Читать книгу Königin der Spiegelkrieger - Werner Karl - Страница 5
Kapitel II A. D. 183, Januar Ein zweites Leben
ОглавлениеVor dem Gebäude aus massiven Holzstämmen fauchte der Schneesturm und schickte sich an, seine weißen Massen mannshoch aufzutürmen. Im innersten Raum legte Arianrhod mac Ruith ihren Sohn behutsam an ihre Brust und machte sich bereit, sein gieriges Saugen zu ertragen. Von Anfang an hatte Brannon, wie sie ihn nach langer Überlegung schließlich genannt hatte, wenig Rücksicht oder gar Zärtlichkeit ihr gegenüber an den Tag gelegt. Nach jedem Stillvorgang hatte sie Mühe, seinen fordernden Mund von einer Brust zu lösen, um ihm auch die Zweite anzubieten. War auch diese geleert, blickten seine Augen fast vorwurfsvoll in ihre und seine kleinen Händchen kneteten ihre Brust, um auch noch den letzten Tropfen herauszuquetschen. Mehr als einmal hatte er sie mit seinen noch unbewaffneten Zahnleisten so heftig in die Brustwarzen gezwickt, dass sie vor Schmerz aufschrie. In solchen Momenten hatte er innegehalten und sie stumm angesehen. Und manchmal hatte sie dabei den Eindruck, dass er ein abfälliges Lächeln zurückhielt.
Sie seufzte und ergab sich in ihr Schicksal. Wahrscheinlich ging es vielen jungen Müttern so. Vor allem beim ersten Kind.
Tue nicht so wehleidig, schalt sie sich selbst. Du bist eine Königin der Cruithin und solltest mehr Stärke zeigen. Auch deinem eigenen Kind gegenüber.
Sie kniff die Augen zusammen, als Brannon wieder hart an ihrer Warze sog und dabei seine Fingernägel in die Haut der Brust krallte. Zu ihrem Glück waren seine Nägel noch weich, doch schmerzhaft war es trotzdem.
Sie hatte andere Mütter beim Stillen gesehen und dabei keinerlei ähnlich aggressives Verhalten der Kinder beobachtet. Noch nicht einmal andeutungsweise. Sie tröstete sich dann immer mit dem Gedanken, das Brannon eben ein besonderes Kind war, von einem besonderen Mann.
Der tot in seiner Gruft lag und zu ihrer aller Verwunderung immer noch nicht verwesen wollte.
Jedes Mal, wenn sie mit ihren einsamen Gedanken an diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt war, stürzte sie in ein Wechselbad widerstreitender Gefühle.
Warum habe ich ihm nicht von dem Trank gegeben? Sétanta hütet den spärlichen Rest wie einen Schatz. Vielleicht wartet er nur darauf, dass ich ihn darum bitte. Was hält mich davon ab, den Mann, den ich liebe, den Vater meines Kindes, wiederzuerwecken?
Ihre Gedanken wurden durch ein leises Geräusch unterbrochen. Jemand hustete vernehmlich hinter der geschlossenen Tür.
Arianrhod schob entschlossen Brannons Händchen von sich und erntete dafür ein protestierendes Jammern. Gleichzeitig sah sie mit Genugtuung, wie dem Jungen die Augenlider zufielen. Sie erhob sich und bettete ihn rasch in seine weiche Liege. Wie immer vermisste sie ein Aufstoßen oder gar einen kleinen Schwall an Milch, so wie dies bei anderen Kleinkindern zum üblichen Verhalten zählte.
Was er einmal hat, gibt er nicht wieder her, dachte sie und richtete ihre Kleidung zurecht.
»Komm herein, Swidger«, sagte sie und freute sich, ein vertrautes Gesicht zu sehen.
Das Gesicht, das der Person gehörte, die nun eintrat, war ihr selbstverständlich auch vertraut, doch hatte sie es jetzt nicht erwartet.
»Inga.«
Mit ein wenig Verwunderung und auch Neid empfing sie ihre ehemalige Sklavin, die längst zur Freundin geworden war.
»Ich freue mich, dass du mich besuchst, komm herein.«
Sie ging zwei Schritte auf die Germanin zu und wollte sie in die Arme schließen. Doch Inga machte ein verkniffenes Gesicht und ging auf die Knie.
»Ich grüße dich, meine Königin.«
Arianrhod blieb wie angewurzelt stehen und spürte Ärger in sich aufsteigen.
»Was soll das, Inga? Seit wann bin ich für dich eine Königin und keine Freundin mehr?«
Sie trat an die blonde Frau heran und zog sie an den Schultern nach oben. Sie versuchte im Gesicht ihres Gegenübers Hinweise für ihr Verhalten zu entdecken, aber Inga drehte sich ein wenig zur Seite.
»Du hast nach Swidger gerufen …«
»Natürlich, er ist meine Leibwache. Nur sehr wenige dürfen sich mir hier so einfach nähern. Und du und er gehören zu diesem Kreis. Und du weißt, dass er diese Aufgabe todernst nimmt. Ich kann ihn nur schwer dazu bringen, seine selbst auferlegte Pflicht für andere Dinge zu unterbrechen. Für dich zum Beispiel. Bitte sieh mich an«, forderte sie und ließ die Hände vor ihren Schultern sinken.
Inga wandte sich ihr zu und ein zaghaftes Lächeln stahl sich in ihre Augen.
»Ja, du hast recht, Lu… Arianrhod. Er nimmt seinen Dienst sehr ernst. Er hadert immer noch mit seinem Versagen bei Túans Ermordung …«
»Es war weder seine Schuld noch sein Versagen. Niemand außer mir hätte Túan retten können.«
Ingas Kopf ruckte nach oben. »Auch du machst dir Vorwürfe?«
Arianrhod lachte hart auf und ihr vorheriger leichter Ärger änderte seinen Ursprung.
