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ОглавлениеProlog Der Wanderer
Der Rabe zog seine Kreise. Weit über der See, die sich schäumend an den hoch über dem Wasser aufragenden Klippen brach. Am Rand der Felsen standen einzelne Kiefern, deren Äste im Wind schwangen. Unbeirrt hielten sie dem Ansturm der Elemente stand, krallten sich mit ihren Wurzeln in den Boden, erzitterten mit jedem neuen Windstoß. Elegant flog der Rabe über sie hinweg, seine klugen Augen erfassten jede noch so geringe Bewegung. Der Wind trug ihn weiter, bis er über einer Bucht, die sich im natürlichen Schutz der weit vorgelagerten Felsen befand, ein heiseres Krächzen ausstieß.
Die Häuser duckten sich etwas entfernt vom Strand auf einer Anhöhe. Nur ein schmaler Pfad führte auf das Felsplateau hinauf, an dessen Ende eine Palisadenwand mit einem Tor den Eingang markierte. Die verlassenen Landungsstege in der Bucht warteten auf die Rückkehr der Schiffe mit den Männern, die auf Raubzug waren.
Im Dorf selbst waren nur wenige Menschen zu sehen. Einige ältere und verletzte Männer sortierten den Fang des Tages, die Frauen besserten die Netze aus, während die Kinder sich mit Holzschwertern und Schilden im Kampf übten.
Weiter flog der Rabe, ließ ein erneutes Krächzen hören. Über dem Wald, der ein Stück vom Dorf entfernt begann, ließ er sich wieder vom Wind tragen, bis er sah, wonach er gesucht hatte. An einem kleinen See kniete ein Mann, betrachtete sich im Spiegel des Wassers, lächelte. Langsam erhob er sich, richtete seine Kleidung. Als er den Raben hörte, sah er zu ihm auf, zwinkerte ihm mit dem rechten Auge zu und ging gemächlichen Schrittes in Richtung des Dorfes.
Er war groß gewachsen, schlank, jedoch kräftig. Seine Augen blitzten wach, sein dichter schwarzer Bart umrahmte ein markantes Kinn. Die langen Hosen waren staubig, genau wie seine Schuhe. Beim Gehen zog er das linke Bein nach, schlurfte mit dem Fuß über den Boden.
An seiner linken Seite hing ein Schwert, ein Schild war auf den Rücken gegurtet, direkt neben seiner Axt. An der rechten Hüfte hing an einem Ledergürtel seine Knochenflöte, die im Takt seiner Schritte baumelte.
Langsam näherte er sich dem Ort. Ein Stück entfernt blieb er stehen, schien sich jedes Haus, jeden Zaunpfahl genau einzuprägen. Einige Anwohner sahen ihn, doch ein einzelner Fremder stellte keine Gefahr dar. Dennoch schickte man einige der älteren Jungen los, um sich in den Wäldern umzusehen, ob der Fremde vielleicht doch Feinde anführte. Als die Sonne sank, setzte der Mann sich wieder in Bewegung und erreichte mit dem letzten Licht des Tages das Tor, das in das Dorf führte. Mittlerweile schien klar zu sein, dass er alleine unterwegs war, jedenfalls hatte man keinerlei Spuren anderer Männer gefunden. Niemand hielt den Fremden auf, die Kinder umringten ihn, und er lächelte sie an und holte aus einem Beutel einige Beeren, die er ihnen hinhielt. Doch keines von ihnen griff zu, das Misstrauen überwog.
Mitten im Dorf zwischen den Hütten stand eine Frau und sah ihm entgegen. Der Mann betrachtete sie eingehend. Sie war von einer ganz besonderen Schönheit, die ihn sofort in ihren Bann zog. Ihre langen dunklen, leicht rötlich schimmernden Haare hingen offen über ihre Schultern, das einfache Kleid erschien ihm wie das Gewand einer Königin. Vermutlich lag es an ihrer Haltung, hoch aufgerichtet, selbstsicher und stolz. Ihre vollen Lippen waren leicht skeptisch geschürzt, als sie ihrerseits seinen Blick offen erwiderte.
