistischen großen Mehrheit gegenüber. Die Denker empfanden einen entsprechend starken Druck, geistige und institutionelle Surrogate zu entwickeln für die alten, allzu großen Fragen, „überanstrengende“ Fragen, die „gleichsam herrenlos und ungesättigt“ im Raum stehen geblieben waren (H. Blumenberg).

Da waren immer noch Spuren jener offiziell bekämpften, ins Sektendasein abgedrängten, aber untergründig stets präsenten alten Eschatologie, die schon in Form von Volksprophetien die Phantasie der Zeitgenossen beschäftigte; vor allem aber verstand diese die Ereignisse der Menschengeschichte immer als Momente einer gerichteten, deshalb sinnvollen Zeit, mit dem Versprechen der Erfüllung als telos. Nur wie sollte man, ohne Überwindung des herkömmlichen Bruchs zwischen unmittelbarer rationaler Evidenz und wirrer Weltzeit, ohne Teilhabe an einem übergreifenden Geschichtslogos, die einzelnen Ereignisse und Erkenntnisse zu einem irreversibel fortschreitenden Ganzen zusammenfügen?

Seit der Antike besaß man Begriffe oder zumindest Metaphern, um den „Gang der Zeiten“ zu deuten: Altern, Wachstum, Wiederkehr, Erneuerung etc. Es ging nicht nur darum, aus den wiederkehrenden Kreisläufen von Aufstieg und Verfall überzeitlich gültiges Wissen zu bewahren oder auch den „transhistorischen Erwartungsraum“ mit innerweltlicher Vernunft zu füllen, die organischen Metaphern zu „denaturalisieren“, also Verfall und Altern auszublenden (R. Koselleck).59 Es hieß vor allem, teleologische Begriffe, wie „Vervollkommnung“ allmählich aus ihrem theologischen Kontext zu emanzipieren und sie mit Vertrauen in die Macht säkularer Erkenntnis zu versehen.

Die europäische Aufbruchszeit hatte den Kompass erfunden (bzw. von den Chinesen und Arabern übernommen), war aber einstweilen noch außerstande, auf eine supranaturale Ordnung als Garant und Notanker zu verzichten. Das betraf auch den historischen Erfahrungsraum, aus dem ohne die Tröstung durch ein versöhnendes Resultat nur „moralische Betrübnis“ entgegenwehte, und nichts als Schlachthäuser und eine verworrene Trümmermasse (Hegel) zu bieten schien. Die Vernunft selbst musste ihre Vertrauenswürdigkeit als Gabe Gottes rechtfertigen, bestimmt, das Buch der Natur zu studieren (Galilei), wenn nicht die Anbetung des Schöpfers mit Mitteln der Mathematik zu vollziehen.

Descartes hatte das Postulat einer von Vorurteilen freien Gesellschaft aufgestellt: das mochte die Naturwissenschaftler inspirieren, taugte aber kaum als kultureller Kitt, vermittelte kein wirkliches irdisches Zu-Hause-Sein und keine symbolischen Vergewisserungen. Auch deshalb – und weil die bestehenden Mängel erträglicher seien, als ihre Veränderung – empfahl der radikale Denker vorsichtig, „den Gesetzen und Sitten des Vaterlandes zu gehorchen und die Religion standhaft beizubehalten (Discours de la méthode, 1637). Das war inkonsequent, aber nicht unüblich und auch nicht unvernünftig: Abgesehen von autoritären Instanzen, die unvorsichtigen Wissenschaftlern mit unorthodoxen Ansichten gegebenenfalls die Folterwerkzeuge zeigten, ist jede Kultur angewiesen auf ‚Vorurteile‘, auf Erzählungen, auf Wertkontexte, die nicht zur Verfügung stehen.

Descartes sagt einmal, dass Völker, die aus dem „ursprünglichen Zustand halber Wildheit sich nur allmählich zivilisiert“ hätten, nicht so gute Einrichtungen besäßen, wie diejenigen, die der Anordnung eines einzigen weisen Gesetzgebers gefolgt seien. M. a. W., der Rationalist misstraut der Geschichte; sie war im Jahrhundert des Rationalismus noch nicht vorstellbar als immanentes Fortschreiten der Menschheit zum Besseren oder als Selbsterziehung durch die Entfaltung vernünftiger menschlicher Anlagen, auch nicht als schrittweise Verwirklichung rationaler Entwürfe (die ungeschichtlichen Utopien vorbehalten blieben), und schon gar nicht als säkulares Endgericht. In einer Welt voll Unsicherheit und Schicksalsschlägen neigte man eher zu Beschwörungen alter Denkfiguren – schon um der täglich bestätigten augustinischen series calamitatum und der Furcht vor der unberechenbaren Fortuna zu entgehen.

Descartes wollte in den Komödien der Zeitgeschichte, wie andere katholische Humanisten, „lieber Zuschauer als Akteur“ sein; lieber sich selbst als die Weltordnung verändern. Auf den Schauplätzen des Dreißigjährigen Krieges gewann er die Erkenntnis, dass „nichts vollständig in unserer Macht ist als unsere Gedanken“. Um seinen Grundsätzen ein Echo zu verschaffen, brauchte es allerdings mehr, weshalb sich der Philosoph 1628 inmitten eines praktischen und einigermaßen toleranten Volkes niederließ, das „mehr für seine eigenen Angelegenheiten sorgt, als sich um fremde zu kümmern“, nämlich des niederländischen.

