Читать книгу Die O´Leary Saga - Werner Diefenthal - Страница 13
London
ОглавлениеEigentlich hätte Sarah das Gefühl haben müssen, nach Hause zu kommen, als sich das Dampfschiff, das sie von Alexandria zurück nach England brachte, die Themse hinauf kämpfte und sie von fern die Türme Big Bens und Westminster Abbeys erkennen konnte. Von der Baustelle der Tower - Bridge klang der Lärm der Arbeiter über den Fluss. Doch Sarah fühlte sich nicht als Heimkehrerin. Das Gegenteil war der Fall. Schon seit ein paar Tagen fürchtete Sarah ihre Ankunft in London mehr als alles andere. Sie waren so lange fort gewesen. Was konnte seither nicht alles passiert sein?
Die Nebelschwaden, die vom Fluss aufstiegen, verschleierten die Sicht auf die Stadt, ließen sie unheimlich und so unwirtlich aussehen, wie Sarah, die Rothaarige, sie empfand. Sie wollte sich unter Deck in ihrer Kabine verbergen und nicht wieder herauskommen, bis ihr Vater all die bürokratischen Notwendigkeiten erledigt hatte, die ihrer Auswanderung nach Irland vorangehen mussten. Aber irgendetwas hielt ihre Füße an Deck fest, zwang sie, der Stadt entgegenzusehen wie eine Verurteilte auf dem Weg zur Hinrichtung.
Sie erschauerte und zog die Schultern zusammen. Die Hinrichtung konnte ihr durchaus noch blühen! Zwar waren die sogenannten Rippermorde schon drei Jahre her, aber den Mörder hatte die Polizei nie fassen können. Es kam häufig vor, dass nach solch schrecklichen Verbrechen irgendjemand festgesetzt wurde und man ihm die Schuld in die Schuhe schob, aber in diesem Fall war das nicht passiert, obwohl es viele Verdächtige gegeben hatte.
Andrew O’Leary hatte den Fall auch in Ägypten sehr aufmerksam in der London Times verfolgt und Sarah davon berichtet, obwohl sie lieber kein Wort davon gehört hätte - schließlich war sie es selbst, die einen Großteil der Frauen, die man dem Ripper zuschrieb, auf dem Gewissen hatte!
Mittlerweile wusste die Arzttochter nicht mehr, was sie bevorzugen sollte - dass die Polizei den Mörder weiterhin schuldig blieb oder dass ein Unschuldiger an ihrer Stelle dran glauben musste. Jetzt, so nah an ihrer Heimatstadt, die Angst plötzlich wieder im Nacken, wünschte Sarah sich, es hätte einen anderen erwischen mögen.
Sie waren mittlerweile nah genug, dass Sarah den Schlag Big Bens zur Mittagsstunde hören konnte. Ihre Fantasie zeigte ihr wilde Szenen. Sobald das Schiff in London vor Anker lag, würde Frederick Abberline, Inspektor von Scotland Yard, mit einer Gruppe Polizisten an Bord kommen und sie festnehmen. Er war der Einzige gewesen, der damals an ihre Schuld geglaubt hatte. Wegen eines winzigen Hinweises, wegen einer einzigen Zeugin, die sie damals in Whitechapel gesehen hatte. Und nicht einmal eindeutig erkannt! Nur eine Strähne roten Haars! Trotzdem hatte der verdammte Polizist die Verbindung hergestellt. Er hatte ihr nur nie etwas nachweisen können. Damals jedenfalls!
Was aber, wenn er ihre lange Abwesenheit genutzt hatte, um sich etwas genauer auf dem O’Leary-Anwesen umzusehen? Vor ein paar Tagen war Sarah aus einem wirren Albtraum aufgeschreckt. Ihr war etwas eingefallen, was ihr letzten Endes zum Verhängnis werden konnte.
Susan Birch. Die Prostituierte war Sarahs erstes Opfer gewesen, lange bevor die Ripper-Morde überhaupt begonnen hatten. Und ihr Kopf lag immer noch schön säuberlich verpackt in einer Hutschachtel im elterlichen Garten vergraben!
Sarah hätte sich ohrfeigen mögen, dass sie in all der Zeit nie dieses Damoklesschwert weggeschafft hatte. Jetzt war es zu spät!
Wenn sie doch nur schon auf dem Weg nach Irland wären!