Ohne zu zögern, trat er auf sie zu, neigte den Kopf.
»Verzeiht mir mein Eindringen, doch bin ich ein Wanderer auf der Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht. Ein Sturm zieht auf.«
Sie musterte ihn von oben bis unten.
»Und wer seid Ihr? Wer sagt mir, dass Ihr nichts Böses im Schilde führt?«
Der Fremde verbeugte sich leicht.
»Mein Name ist Agnar. Agnar, der Flötenspieler. Nichts Böses ist in meinem Sinn. Im Gegenteil, nur Freude möchte ich den Menschen bringen.«
»Ich bin Yrsa, Frau von Eldor, dem Jarl dieses Dorfes und seiner Bewohner.« Sie trat näher an den Fremden heran, registrierte jede Kleinigkeit an ihm, auch seine Waffen. »Sagt mir, Agnar, wie kommt es, dass ich Euch noch nie gesehen habe? Und wie kann es sein, dass ein so kräftig gebauter Mann nicht mit auf Beutezug ist?« Sie trat vor ihn hin, sah ihm in die Augen. »Wurdet Ihr von Eurem Jarl verstoßen? Habt Ihr Verbrechen begangen?« Sie machte eine kurze Pause, beobachtete seine Reaktion. »Oder seid Ihr gar ein Feigling?«
Nach diesen Worten entfernte sie sich ein Stück. Die anderen Bewohner des Dorfes hatten sich genähert, schlossen einen Kreis um den Fremden, bereit, ihn sofort zu töten, wenn Yrsa es befahl.
Agnar lächelte sanft.
»Ich verstehe Euer Misstrauen.« Er machte ein paar Schritte auf Yrsa zu, die sein Humpeln bemerkte. »Doch wie Ihr leicht erkennen könnt, bin ich nicht fähig, mit in den Kampf zu ziehen. Als Knabe geriet ich unter die Hufe der Pferde meines Jarls. Seitdem bin ich als Kämpfer nicht mehr geeignet, doch hat man meine anderen Fähigkeiten erkannt. Ich bin geschickt im Umgang mit jeglichem Werkzeug und spiele Euch die schönsten Weisen auf der Flöte. Ich bitte Euch nur um Obdach für die Nacht und um etwas zu essen. Morgen in der Früh werde ich weiterziehen.«
»Nun, Agnar, Ihr sagt, Ihr seid ein guter Flötenspieler. Musik macht jedes Essen zum Festmahl. Wenn Ihr uns aufspielt, dürft Ihr mit uns speisen und bekommt ein Bett für die Nacht«, erwiderte Yrsa nickend.
Agnar verbeugte sich.
»So sei es.«
Yrsa bedeutete ihm, ihr zu folgen, und der Besucher kam bereitwillig mit ihr. Schon nach ein paar Schritten bemerkte er, dass ihnen drei junge Frauen mit nur wenig Abstand folgten und ihn nicht aus den Augen ließen. Wie Yrsa waren sie ausnehmend schön und gut gewachsen, mit schlanken, trainierten Körpern. Alle drei hatten Haare, die ihnen bis auf die Hüften hinab fielen, eine in einem dunklen Kastanienrot, die andere in hellem Kupfer. Sie hatte die langen Strähnen zu kunstvollen Filzzöpfen zusammengedreht. Den Kopf der Dritten zierten dunkelbraune Locken.
Die Schönheit der Frauen konnte jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie alle die Hand am Schwertknauf trugen.
Amüsiert wandte Agnar sich an seine Gastgeberin.
»Man hat keine wehrhaften Männer zu Eurem und dem Schutz des Dorfes zurückgelassen?«
Yrsa sah ihn nicht einmal an, lächelte nur.