Seinen Zeitgenossen, den böhmischen Reformer und Pädagogen Komenský-Comenius († 1670) hatten die „Wirbelstürme des Zorns“ ebenfalls durch halb Europa getrieben, bevor er in den Niederlanden eine letzte Zuflucht fand. Auch Comenius war auf der Suche nach einer universalen Erkenntnismethode, einer „auf das Ganze bezogenen Weisheit“ und, wie Descartes, wandte er sich enttäuscht vom „Labyrinth der Welt“ ab, um im Ich, dem Paradies des Herzens, ein Asyl zu finden. Das passte in die Verzweiflung seiner verfolgten Brüder-Unität nach 1621 und klang wie eine Vorwegnahme des Pietismus. Es war wohl auch, wie die Vorstellung von der Pilgerschaft, eine barocke Metapher, aber der Gedanke eines forum internum war insofern modern, als im Medium des Subjekts die radikale Überwindung der Täuschungen und Verstrickungen (der „Brille der Verblendung“, analog den baconschen Idola) gefunden werden sollte.60

Auch für den Pädagogen ist im Menschen, wie in einem Mikrokosmos, schon alles enthalten; die verlorene Gotteskindschaft kann wiedergewonnen, aus der Harmonie der übrigen Schöpfung herausgelesen werden. Es muss nichts von außen in ihn hineingetragen, sondern nur erzieherisch entwickelt werden (involuta evolvi heißt es ausdrücklich in seiner Didactica Magna). Kein stoisches Ruhen im selbstgenügsamen Ich lautet die Aufgabe, sondern sich als Ebenbild Gottes im Werk der Erneuerung wiederzufinden: Das Moderne und das Traditionelle fallen zusammen. Comenius’ Ariadnefaden aus dem Labyrinth führt zu nichts Geringerem, als der „Instandsetzung“ der gesamten Welt, ihrer Rückführung zu Gott. Das war der religiöse Sinnhorizont seiner sehr modernen Pädagogik, seiner pansophischen, irenischen und ökumenischen Bemühungen, die den Menschen befähigen sollten, durch Erziehung und Einsicht am großen Reformwerk teilzuhaben.

Descartes, dem der böhmische Exulant 1642 auch persönlich begegnet war, wandte ein, Comenius vermische vermessen Himmel und Erde, gestand aber ironisch zu, er, Descartes, befasse sich nur mit einem Teil, jener aber mit dem Ganzen. Die Einschränkung gehört zur neuzeitlichen instrumentalen Rationalität, die auf die Handhabbarkeit der Lebenswelt, in der Regel auf Teilbereiche, abzielt. Comenius bemerkte dazu mehrfach, die Reform eines Teils reiche nicht aus; es müsse „ein Universalmittel für den ganzen kranken Körper geben… und nicht bloß ein Pflaster auf den Kopf“ (Unum necessarium, 1668). Comenius kannte Bacons Programm der „Wiederherstellung“ der Wissenschaften, aber wollte sich keineswegs mit diesen begnügen; vor allem verabscheute er das übliche ‚asylum ignorantiae‘, das Spiel der Intellektuellen mit der zweifachen Wahrheit. Überzeugt von der Einheit des stufenförmig geordneten Seins, das Analogieschlüsse von einer Sphäre auf die andere ermöglicht (von seiner Lateindidaktik auf das Studium der Welt), ging es ihm konsequent um mehr als nur die Beherrschung eines Sektors der außermenschlichen Natur, sondern um eine Generalreform aller menschlichen Lebensbereiche – die ja die neue Methode Bacons und Descartes’ ausklammerte. Comenius’ Ruf gründet auf dem pädagogischen Werk, doch sollte dieses nur ein Stück des Ganzen sein. Der spekulative Gedanke von der Welt als Schule der Gotteskindschaft und Werkstatt Gottes wird umgesetzt in Form eines umfassenden Bildungsideals als Werkzeug zur Verwandlung der Menschheit. Die verkehrte Welt sei resistent gegenüber der besten Schule, war eine realistische Einsicht innerhalb seines zweifellos utopischen Projekts.61

Comenius’ lange verschollenes siebenbändiges Werk De rerum humanarum emendatione (ab 1644), das Programm einer „Wiederaufrichtung“ der Dinge, konnte und wollte sich schon deshalb nicht mit weniger begnügen. Sein Erwartungsrahmen war die Mitarbeit an der Wiederkehr Christi durch die Reform der vom Menschen deformierten Schöpfung. Aus mechanischen Bewegungen der ‚entgeisteten‘ Natur war sein Fortschrittskonzept nicht zu gewinnen. Auch nicht die Gleichheit alles dessen, was ein menschliches Antlitz trägt, eine seiner Grundüberzeugungen.

Der schwedische Kanzler Oxenstjerna hielt bei seiner Begegnung mit Comenius dessen Hoffnung für wenig realistisch und war, wie die Holländer, eher an dessen Sprachlehrbüchern interessiert, aber er enttäuschte den Exilpolitiker auch in der Realgeschichte, indem er 1648 auf die Hoffnungen der böhmischen Protestanten keine Rücksicht nahm.62 Comenius ist jedoch nicht nur als Politiker gescheitert. Auch in London, wohin ihn die „utopistische Internationale“ mit dem großen intellektuellen Makler und späteren Berater Cromwells Samuel Hartlib an der Spitze, eingeladen hatte, wird sein zunächst erwartungsvoll aufgenommenes Reformprojekt vom Parlament fallengelassen; der Samen geht auf andere Wiese, in Form der Royal Society auf (die Comenius jedoch wegen ihres ausschließlichen Interesses an Naturwissenschaften und Technik kritisiert). Seine Pläne einer antihabsburgischen Allianz mit dem siebenbürgischen Fürsten Rákóczi, dessen Schulen er vergeblich zu ordnen sucht und den er mit der Tochter des böhmischen Winterkönigs Friedrich vermählt, enden mit dessen frühem Tod; 1656 verbrennen in Lissa mitsamt Komenskýs gesamter Bibliothek auch die ungedruckten Manuskripte, die er hartnäckig rekonstruiert. Auch die realistischen Niederländer drucken bloß die didaktischen Schriften, die doch nur Vestibulum und Ianua (Vorraum und Eingangstor) zum eigentlichen Atrium der VIA bilden sollten. Noch an seinem Lebensende wird der Exulant vom einflussreichen Theologen Maresius als Chiliast und Umstürzler („Fanaticus, Visionarius et Enthusiasta in folio“) denunziert.

Verzweiflung sei eine Beleidigung Gottes: Bei allem detailfreudigen Praktizismus ist das Handeln des letzten Bischofs der in alle Welt zerstreuten Böhmischen Brüderunität fest verankert in einem providentialen Horizont, ja seine Vorstellung von Geschichte gleicht geradezu einem Barocktheater mit Gott als Regisseur. Der Inhalt des Stücks ist „stufenweise zunehmendes Licht“, ein quasipädagogisches Fortschreiten vom Einfachen zum Höheren, vom Guten zum Besseren und Besten – ein Nachvollzug der Schöpfungstage. Die Theatermetapher meint keineswegs, dass der Mensch passiver Zuschauer eines göttlichen Spektakels bleibt, es bedarf seiner Mitarbeit, doch versteht er den vollen Sinn der Aufführung erst am Ende des Stücks (Panorthosia, All-Wiederherstellung).