Eine Hand, die plötzlich auf ihre Schulter gelegt wurde, sorgte dafür, dass Sarah laut aufschrie vor Schreck und panisch herumwirbelte. Obwohl sie noch nicht einmal angelegt hatten, erwartete Sarah in ihrer Angst, schon jetzt Inspektor Abberline hinter sich zu sehen.
Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie Horatio Gordon, bärtig und dringend einen Haarschnitt benötigend, hinter sich erkannte.
»Du bist es!«
Er kniff die Augen zusammen. Trotz aller Jacken und Pullover, derer er habhaft werden konnte, fror er erbärmlich.
»Ich habe nicht gedacht, London jemals wiederzusehen«, stieß er hervor. »Hast du eine Idee, wie lange wir hierbleiben müssen? Ich habe ehrlich gesagt keine große Lust, mich monatelang irgendwo zu verstecken.«
Im Gegensatz zu Sarah war die Bedrohung in Horatios Fall sehr real. Zwar war man nach seinem Verschwinden von einem Selbstmord ausgegangen, aber da man keine Leiche gefunden hatte, existierte trotzdem ein Haftbefehl gegen ihn, weil er seinen Halbbruder erschlagen hatte. Zwar in Notwehr, aber die wahren Umstände waren der Polizei in London noch nicht bekannt. Aus diesem Grund war der junge Gordon mit gefälschten Papieren unterwegs und sah aus, als wäre er monatelang auf einer einsamen Insel gestrandet. So würde man ihn vielleicht nicht erkennen! Sarah strich ihm zärtlich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und zuckte die Schultern.
»Wenn ich das nur wüsste! Am liebsten würde ich von diesem Schiff direkt aufs nächste steigen und London gar nicht betreten, aber ich weiß nicht, ob der Dampfer nach Dublin überhaupt schon vor Anker liegt. Im schlimmsten Fall werden wir uns ein Hotel suchen müssen. Ich gehe auf gar keinen Fall in unser Haus zurück!«
Vor ihrem geistigen Auge sah Sarah vor der Villa ihres Vaters eine Polizeiabsperrung und einen durchwühlten Garten, und sie wurde blass. Horatio verstand, was sie meinte.
»Ich habe London immer geliebt. Aber jetzt wäre ich froh, wenn wir schon wieder die Themse abwärtsfahren würden. Jeder Tag, den wir hierbleiben müssen, ist gefährlich.«
Sarah nickte. Sie wusste, dass auch er Angst hatte.
Mittlerweile waren sie schon in der Stadt. Von den Docks klang das Geschrei der Fischhändler und Hafenarbeiter herüber. Sarah holte tief Luft und klammerte sich an die Reling.
»Wenn sie bloß nicht unser Haus durchsucht haben,« murmelte sie gedankenverloren.
Horatio stutzte.
»Warum denn das? Was sollten sie denn dort finden?« Er war verwirrt. Gab es da etwas, was sie ihm noch nicht erzählt hatte? Er fasste sie am Arm. »Sarah, was sollten sie dort finden?«, wiederholte er energisch.
Die Rothaarige schrak zusammen. Horatio wusste von ihren Morden. Auch von dem ersten. Aber er wusste nicht, was sie mit dem Kopf der Leiche gemacht hatte. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass sie allein am Heck des Schiffs standen und niemand sie belauschen konnte.
»Sei doch nicht so laut«, zischte sie, beugte sich dann näher auf ihn zu. »Erinnerst du dich noch an die Leiche, die ›Rainham Torso‹ genannt wurde?«
Er nickte. Der Rainham Torso, Sarahs erstes Opfer. Aber das hatte er erst später erfahren. Es waren nur einige Körperteile gefunden worden, der Kopf war allerdings nicht aufgetaucht. Konnte es sein, dass der auf dem Grundstück der O´Learys lag?
»Nein!«, kam es krächzend über seine Lippen. »Sag mir jetzt bitte nicht, dass du den Kopf bei euch begraben hast!«
Sie wurde ein bisschen rot, wirkte dabei für einen kurzen Moment wie ein kleines Mädchen.