»Wir brauchen keine Männer, um uns zu schützen.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die jungen Frauen, die ihnen folgten. »Nehmt Arnora, Runa und Jorunn. Ihr könnt sicher sein, sie haben Euch die Kehle durchgeschnitten, noch bevor Ihr Eure Waffe ziehen könnt.«
Agnar lachte.
»Daran habe ich keinen Zweifel!«
Er zwinkerte der kupferhaarigen Arnora zu, was ihm einen bösen Blick aus kristallblauen Augen einbrachte. Sie näherten sich einem großen Platz in der Mitte des Dorfes, direkt neben dem Gemeinschaftshaus. In den dunklen und kalten Monaten hielt man im Inneren die Versammlungen ab und feierte dort, doch in den Sommermonaten verlagerte man dies nach draußen. Fleißige Helfer hatten Tische aufgestellt, an denen etwa dreißig Menschen Platz genommen hatten.
Agnar sah sich um, betrachtete die überall brennenden Kohlenfeuer, die Speisen, die man aufgetischt hatte, bestehend aus Braten, Zwiebeln, Brot und Wurzelgemüse. Auf den Bänken rutschte man zusammen, damit auch er Platz fand.
Yrsa bat die Versammelten, zuzugreifen, und prostete mit einem Krug in die Runde. Man unterhielt sich über den Fischfang, ob der Winter bald käme und ob die Männer wohl reichlich Beute mit nach Hause brächten.
Als das Mahl endete, sah Yrsa Agnar an.
»Ihr sagtet, Ihr seid Meister der Flöte, oder habe ich das falsch verstanden?«
»Oh, nein, nicht nur auf der Flöte, auch bin ich ein Künstler des Wortes.«
»Wie wäre es, wenn Ihr uns eine Kostprobe Eures Könnens darbringt, damit wir darüber befinden können, ob Ihr die Wahrheit sprecht oder nur Sprüche klopft?«
Agnar stand auf, trat vor Yrsa und verbeugte sich leicht.
»Ihr werdet nicht enttäuscht sein.«
Die Feiernden versammelten sich um die Feuerstelle, Agnar löste die Flöte vom Gurt, setzte sie an die Lippen und spielte eine leise Melodie. Sanft flogen die Töne zum Himmel empor, wurden scheinbar von ihm zurückgeworfen, schienen in der Luft zu tanzen.
Die letzten Gespräche verstummten, alles lauschte dem Flötenspiel des Mannes, obwohl es nicht übermäßig laut war. Sogar die tobenden Kinder hörten mit verzückten Gesichtern zu. Yrsa sah ihn gebannt an. Noch nie im Leben hatte sie Ähnliches gehört. Jeder Ton schien in ihr einen Nerv zu treffen, brachte sie zum Vibrieren. Ihr Herz schlug schneller, die Handflächen wurden feucht und sie war froh, auf einer Bank zu sitzen, denn ihr zitterten die Knie. So hatte sie sich nur ein einziges Mal gefühlt – als Eldor sie damals umworben hatte. Sein Lächeln und das verschmitzte Blitzen in seinen Augen hatten dieselbe Reaktion ausgelöst wie jetzt das Flötenspiel dieses seltsamen Fremden.
Schmerzhaft fiel ihr ein, dass ihr Mann weit fort war und nur die Götter wussten, wann er wieder zu ihr zurückkehren würde. Sie schalt sich innerlich eine Närrin, dass sie nur vom Flötenspiel eines Mannes so berührt wurde. Jedoch sah sie, dass es ihr nicht alleine so ging. Alle Frauen, angefangen vom gerade erst erblühten Mädchen bis zur Greisin, hatten jenes Strahlen im Gesicht, das einem Mann die Offenheit ihres Herzens anzeigte. Auch die Männer, die nicht mit zur Kaperfahrt hatten kommen können, weil sie schon zu alt oder verletzt waren, blieben von der Darbietung nicht unberührt. Überrascht entdeckte Yrsa Tränen in den Augen ihres ältesten Kriegers. Das Spiel endete. Beinahe schmerzhaft war es für Yrsa, als habe man ihr etwas gestohlen. Dann begann Agnar, mit einer volltönenden Stimme zu singen, und eine neue Woge aus Sehnsucht schlug über ihr zusammen. Kaum konnte sie dem Text folgen, der von Liebe und Leidenschaft handelte.