Die andere Metapher, das Licht, meint nicht nur, aber auch: profanes Wissen. Die Sehnsucht danach ist dem Menschenherzen eingepflanzt, und Gott tut bekanntlich nichts unnütz. Aber bloßes Wissen, Bacons „entsühnte Vernunft“, bleibt richtungslos, ja ist für ihn satanische Versuchung; Satan versprach uns, zu werden wie Gott, aber in Wirklichkeit wurden wir jenem ähnlicher und hielten das Böse für das Gute; sogar König Salomos Weisheit (eine Anspielung auf Bacons Nova Atlantis) ist eitel, weil wir uns von Teilwahrheiten irreführen lassen. „Zunehmendes Licht“ ist keine innerweltliche Fortschrittsmetapher.

Aber „wer würde den Tag der kleinen Arbeiten verachten?“ Inmitten immer neuer Katastrophen nimmt Comenius’ Chiliasmus die Gestalt unermüdlicher Arbeit an, mit dem Ausblick auf vollkommene Wiederherstellung. Die Eschatologie gipfelt nicht im Weltuntergang,63 sondern, entsprechend der Vorstellung von menschlicher Mitarbeit an Gottes Werk, im ökumenischen Konzil. Der großen Versöhnung und „Allreform“ den Weg zu bereiten, ist der Sinn seiner immensen pansophischen, pädagogischen, irenischen und ökumenischen Bemühungen; auch die Sprachlehre dient der Verständigung in einer höheren Bedeutung des Wortes. (Comenius‘ bekanntestes Buch, Orbis sensualium pictus, war nur das „Vestibulum“ des größeren Werks.) Trotzdem sind Endzeitprophezeiungen (Lux in tenebris) der paradoxe Hintergrund von Comenius’ Bemühungen um irdischen Fortschritt: Der Mensch verrichtet auf Erden eben nicht nur sein eigenes Werk; die Irrwege des Labyrinths sind Teilstücke einer höheren Didaktik.

Wie das New Learning der Puritaner die radikale Absage an die alte Ordnung anzeigt und die Pilger ins Gelobte Land jenseits des Ozeans Fortschritt verstanden als Loslösung von der alten korrupten Welt, so ist auch Comenius der Neuanfang durch Christus vorgezeichnet, der die menschliche Arbeit vom Fluch befreit und die Mitarbeit im Grenzbereich von regnum hominis und civitas Dei (Jan Patočka) ermöglicht hat. Die Welt ist wohl ein Jammertal, aber zugleich ein Ort der Bewährung, des progress im Sinne von John Bunyans späterer vielgelesener Schrift (1678).

Pierre Bayles herber Tadel an Comenius’ Anfälligkeit für chiliastische Phantastereien (sein Artikel über Kotter, Drabicius und Comenius im Dictionnaire, 1697) schließt eine Parallelität dessen Reformentwurfs mit dem Francis Bacons nicht aus. Wie dieser, will Comenius von der Natur aller Dinge und ihrer Beobachtung ausgehen, wie der Brite will er praktisches Wissen: „Die griechischen Musen sind tatsächlich Musen und nichts mehr; unfruchtbare Jungfrauen, die zum praktischen Bedürfnis nichts als magere Grübeleien beitragen.“ Es war nicht sehr realistisch, das Collegium lucis, das nichts weniger als die gesamten gelehrten Bestrebungen Europas koordinieren sollte, ausgerechnet in Prag ansiedeln zu wollen (später hielt er Amsterdam für einen geeigneteren Ort; Comenius’ Enkel Jablonski ist drei Jahrzehnte nach dessen Tod führend an der Gründung der Berliner Akademie beteiligt).

Es wäre auch nicht einfach gewesen, das oberste Gelehrtenkolleg (Dicasterium lucis) neben einem Weltkonsistorium der zänkischen Kirchen und einem obersten Schiedsgericht der Staaten (Dicasterium pacis) anzusiedeln. Aber die Bildungsreform war schwer vorstellbar ohne eine ökumenische Annäherung der Kirchen und ihrer Lehren, ebensowenig wie die Glaubensreform Bestand gehabt hätte ohne eine Neuordnung des zwischenstaatlichen Bereichs. Der Fortschritt in einer Sphäre ist angewiesen auf Fortschritte in den übrigen, und er brauchte nicht zuletzt metaphysische Abstützung und Ermunterung, die über Bacons und Descartes’ Wissenschaftsverständnis hinausgingen.

Comenius verwirft konsequent Gewalt und Zwang als Mittel der großen Reform, sondern vertraut auf Einsicht und Verständigung: Gegen fremde Anordnung lehnt sich die menschliche Natur auf. Sie lässt sich lieber durch den eigenen, als den fremden Verstand leiten, und da niemand glauben will, von Vorurteilen geleitet zu werden, sei die Anerkennung unterschiedlicher Positionen bei der Suche nach der Wahrheit notwendig, ja heilsam im Interesse der Bildung. „Steuern wir also… das Ziel an, dem Menschengeschlecht Gedanken-, Religions- und Bürgerfreiheit wiederzugeben.“ Das Neue kommt auch bei Comenius im Gewand des Alten und wird im Begriff der restauratio und Gottes Lenkung verstehbar. Gewiss deckt sich Comenius’ Freiheitsverständnis nicht mit dem modernen, und auch nicht mit dem des Cartesius, der Willensfreiheit im Feld des Irrtums und der verworrenen Triebe ansiedelt. Sein übergreifendes Menschheitsziel, in das die partiellen menschlichen Fortschritte einmünden und in dem das einzelne Scheitern aufgehoben wird, bedarf der providentiellen Leitung. Nur so gilt: „Die Frucht der Jahrhunderte, die Erneuerung der Dinge lässt sich durch keine Macht aufhalten.“

Wie bei Althusius, Komenskýs Herborner Lehrer, beruht das Politische zumindest auf festen ethisch-moralphilosophischen Grundlagen; Macht ist keine autonome Staatsraison, sondern immer Dienst, und ist auf Zustimmung angewiesen. Auch was man Geschichte nennt, ist kein dem Menschen äußerliches, von außen hereinbrechendes Geschehen, sondern ein inwendiges, das sich im Menschen und durch den Menschen vollzieht, der zum Gehilfen am großen Werk berufen ist, ja der Hebamme sein soll bei der Geburt der großen Zeit (Panorthosia).