»Doch! Unter den alten Bäumen in der Mitte des Gartens! In einer Hutschachtel! Ich wollte verhindern, dass man sie identifizieren würde, und wusste nicht wohin sonst damit! Außerdem hatte ich keine Zeit mehr, du machst dir keine Vorstellung davon, wie schwierig es ist, einen menschlichen Körper zu zerteilen!«
Die Worte kamen mit einer Unschuld, als spräche sie von Aufräumarbeiten nach einer heimlichen Feier in Abwesenheit ihres Vaters. Horatio war schockiert. Kaum waren sie in London, war der Geist der Ripperin wieder da. Sie mussten, so schnell es ging, hier verschwinden.
Kurz überlegte er, auf dem Grundstück den Kopf auszugraben. Doch er verwarf den Gedanken schnell wieder. Es wäre zu auffällig. Und doch, wenn Andrew das Haus verkaufen und der neue Besitzer im Garten graben würde, das wäre ein gefundenes Fressen für die Polizei.
»Sarah, warum hast du damals nichts gesagt? Jetzt kann ich ihn nicht einfach ausgraben. Dass man sie nach all den Jahren noch identifizieren kann, das halte ich für ausgeschlossen. Aber ein skelettierter Kopf … das wird Fragen aufwerfen.«
»Als du mich damals erwischt hast, war die Sache mit Susan schon über ein Jahr her, und ich hatte weiß Gott andere Probleme am Hals, als daran noch zu denken«, verteidigte Sarah sich. »Außerdem war Abberline schon auf mich aufmerksam geworden. Zu dem Zeitpunkt war es viel zu spät, um den Kopf noch loszuwerden.« Ihre Schultern sackten nach unten. »Wir müssen einfach darauf vertrauen, dass er nie gefunden wird. Ich gehe jedenfalls nicht dorthin und hole ihn, und du wirst es ganz bestimmt auch nicht tun! Du solltest dich so wenig in London aufhalten wie möglich!«
»Ich werde keinen Fuß in die Stadt setzen! Zu viele kennen mich hier, auch wenn ich mittlerweile aussehe wie ein Landstreicher. Ich hoffe nur, dass Andrew schnell mit allem fertig wird, was er zu erledigen hat.«
»Das hoffe ich auch.«
Trotz aller Anspannung schaffte Sarah ein kokettes Lächeln und wickelte sich eine Strähne von Horatios Bart um den Finger.
»Sobald wir in Dublin ankommen, kommt dieses Gestrüpp weg, Robinson Crusoe! Ich finde dich kaum noch unter diesen ganzen Haaren.«
Er lächelte.
»Erst einmal müssen wir dort ankommen.« Horatio sah sich um. »Wir sollten unter Deck, wenn wir gleich anlegen. Zu viele Leute am Kai.«
Andrew gesellte sich zu ihnen.
»Das wollte ich euch auch gerade vorschlagen. Ich gehe als Erster von Bord und sehe zu, dass ich eine Unterkunft finde. Ich weiß nicht, ob Margret das Haus schon verkauft hat und wie es bei den Gordons aussieht. Aber ich denke, wir sollten nicht zu weit vom Hafen weg sein. Dann kümmere ich mich um eine Passage nach Dublin und besuche diesen Rechtsanwalt. Danach sehen wir weiter.«
Horatio und Sarah verzogen sich. Langsam näherte sich das Schiff dem Kai und wurde vertäut. Als die Gangway angelegt wurde, eilte Andrew von Bord.
Die Zollbeamten, die träge ihren Dienst versahen, interessierten sich nicht für das Schiff. Es fuhr unter britischer Flagge, und das war Grund genug, darauf zu vertrauen, dass dort alles mit rechten Dingen zuginge.
Ein paar Angehörige warteten auf Heimkehrer und begrüßten sie mit großem Hallo, aber niemand ging an Bord. Das freilich konnte Sarah in ihrer Kabine unter Deck nicht wissen. Ihr schlug das Herz bis zum Hals vor Angst. Draußen hatte ein ungeheurer Lärm eingesetzt, und es rumpelte und polterte, als die Matrosen fluchend und einander Anweisungen zubrüllend diverse Koffer, Kisten und die Ladung durch die Gänge zu schleppen begannen.
Jedes Mal, wenn jemand gegen die geschlossene Kabinentür stieß, zuckte Sarah heftig zusammen aus Angst, die Polizei könne kommen, um sie zu holen. Sie war kreidebleich und konnte schließlich nicht länger stillsitzen, begann, in der Kabine hin und her zu wandern.