Als Agnar schließlich verstummte, brach Beifall aus. Die Menschen standen um ihn herum, applaudierten laut, bis Yrsa die Arme hob.
»Nun, Agnar, Ihr habt wahrlich nicht gelogen. Habt Dank für diese Darbietung. Doch es ist spät, der Tag wird nicht auf sich warten lassen. Ich lasse Euch Euer Lager zeigen.«
Agnar sah ihr tief in die Augen und Yrsa durchfuhr die Erkenntnis wie ein Blitz. Er hoffte darauf, in dieser Nacht ihr Bett zu teilen. Vielleicht hätte sie es getan, hätte sie keine Verpflichtungen gehabt – er war ein ansehnlicher Mann.
Doch sie war die Frau des Jarl. Es verbot sich von selbst, diesem Verlangen nachzugeben. Sie liebte Eldor ehrlich und aufrichtig. Niemals würde sie sich in die Arme eines anderen Mannes begeben, so lange Eldor lebte. Und dennoch, die Verführung war gegenwärtig, das erkannte sie. War es vielleicht eine Prüfung der Götter? Brüsk schüttelte sie den Kopf.
»Ich wünsche Euch eine angenehme Nacht, Agnar, der Flötenspieler. Morgen früh werdet Ihr uns verlassen.« Sie lächelte. »Ich denke, Ihr wisst, warum.«
Agnar sah ihr wieder tief in die Augen, hörte, wie die Menschen gingen, bis nur noch er mit Yrsa und einigen jungen Mädchen alleine war, die den Tisch abräumten.
»Erklärt es mir«, erwiderte er leise.
Erneut durchfuhr es Yrsa beim Klang der warmen Stimme.
»Ihr stiftet Unruhe in den Herzen der Frauen«, gab sie ruhig zurück. »Und Ihr wisst es, mehr noch, Ihr beabsichtigt es sogar. Doch lasst mich Euch etwas sagen: Ich liebe Eldor, meinen Mann. Ich habe geschworen, ihm treu zu sein. Kein anderer Mann wird mich berühren, geschweige denn besitzen. Ihr werdet ein Lager hier im Gemeinschaftshaus erhalten. Solltet Ihr es wagen, in der Nacht zu mir zu kommen, so seid gewarnt. Ich weiß, wie man mit einem Schwert und einem Messer umgeht, und wir werden das Haus nicht unbewacht lassen.«
Damit drehte sie sich um und ließ einen schmunzelnden Agnar stehen.
***
Mit einem Keuchen schreckte Gudney aus dem Schlaf, richtete sich hastig auf. Die Bilder aus ihrem Traum folgten ihr für einen Moment in die Realität, wirbelten um sie herum, aber bevor sie sie fassen und begreifen konnte, verblassten sie, rannen davon wie Wasser durch gefaltete Hände. Die Seherin des Dorfes fluchte leise. Seit die Männer auf Raubzug gegangen waren, wurden die Träume mit jeder Nacht intensiver, aber nach dem Erwachen schwand die Erinnerung daran viel zu schnell, ließ nur Bruchstücke zurück. Sie erinnerte sich an Jarl Eldors Gesicht und an das seines Bruders. Und an einen lachenden Mann mit dunklem Haar, den sie nicht kannte.
Noch immer außer Atem wischte Gudney sich die langen braunen Haare aus dem Gesicht und erhob sich von ihrem Lager, ging zur Fensteröffnung herüber, die nach Osten gewandt war und die ersten blassen Sonnenstrahlen des Morgens eindringen ließ. Darunter stand eine Schale mit Wasser auf einem hölzernen Tisch.