Das „Geschichtsbild“ des Comenius ist also synergistisch im Sinn menschlicher Mitarbeit an Gottes Zielen; an einer Stelle gebraucht er das anschauliche Bild vom Gericht, bei dem Gott Vorsitzender ist und „wir alle seine gleichberechtigten Beisitzer“. Eine Panhistorie, die zur Pansophie gehört hätte, ist ungeschrieben geblieben: der Tübinger Freund Magnus Hessenthaler sollte sich der Aufgabe annehmen. Bekanntere zeitgenössische Autoren, wie Hermann Conring († 1681), der Helmstädter Polyhistor, zeigen aber, wie schwierig es war, empirische Staatenkunde bzw. Quellenkritik zu normativen Handlungsmaximen, gar Geschichtsperspektiven, zu verbinden (D. Willoweit).

Eine Andeutung, wie stark sich der harmoniesüchtige Böhmische Bruder trotzdem auf die Säkulargeschichte einließ, bringt sein Angelus pacis (1667). Die Schrift entstand anlässlich des 2. englisch-niederländischen Bruderkriegs, über den Comenius begreiflicherweise entsetzt war. Engländer und Niederländer konnten in ihrem Kampf gegen den Despotismus nie besiegt werden, schreibt er, sollten sie einander jetzt gegenseitig vernichten? „Wenn ihr die gemeinsame Sache der Freiheit verteidigt (die eine Mitgift der menschlichen Natur ist), wer sollte euch überwinden?“ Die Meere gehören keinem, urteilt er nach Grotius; Seefahrt ist eine Gabe Gottes, auch wenn die Entdeckungsreisen Europa vermutlich nicht besser, sondern „in mancher Hinsicht schlechter gemacht haben“. Comenius denkt inmitten der holländischen Regsamkeit nicht daran, den sittlich neutralen Handel zu diffamieren, sondern nur möglichst von den Lastern der Habsucht, des Neides und Hasses zu befreien. „Wer nur sein Recht wahrnimmt, tut keinem ein Unrecht an“: blutiger Streit um Märkte und schnöden Gewinn ist ihm vermeidbarer Greuel.

Comenius macht aus dem Handel kein Fortschrittsziel, aber er glaubt an die Vereinbarkeit von Wohlstand und christlichen Normen; anderenfalls, heißt es, drohe den modernen Völkern das Schicksal der antiken Handelsstadt Tyros. „Wenn ihr das nicht sehen wollt, werden die Historiker sprechen“. Diese sind eben doch keine selbstherrlichen Richter am Schöffengericht der Weltgeschichte, sondern oft nur resignierte Protokollanten eines gottfernen Geschehens. Dies wollte der Aktivist nicht werden.

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Die Historiker sprachen in der Tat eine andere Sprache als die der Hoffnung und des Fortschrittsglaubens. Georg Hornius († 1670), wie Comenius vertriebener Untertan Friedrichs von der Pfalz, der wie dieser in Holland einen Wirkungsort gefunden hatte, war nur ein unkritischer Kompilator mit einem breiten Geschichtsbegriff, der traditionell Geographie und Ethnographie einbezog. Immerhin dehnt sich sein Geschichtsinteresse auf die gesamte Menschheit aus, ja der universalistische Zusammenhang wird durch räumliche Universalität erschlossen und zumindest innerhalb der historia recentior China und die Völker Amerikas einbegriffen (1655, 1665). Die Wiederherstellung der ursprünglichen, seit der Sintflut verlorenen Einheit des Menschengeschlechts bildet bei Horn aber kein Geschichtsziel, es fehlt bei aller Bibelgläubigkeit ein übergreifendes Koordinatensystem, die Ausrichtung auf einen telos, die Integration des vielfältigen Geschehens.

Seit dem Humanismus, und insbesondere dem Dreißigjährigen Krieg, war der Universalgeschichte vollends die institutionelle Basis verloren gegangen, schon weil katholische Kirche, Reich und römisches Recht nur mehr als partikulare Gebilde galten, wie beim erwähnten Hermann Conring, der in De Germanorum imperio Romano (1643) der Kontinuität von Heiligem Römischen Reiches Deutscher Nation und Imperium Romanum ein Ende setzte. Die Kirchengeschichte verlor entsprechend ihre strukturierende Kraft, allmählich herabgestuft zur bloßen Abteilung der Profangeschichte, die selbst über Einzelwissen hinaus keine allgemeine Orientierung zu vermitteln vermochte.

Charles de Saint-Evremont († 1703), französischer Offizier, Literat, Moralist, der Glauben und Wissen strikt auseinander hielt und sich auf Empirie beschränken wollte, warf der zeitgenössischen Geschichtsschreibung (1669) bezeichnend nicht Mangel an geschichtsphilosophischer Ausrichtung vor, sondern fehlenden Kontakt zum praktischen Leben, geringe Kenntnis der Institutionen und Menschen. Saint-Evremont befasste sich selbst vorwiegend mit dem Altertum, und musste sich somit denselben Mangel an unmittelbarer Erfahrung mit dem Gegenstand seiner Darstellungen vorwerfen lassen: Nach einem Konflikt mit Kardinal Mazarin hatte er als Emigrant die Risiken der Zeitgeschichte, das ‚zu engen Kontakts mit der politischen Praxis‘, zu spüren bekommen.

Sein Fazit war der im Späthumanismus verbreitete Topos einer Verschiedenheit von Sitten, Regierung, Religion und Geschmack zu verschiedenen Zeiten: Jede Epoche hat ihren Charakter, ihre Fehler und Vorzüge; so lautet seine keineswegs neue ‚historistische‘ These. Es gibt auch bei ihm einige wenige überzeitliche Regeln, aber nichts ist falscher, als die Antike als Ganzes unkritisch zu bewundern und ihre Gedanken nachzuplappern (Sur les Anciens, 1677/78; Reflexions, 1667/84). Die Eigentümlichkeit der Neuzeit wird bei ihm dabei alles andere als zur Behauptung einer allgemeinen „Höherentwicklung“. Saint-Evremont kennt die Milderung barbarischer Sitten, die Überwindung abergläubischer Vorstellungen, auch die Herausbildung einer „inneren Dimension“, die den Menschen im republikanischen Rom noch zu fehlen schien; aber eine Idee des proceeding in melius, not in aliud (Wandlung zum Besseren, nicht einfach zum Anderen, nach Bacon) wird daraus nicht, schon wegen der mit jeder Wandlung verbundenen Schattenseiten.