Gudney beugte sich über die Schale, versetzte sie in Schwingungen, bis die kleinen Wellen ihr Spiegelbild völlig zerrissen hatten, und wartete. Doch als die Wasseroberfläche wieder ruhig wurde, sah sie nur die eigenen grünen Augen. Keine der Visionen, die sie bekam, seit sie ein kleines Mädchen war, wollte kommen. Die junge Frau unterdrückte einen weiteren Fluch und zog sich nachdenklich an, trat dann vor ihre Hütte, die ganz in der Nähe des Gemeinschaftshauses in der Mitte des Dorfes lag. Als einzige unverheiratete Frau des Clans hatte sie ihre eigene Behausung, die sie mit niemandem teilen musste. Man glaubte, dass die Anwesenheit anderer Menschen die ungewöhnlichen Fähigkeiten einer Seherin störten und verhinderten, dass sie in die Zukunft sehen konnte. Und Gudneys Fähigkeiten waren sehr wichtig im Clan. Keine Beutefahrt fand statt, ohne dass man sie zuvor befragt hatte, keine Jagd, nicht einmal der Anbau von Feldfrüchten. Sie war außergewöhnlich jung für eine Seherin, hatte noch keine dreißig Sommer erlebt, aber sie irrte sich nie. Umso mehr machte ihr zu schaffen, dass sie die Bilder jetzt nicht greifen konnte. Es war wichtig, sehr wichtig, das fühlte die junge Frau.
Die kühle Morgenluft machte ihr den Kopf ein wenig klarer, und Gudney schlenderte gemächlich durchs Dorf. Es wurde langsam Herbst, die Blätter im nahen Wald hatten sich schon golden gefärbt, das Gras war kühl und feucht. Bald würde es Frost geben. Vereinzeltes Rascheln aus den Hütten zeigte an, dass die ersten Bewohner bereits erwacht waren, aber zwischen den hölzernen, mit Grassoden gedeckten Gebäuden war noch niemand unterwegs.
Auch die Wachen, die vor dem Gemeinschaftshaus gestanden hatten, um ein Auge auf den Besucher zu halten, waren nicht mehr dort. Das verwunderte Gudney. Sie hatte erwartet, dass sie dort mindestens ausharren würden, bis mehr Menschen erwacht waren.
Einem Instinkt folgend zog die Seherin sich in den Schatten eines nahen Hauses zurück und behielt den Eingang im Auge. Im Inneren des Gemeinschaftshauses konnte sie undeutliche Bewegungen ausmachen. Offensichtlich war auch der Besucher schon erwacht und bereitete seine Abreise vor. Nur wenige Momente später trat er nach draußen, und Gudney presste die Hand vor den Mund, um nicht erschrocken aufzuschreien. Es war nicht der junge, schöne Flötenspieler, der am Vorabend ins Dorf gekommen war. Zwar immer noch hochgewachsen und stattlich stand dort ein völlig anderer Mann, Jahre älter als Agnar, mit kahlem Kopf und einem beeindruckenden grauen Bart. Hatte Agnar etwa heimlich nachts weitere Männer ins Dorf geschleust? Wie konnte er das bewerkstelligt haben?
Der Fremde sah sich aufmerksam um, entdeckte Gudney jedoch nicht, die sich noch weiter in ihr Versteck zurückzog, und ging dann schnellen Schrittes fort. Die Seherin verfolgte seinen Weg mit Blicken, bis er, ohne aufgehalten zu werden, durchs Tor eilte und verschwand. Ein paar Momente lang stand sie noch wie angewurzelt, dann rannte sie ins Gemeinschaftshaus und sah sich um. Es war leer. Agnar war nicht mehr da und kurz zweifelte Gudney an sich selbst. Hatte sie sich im dämmrigen Morgenlicht getäuscht, Agnar nicht richtig erkannt? Oder war die Vision nun doch noch gekommen? Die Seherin rang mit sich, ob sie Yrsa von den wirren Träumen und der merkwürdigen Beobachtung erzählen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Nicht, bevor sie nicht größere Klarheit darüber hatte, was das Gesehene bedeutete. Sie ging zurück in ihre Hütte, um zu meditieren und die Götter um Hilfe und Klarsicht zu bitten.