Auch die weltlich orientierten großen metaphysischen Systeme des 17. Jahrhunderts bringen für den Fortschrittsglauben wenig Anhaltspunkte. Thomas Hobbes († 1679), dem der Terminus „progress“ an sich geläufig war, blieb die Idee einer irreversiblen geschichtlichen Aufwärtsbewegung fremd. Gewiss steht für ihn am Anfang die „raue Einfachheit“ der menschlichen Verhältnisse; das Leben ist gesetzlos und gewalttätig, „gefährlich, roh und kurz“. Aus seinem fiktiven Naturzustand mit dem Recht aller auf alles ergibt sich der Krieg aller gegen alle; aber seine Überwindung durch den Gesellschaftsvertrag ist kein gesichertes Ergebnis „der“ Geschichte, sondern eine bloße theoretische Formel. Vor allem ist der Vertrag nicht irreversibel: seine Gegenläufigkeit lehrt der zeitgenössische englische Bürgerkrieg mit seiner Infragestellung der friedensstiftenden königlichen Souveränität.

Nach Hobbes, der menschliches Denken als Rechenvorgang verstehen wollte, der auf Handlung und Leistung hinausläuft, verdankte die Menschheit ihre Fortschritte technischem Wissen, während ihre Katastrophen aus der Unkenntnis der Ursachen und Folgen, der wahren Gesetze des bürgerlichen Lebens, herrührten. Die elementare Einheit, auf der das menschliche Zusammenleben letztlich beruht, ist Macht, die wie das Geld ein Äquivalent ist, nach dem sich alles messen lässt und das angestrebt wird, um im wölfischen Konkurrenzkampf des „Naturzustandes“ zu bestehen. Die Vernunft, eine rein instrumentale Kraft, weist aber dem Menschen einen kooperativen Ausweg aus der Wolfsgesellschaft bzw. aus der Piraterie in die Produktion. „…die Wurzel aller Nachteile und alles Unglücks, die durch menschliche Erfindungen vermieden werden können, ist der Krieg, vornehmlich der Bürgerkrieg“. (De corpore I, 1655).

Die Erkenntnis der menschlichen Motive, wie sie Hobbes’ mechanistische Psychologie bietet, soll auch zur Neutralisierung einseitiger Normen, damit zu Frieden und Glück beitragen, während das, was die traditionelle Moralphilosophie lehrt, nach seiner Meinung nicht die Vernunft stärkt, sondern nur Vorurteile und Gefühle.64 Zur Einhaltung des Gesellschaftsvertrags und der Sicherung friedlicher Kooperation bedarf es bei ihm darüber hinaus einer absolutistischen, durch keine Gewaltenteilung eingeschränkten Instanz, der in einer sinnentleerten Welt das Entscheidungs- und Deutungsmonopol zukommt.

Hobbes’ Menschenbild war nicht nur antimetaphysisch, sondern auch naturgeschichtlich-zeitlos, gab aber trotzdem dem Geschichtsdenken einen nicht überzubewertenden Anstoß. Obwohl er selbst Geschichte schrieb und häufig historische, ja auch biblische Beispiele zur Erläuterung seiner scharfsinnigen Gesellschaftskonstruktionen anführte, spielte die eigentliche Geschichte wegen ihrer unaufhebbaren Kontingenz in seinem rationalen Denken keine wesentliche Rolle.

Analog ist Baruch Spinoza († 1677) überzeugt, dass das Wesen des natürlichen göttlichen Gesetzes, das für alle Menschen gleichermaßen gültig ist, „keinen Glauben an Geschichten irgend welcher Art nötig hat, (sondern) aus der Betrachtung der Menschennatur sich von selbst ergibt“ (Theologisch-politischer Traktat, 1670). Spinoza betreibt aber sehr wohl rationalistische Traditionskritik, so war die Art der biblischen Offenbarung in seiner Darstellung insofern historisch, als sie immer der Denkweise und Fassungskraft der jeweiligen Adressaten entsprach, die von der eigentlichen Botschaft getrennt werden muss. Spinoza weiß: Auch heute wollen die Menschen lieber herkömmliche Geschichten hören, als eigene Betrachtungen anzustellen. Das Lesen solcher Geschichten mag auch recht nützlich sein, doch notwendig für Tugend und Glück ist es so wenig, wie die äußerlich frommen Bräuche und Symbole. Die große Menge mit ihrer mangelnden Vernunft und Voraussicht ist nicht zuletzt auch der Grund, warum Gott als Herrscher und strafender Gesetzgeber dargestellt wird: In Wirklichkeit „sind seine Befehle und Willensentschließungen ewige Wahrheiten“ (ebenda).65

Einen gewissen Ansatz zum Fortschrittsdenken bietet allenfalls die unter italienischen Historikern verbreitete Maxime, wonach wechselseitige Hilfe, Arbeitsteilung und Frieden die notwendige Bedingung sind für Künste und Wissenschaften; ohne sie wäre das Leben der Menschen armselig und elend. Der vernunftgeleitete Mensch ist freier im Staat als in der Einsamkeit, wo er nur sich selbst gehorcht, wie auch Spinozas Ethik (1677) konzediert; nur kann der Zweck des Staates nicht sein, Frieden um den Preis einer Verwandlung der Menschen in Sklaven herzustellen: „Frieden besteht nicht [allein] im Verschontsein von Krieg“ (Politischer Traktat). Gegen Hobbes wie die Frömmler, die Heuchelei prämiieren und das gegenseitige Vertrauen zerstören, erklärt Spinoza, die Gewährung öffentlicher Meinungsfreiheit schwäche den Zusammenhalt der Gesellschaft keineswegs, ja „der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“ (Theologisch-politischer Traktat).

Dies, wie das Wesen der übrigen Dinge zu erkennen, ist jedoch eine Aufgabe, die Spinoza unabhängig von geschichtlichen Lernprozessen der Menschheit formuliert. Die Natur in ihrem Streben nach Selbsterhaltung bleibt sich auch im menschlichen Bereich ewig gleich.