***
Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, als schließlich auch Yrsa das Gemeinschaftshaus betrat. Langsam ging sie zu der Stelle, an der man Agnar ein Lager bereitet hatte, doch dieses war leer, scheinbar unberührt.
»Habe ich das nur geträumt?«, fragte sie sich leise und schüttelte den Kopf, kehrte in ihre Hütte zurück.
Sie wollte wieder in ihr Bett gehen, um vielleicht doch noch etwas Schlaf zu finden, da blieb ihr Blick auf ihrem Tisch hängen. Darauf lagen eine Rabenfeder und ein Amulett. Neugierig nahm sie das Schmuckstück in die Hand, betrachtete es, und einem plötzlichen Impuls folgend legte sie es an. Wärme durchfloss sie und ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Und im Ohr hatte sie wieder das Flötenspiel des geheimnisvollen Mannes.
***
Loki stand auf einem der Balkone von Valaskjalf, dem Palast Odins. Seit einer Weile schon hielt er sich dort auf, hatte begehrliche Blicke auf Hliðskialf geworfen, den Thron Odins.
»Irgendwann sitze ich auf ihm«, hatte er dabei gemurmelt.
Loki wusste, Odin war wieder einmal auf einem seiner Streifzüge in Midgard, wie immer in seiner menschlichen Gestalt und auf der Suche nach einer Menschenfrau, die er verführen konnte. Es war Loki ein Rätsel, warum Odin dies immer noch tat.
»Irgendwann ist es dein Verderben, alter Freund«, wisperte er.
»Was ist wessen Verderben?«
Odins Stimme ließ Loki herumwirbeln, und er starrte in das Gesicht des Allvaters, um dessen Mund ein leises Lächeln spielte. Loki deutete eine Verbeugung an.
»Odin! Ich hatte dich noch nicht erwartet. Meist dauern deine, nun, Ausflüge etwas länger.« Loki legte den Kopf schief. »Oder war deine Gespielin zu langweilig?«
Der Göttervater lachte.
»Im Gegenteil, mein lieber Loki, im Gegenteil. Ich habe selten einen Menschen dieser Art getroffen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Loki neugierig.
Der Allvater legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber es gibt wirklich Menschen, die meinem Werben widerstehen können. Und das nur, weil sie wirklich und wahrhaftig in Liebe zu einem der ihren entbrannt sind. Und diese Liebe, die ist so stark, dagegen sind unsere göttlichen Kräfte nichts.«
»Pah! Menschen und Liebe! Als ob sie so etwas wirklich empfinden können. Jeder Mensch hat seinen Preis. Und jeder Mensch lässt sich verführen, wenn man die richtigen Wege findet. Da verliert Liebe ihre Kraft und Gültigkeit.«
»Ach Loki, so lange kennen wir uns schon, und so lange hoffe ich, dass du eines Tages erkennst, dass wir Götter nicht allmächtig sind. Und lass es dir gesagt sein, gegen die Liebe, und damit meine ich wahre Liebe, tief aus dem Herzen kommend, dagegen sind wir Götter machtlos.«
»Das glaube ich nicht.«
Odin sah ihn lange an.
»Loki, der Tag, an dem ich erkennen muss, dass die Liebe nicht die stärkste Kraft ist, gegen die auch wir nicht ankämpfen können, das wird der Tag sein, an dem du Hliðskialf besteigst.«
Damit ließ er ihn stehen. Loki sah ihm hinterher und ein Plan reifte in ihm.