Der eigentliche Impetus zur Formulierung der Fortschrittsidee kam somit nicht einfach aus der Quelle der neuen Wissenschaftskonzepte, sondern vielmehr aus dem Zusammenspiel von Intellekt und aktivistischem Glaubensverständnis. Eine Gesellschaft mit starker individualistischer Prägung und abnehmenden korporativen Kontrollen, einem Land mit freier Bauernschaft und wachsenden Mittelschichten, mit hoher Bildungstradition und sektoraler Modernisierung, die die herkömmlichen Strukturen in Frage stellten, konnte sich nicht mit den herkömmlichen Antworten begnügen. Wesentlich war, dass die gewinnorientierte Wirtschaftshaltung vom aufkommenden Puritanismus kaum in Frage gestellt, sondern als im Grunde gottgefällig bestätigt, mit dem eigenen überbordenden Reformwillen verbunden werden konnte („to cast the Kingdoms old/Into an other Mould“, hieß es in einem puritanischen Kirchenlied). Nachdem das Charisma der priesterlichen Funktion weitgehend einem egalitären Gewissenszwang Platz gemacht hatte, konnte die diesseitige Bewährung im Beruf zur entscheidenden sozialen Norm erhoben werden. Jenseitsorientierte Askese war auch früher nur einer Minderheit möglich gewesen; sobald das asketische Ideal große Teile der Bevölkerung ergreift, wenden sich diese produktiven Tätigkeiten zu, urteilt Ernest Gellner.

Es ging den Puritanern nicht um Weltverneinung, wohl aber um Disziplin, Beständigkeit und Verlässlichkeit; nicht nur für eine Elite, sondern für jedermann. Nicht der Kreislauf von Sünde, Schuld, Reue und Vergebung, wie ihn die katholische Kirche lehrte, war ihr Leitbild, sondern die Erziehung zu ‚Innenlenkung‘. In diesem Sinn wurde die Freiheit von hierarchischen und ritualisierten Festlegungen zur Bedingung eines an Werkheiligkeit ausgerichteten, erfüllten Lebens.

Das durch teuflische Intrigen verdorbene Paradies geht in Flammen auf, aber Satans Macht ist durch Christus gebrochen und mit ihr die Erbsünde:

Dann lässt du ungern nicht dies Paradies,

Du trägst in dir ja ein viel sel’geres

(Milton: Paradise Lost. 1667/74)

Die paulinische spirituelle Freiheit, in der Reformation zur Freiheit des Gewissens gegen äußeren Zwang zur politischen Kraft erhoben, säkularisiert sich nun in hohem Maß als soziale Gestaltungskraft, ohne dabei ihr religiöses Pathos einzubüßen.

Der Dichter-Staatssekretär John Milton († 1674) forderte, überraschend modern, aber nicht zufällig analog zu Comenius, als Voraussetzung einer guten Gesellschaft die freie Religion, das freie Haus und den freien Bürger; die angeborenen Freiheitsrechte sollten auch nicht nur die Engländer, sondern alle Völker der Erde zurückgewinnen (1654).

Frei entfalten sollte sich ausdrücklich auch der Wissensbereich; die Erwartung, dass das Heilswissen sich ausbreitet, bezieht sich auf das gesamte, insbesondere praktische Wissen, das oft geradezu millenarische Bedeutung gewinnt. Die Unterdrückung auch skandalöser Bücher wird zum Hemmnis der Wahrheit schon dadurch, dass sie unsere Fähigkeiten außer Übung setzt und künftige Entdeckungen verhindert (Areopagitica). Bücher mögen Drachenzähne sein, aus denen bewaffnete Männer hervorwachsen, doch ist es „fast eben dasselbe, einen Menschen oder ein gutes Buch zu töten“. „Die Umwälzungen von Jahrhunderten ersetzen nicht oft den Verlust einer verworfenen Wahrheit.“

In diesem Sinn erwartet der schon erwähnte Kreis um Samuel Hartlib nicht nur die heilsgeschichtliche Umgestaltung der Welt, sondern empfiehlt auch die Schaffung von „Instrumenten des allgemeinen Glücks“, die alle Bereiche des Staatswesens durch besseres Wissen reformieren sollen. Bischof Gilbert Burnets Progress of Providence erhebt den „Fortschritt“ in einem emphatischen Sinn zum universalen Gesetz der Menschengeschichte.66

Die 1660 gegründete Royal Society konnte auf eine Reihe von Wissenschaftlern des Cromwellschen Commonwealth zurückgreifen, die durchweg puritanisch geprägt waren und Hobbes’ kaltschnäuzigen Naturalismus missbilligten, aber ihre eigene Forschung in der Regel ohne direkten Bezug auf Theologie betrieben – es sei denn, mit der Absicht, Gott zu preisen, indem man seine Schöpfung besser zu erkennen und den Glauben in Wissen zu verwandeln lernte. Thomas Sprats Geschichte der Royal Society erklärte, die Wunder gehörten einer anderen Zeit an, während heute der Gang der Dinge seinen natürlichen Lauf von Ursachen und Folgen nehme. Die neue physikalische Wissenschaft ist auch für ihn im Geist Bacons die Mutter nützlicher Erfindungen; mit diesen Ansichten wurde Sprat Bischof von Rochester.

Der calvinistische Vorsehungsglaube, schon von Milton in dem Sinn aufgeweicht, dass der Mensch, wie die Engel, die Freiheit zu fallen, aber auch die Möglichkeit der Erlösung besitzt, verwandelt sich in diesem Kontext beinahe bruchlos in allgemeines Vertrauen zu den Künsten und Wissenschaften als einer geradezu erlösenden ‚gnostischen‘ (E. Voegelin) Kraft. Das christliche Lichtsymbol (Erleuchtung) koexistiert mit dem säkularen, überträgt auf dieses die Glaubensgewissheit und die Vorstellung einer schrittweisen „Entwicklung“ und „Vervollkommnung“ der im Menschen angelegten göttlichen Potenz. Joseph Glanvills Plus Ultra or the Progress and Advancement of Knowledge fordert, im Geist von Bacon „zu suchen, zusammenzutragen, zu beobachten und einzubringen als Kapital kommender Jahrhunderte“.

Der Sinn dieser Tätigkeit ist mehr als nur praktischer Nutzen. Das Vertrauen in die naturwissenschaftlichen Methoden sowie ein verbreiteter Individualismus und Utilitarismus der Lebensführung werden nicht zu Unrecht als Reaktion auf die unerträgliche ‚Herrschaft der Heiligen‘ interpretiert, aber die Restauration besaß daneben ein starkes Bewusstsein weltlicher Religiosität.67 Wie Sir Isaac Newton († 1727), setzte man eine naiv-selbstverständliche Gleichartigkeit (und Gleichwertigkeit) der biblischen und der natürlichen Wahrheiten voraus: die Bewegungsgesetze hatten gewissermaßen das Siegel der Orthodoxie (R. H. Tawney). Zusammen mit dem vormodernen Bewusstsein einer Überordnung des Rechts über die königliche Exekutive, der Stärkung des Common Law und der politischen Rolle der Londoner Kaufmannschaft, kam nach dem Ende der Ära Cromwell auch ein gestärktes Bewusstsein der Legitimität empirischer Wissenschaften auf.

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Die eigentliche weltliche Geschichte lag, wie wir gesehen haben, am Rande des Erkenntnisinteresses der neuen Wissenschaft. Man erwartete von ihr nach wie vor rhetorisch-moralische Belehrung und natürlich Aufschluss über konkrete (juristische, politische) Tatsachen und Zusammenhänge. Aber die Vernunft war nicht imstande, eine zwingende Wahrheit, ja auch nur eine Art regulative Idee oder einen verborgenen Sinn hinter den empirisch vermittelten profanen Geschichten zu entdecken. Das Bedürfnis danach war ein eher außerwissenschaftlich-psychologisches bzw. christlich-providentialistisches: der Wunsch, hinter der vordergründigen Irrationalität, der scheinbaren Sinnlosigkeit der menschlichen Tragödien und Komödien, Absichten einer höheren Intelligenz und Gerechtigkeit zu entdecken. Auch die Vielfalt und Mehrdeutigkeit der menschlichen Handlungsebenen in Krieg und Politik, Seefahrt und Handel, Kirchenleben und Wissenschaft waren ohne metaphysische Beihilfe nur schwer in ein einziges Koordinatensystem einzubringen. Nur das Vertrauen in die Macht der Vorsehung konnte das Heterogene zur Triumphstraße der einen Geschichte im Singular werden lassen.

So kam der große Entwurf einer Universalgeschichte im 17. Jahrhundert denn aus der Feder des energischen Verteidigers der katholischen Kirche und Erziehers des Dauphins Bischof Jacques-Benigne Bossuet († 1704). Bossuet versucht noch einmal, im Abwehrkampf gegen die anmaßende Verselbständigung der weltlichen Bereiche, in den Fußstapfen Augustins, Geschichte sub specie aeterni zu schreiben. Ewigkeit ist ihm nicht, wie Spinoza, eine Verlängerung der irdischen Zeit ins Unendliche, sondern ein Maßstab, der die irdischen Wertvorstellungen relativiert: Unsere Größe und unser Glück bedeuten nicht viel vor dieser Instanz. Bossuet setzt sein erhebliches rhetorisches Geschick dazu ein, die Leidenschaften, die die historische Welt vordergründig beherrschen, als bloße Medien eines dessein éternel, einer göttlichen Absicht, erscheinen zu lassen, der erst den Sinn der einzelnen aneinander anknüpfenden Epochen erschließt. Ohne es zu wissen, erfüllen die Akteure der Geschichte einen verborgenen höheren Zweck.

Sein Discours sur l’Histoire universelle (1681), der viereinhalb Jahrtausende biblischer und profaner Geschichte zusammenfasst („das Fortschreiten zweier Dinge, der Religion und der Reiche“), geht schon von seinem Zweck her, nämlich der Belehrung des französischen Thronfolgers, stark auf das eigengesetzliche profane Kausalgefüge ein, nicht zuletzt die Mission Frankreichs in Europa. Der Aufstieg und Niedergang der weltlichen Reiche bereitet sich oft unbemerkt in den vorangegangenen Epochen vor, immer aber ist der eigentliche Sinn der Erzählung ein transzendenter. „Es ist das Reich des Menschensohns, das Reich, das inmitten des Untergangs all der anderen bestehen bleiben soll und dem allein Ewigkeit verheißen ist.“ Irdische Größe vergeht nicht nur; sie dient letztlich durch eine liaison necessaire der Erhaltung des Gottesvolks bzw. seiner Nachfolgerin – der Kirche.

Bossuets Werk ist mehr als nur traditionelle Apologetik. Es geht, wie gesagt, in hohem Maß auf innerweltliche Kausalzusammenhänge, auf Auswirkungen vorangegangener Ereignisse ein; es konzipiert, zweitens, die Geschichte als einziges interdependentes Geschehen mit der, nicht unbedingt einsichtigen, teleologischen Annahme, das unvollkommene, endliche Menschenwesen solle schrittweise der Teilhabe an Gottes Vollkommenheit entgegengeführt werden. Und es formuliert, drittens, die vom providentialen Hintergrund abkoppelbare These von der Diskrepanz zwischen menschlichen Absichten und dem geschichtlichen Ausgang: „Es gibt keine menschliche Macht, die nicht, gegen ihren Willen, andere Pläne als ihre eigenen fördert.“ (Discours III, 8): die Urform von Hegels List der Vernunft.

Was bei Bossuets herrschaftlichem Verständnis von Kirche und Geschichte zu kurz kam, war das Thema des eigentlichen Fortschritts: Das Gottesreich war für ihn mehr oder weniger identisch mit der bestehenden autoritären, alle Reformversuche hasserfüllt abwehrenden Ecclesia triumphans. Sein Versuch, den Zerfall der menschlichen Erfahrungsräume mit einer integralistischen Geschichtsphilosophie aufzuhalten, konnte innerchristlichen Kritikern nicht genügen und musste schon im Hinblick auf die immer klarer ins europäische Bewusstsein tretende Vielfalt außereuropäischer Kulturen scheitern: Voltaire, der Bossuet schätzte (und sein universalistisches Schema mit seiner säkularen Vernunft auffüllte), spottete über „Universalgeschichten“, die zwei Drittel der Menschheit außer acht ließen.

Der Ansatz war natürlich unvereinbar mit dem unpersönlichen Gott der Philosophen, der dem Weltuhrwerk vielleicht die Konstruktion und den ersten Anstoß gegeben hatte, aber danach nicht mehr in Erscheinung getreten war. Es war zumindest verständlich, nach Vorbild von Malebranches Okkasionalismus, einen Ausgleich zu suchen zwischen der eigentlichen Verursachung alles Geschehens durch Gott und den Zufälligkeiten der geschichtlichen Welt, zwischen den täglichen Übeln des Lebens und der Annahme, alles Böse sei ein notwendiges, nur scheinbar böses Element auf den Pfaden einer vernünftigen Vorsehung.

Vielleicht ist völlige Folgerichtigkeit dem Menschen unerträglich: Lebensklugheit ist weise Inkonsequenz, und die abstrakte mechanische Logik der geschichtlichen Welt nicht angemessen. Die parallele Barockkultur mit ihrer Exaltiertheit und Theatralik, ihrem Schwelgen in Schmerz und Sehnsüchten, war sicherlich ein notwendiger Kontrapunkt zum trockenen Rationalismus der philosophischen Systematiker. Deren Annahme einer allgegenwärtigen göttlichen Kraft hinter den Dingen hatte nicht weit zur Annahme einer immanenten Göttlichkeit der Welt, doch die Anwendung dieser Idee auf die profane Geschichte der Menschheit wäre dem 17. Jahrhundert absurd vorgekommen. Wenn die Menschheit „voranschritt“, so folgte sie einem höheren dessein (Absicht), der von jenseits der immergleichen Natur und den immergleichen menschlichen Eigenschaften herkam.

Vom Licht der christlichen Erleuchtung mochte mit Comenius etwas Glanz auf die kleinen menschlichen Lichter (lumières) fallen. Aber eine in Eigenverantwortung fortschreitende und sich ständig überholende Vorläufigkeit der Erkenntnis war noch nicht denkbar, und eine Geschichtsphilosophie, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine konsequente innerweltliche Verbindung setzt, wurde schon gar nicht daraus.68 Die überall aus dem Boden schießenden Akademien mieden bewusst die Reizthemen Religion und Politik; dafür erhielten sie Schutz und Unterstützung von einzelnen Fürsten, die den Glanz ihrer Barockresidenzen durch eine Förderung der Wissenschaften und Künste zu erhöhen suchten. Aber das cartesianische Ideal der klaren und deutlichen Wahrnehmung war eben nicht ohne weiteres anwendbar auf Bereiche außerhalb des mathematisch-naturwissenschaftlichen Freiraums; seine stolze Absage an die kontingente Politik und an die Autoritäten war nicht zuletzt eine Absage an die Geschichte: ratio vincit, vetustas cessit (die Vernunft siegt, das Alte muss weichen).

Das Nebeneinander von Säkularismus und traditioneller religiöser Einbettung, von naturwissenschaftlichen und praktischen Leistungen auf der einen Seite und der schwer erträglichen peripheren Stellung des Menschen im Universum auf der anderen, wird zur Konstruktion von ‚Ersatzvorsehungen‘ führen, die die halbwegs gesicherten Erfahrungsräume der Geschichte zu einer metahistorischen Heilserwartung ausweiten. Eine latente Wettbewerbssituation zwischen der neuen, mathematisch-instrumentalen Wissenschaft und der alten aristotelisch-scholastischen mochte dazu beigetragen haben, dass theologische Fragestellungen und metaphysische Denkmuster in die modernen Debatten eindrangen und die kontingente Vielfalt des innerweltlichen Geschehens zu einem stringenten Ganzen, ja schließlich zum Garanten eines eindeutigen Zukunftshorizonts erheben wollten.

Die Neuzeit hat den traumatischen Verlust der zentralen Stellung des Menschen im mittelalterlichen Weltbild praktisch-technisch wettzumachen versucht und die Gestaltbarkeit der Lebenswelt durch methodisches Wissen und Experiment erfahren. Aber sie brauchte trotzdem Horizonte als Wegweiser für ihre Praxis, sollte es nicht eine ziellose Reise im Raum sein, nach der Devise von Diderots Jacques le fataliste: „Vorn ist, wo der Wanderer hinsieht“.

Blaise Pascal († 1662) drängte sich die Frage auf, von welchem Punkt aus man eigentlich beurteilen könne, ob die auslaufenden Schiffe oder die Menschen am Ufer sich fortbewegen. Das war kein zenonisches Spiel des genialen Mathematikers mit der Relativität der Bewegung, sondern die Frage nach dem Sinn des Erkenntnisfortschritts. „Des sinnlosen Suchens nach der Wahrheit überdrüssig“, wird die Wahrheit der Wirklichkeitswissenschaften der existenziellen „Vernunft des Herzens“ das Feld überlassen, die Wahrheitssuche voluntaristisch bestimmen und danach die menschlichen Erwartungen ausrichten. Doch verteidigt Pascal anlässlich des „ewigen Schweigens der unendlichen Räume“ auch die Legitimität wissenschaftlicher Forschung und lehnt Synthesen von Philosophie und Glauben ab. Anderen bot sich die „herrenlos gewordene“ Auffassung vom Menschen als einem auf Unendlichkeit ausgerichteten, unendlich vervollkommnungsfähigen Wesen als Wegweiser an, um die Kreisläufe des Immergleichen zu durchbrechen und die Paradoxien der Realgeschichte durch ein weltliches Hoffnungsprinzip auszugleichen.

Die Metapher vom progressus als perfectio spendet Trost, ermuntert zum Kampf gegen Übel und Unwissenheit, aber ist keine Erfahrungstatsache, sondern eine theologisch abgestützte Sollensaussage. Wie der antike Mythos etwas wie Weltvertrauen herstellt, so leistet auch die Neuzeit Versprechungen, die über die gesicherten und handhabbaren Fragmente hinausgehen, in die die Wissenschaftler die Welt geteilt haben. Dabei vermischt man aber „widerrechtlich Göttliches und Menschliches“ (Descartes‘ Einwand gegen Comenius).

Die allzu simplen Gesetze der Mechanik rufen nach Ergänzung und Sinngebung; den Menschen ist es unheimlich, in völliger Eigenverantwortung, ohne die Krücke einer höheren Vernunft, denken und handeln zu müssen. Auch der aus der traditionellen Glaubensgewissheit entlassene Philosoph braucht Gott zumindest als Garanten einer verlässlich kalkulierbaren Welt, wenn nicht als Vorsehung, die die Menschen auf ihre Zwecke in Pflicht nimmt. Noch Gotthold Ephraim Lessing wird in seinem Spinoza-Gespräch erklären: „Ich begehre keinen freien Willen“.

Der Fortschrittsglaube

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