»Natürlich, was denkst du denn? Ich stand ihm am nächsten, ich hätte Trebius Servantus niemals so nahe an ihn heranlassen dürfen. Ich hätte ihn noch davon abhalten können, wenn mich meine Ahnungslosigkeit und Überraschung nicht gelähmt hätte.« Sie machte eine winzige Pause. »Túan würde noch leben und an meiner Seite sein.« Wieder kam der Neid auf Ingas Glück in ihr hoch.
»Und warum gibst du ihm nicht von dem Trank? Alle denken so, sie trauen sich nur nicht, dich danach zu fragen. Du bist ihre Königin. Ich … bin deine Freundin.« Wieder lächelte sie zaghaft und endlich nahm sie Arianrhod in ihre Arme. »Sie haben mich zu dir geschickt, um dich genau das zu fragen.«
»Wer sind sie?«, fragte Arianrhod und dachte sofort an Sétanta.
»Na, Maelchon, Catriona, Fionnghal, fast alle Führer baten mich um diesen Besuch.«
Die beiden Frauen lösten sich voneinander und auf eine Geste Arianrhods hin, setzten sie sich auf zwei dick mit Fellen bedeckte Hocker aus Holz. Einer davon war extra für Mutter und Kind mit stützenden Arm- und Rückenlehnen ausgestattet worden. Für ein paar Augenblicke sagte keine der Frauen etwas, sondern lauschten dem Knistern des Feuers und dem ruhigen Atmen des schlafenden Brannon.
»Und Sétanta?«, fragte Arianrhod schließlich und hatte den Eindruck, dass Inga für diese Nachfrage dankbar war.
»Ich mag ihn nicht, er ist mir unheimlich«, antwortete Inga sofort und eine gewisse Erregung färbte ihre nächsten Worte. »Natürlich steckt er dahinter.« Sie schüttelte leicht den Kopf und blickte ihre Freundin nun offen an. »Ich bin sogar der Überzeugung, dass er nicht lange damit warten wird, diesen Schritt von dir zu fordern.«
Ein wenig erstaunt und doch im Innersten wenig überrascht, nickte Arianrhod und griff nach einer Schale mit gewässertem Wein. Sie bot Inga ebenfalls davon an, doch die lehnte stumm ab. Sie nahm einen tiefen Schluck und knetete dabei unbewusst eine ihrer schmerzenden Brüste. Inga sah es, sagte aber nichts.
»So, du meinst also, er wird dies von mir fordern. Was könnte er für einen Grund dafür haben, außer mir meinen Mann und den Kriegern ihren Anführer zurückzugeben?«
Inga bewies, dass sie sich längst mit dieser Frage beschäftigt hatte, denn sie antwortete sofort.
»Genau das! Er scheint in dir nicht die Anführerin zu sehen, welche die Picten - entschuldige, die Cruithin - für ihren Kampf brauchen.«
»Aber es gibt viele weibliche Kriegerinnen … und auch Fürstinnen. Das sollte ihm nicht fremd sein.«
»Vielleicht traut er dir trotz deiner Abkehr von Rom und deiner Rache an Magnus Lucius nicht.« Sie hatte bewusst das Wort Vater vermieden. »Möglicherweise hält er die bereits existierende Armee für nicht ausreichend, um die Römer aus ganz Britannien zu vertreiben.«
Jetzt war Arianrhod wirklich überrascht. »Du meinst, er will weitere Spiegelkrieger erschaffen? Es existiert noch ein kleiner Rest des Trankes …«
»Und diesen verwahrt er wie einen Schatz …«, fiel ihr Inga ins Wort.
Sie hat es auch bemerkt, schoss Arianrhod der Gedanke durch den Kopf.
»… aber er scheint der Meinung zu sein, dass damit sich die Zahl der Krieger nicht wesentlich steigern lassen dürfte. Womit er sicherlich auch recht hat. Ich habe den Schlauch ein einziges Mal gesehen, bevor er ihn weggepackt hat. Es ist nicht mehr als ein Schluck davon übrig.«
»Sétanta ist alt. Vielleicht will er diesen Rest für sich nutzen. Wenn er stirbt, könnte ein Verwandter ihn damit ein zweites Leben geben.« Arianrhod nahm einen weiteren Schluck und stellte dann den Krug beiseite. »Hat denn Sétanta eine Familie?«
»Ich habe mich behutsam danach erkundigt. Er hatte früher eine Frau, die aber schon lange tot ist. Von anderen Verwandten weiß ich nichts, aber das hat nichts zu sagen.«
Es klopfte an der Tür und am Rhythmus erkannte Arianrhod, dass es nun wirklich Swidger sein musste. Zu Ingas Überraschung glitt ihre Hand jedoch trotzdem an einer Lehne herunter und gelangte somit in die Nähe einer wie zufällig bereitstehenden Klinge, die frisch geschliffen im flackernden Licht des Feuers blinkte.
Arianrhod hatte natürlich die verhaltene Eifersucht Ingas gespürt und ihre in Wahrheit sinnlose Geste sollte der Freundin nur signalisieren, dass sie und Swidger noch nicht so vertraut waren, dass sie auf diese Vorsichtsmaßnahme verzichten konnte. Und prompt huschte ein zufriedenes Lächeln über Ingas Gesicht. Nur einen Wimpernschlag lang, doch Arianrhod genügte es.
»Wer ist da?« Sie vermied es, einen Namen zu rufen.
»Swidger, meine Königin. Und Sétanta ist bei mir.«
Die Frauen warfen sich beredte Blicke zu.
»Kommt herein!«
Die schwere Tür öffnete sich und Swidger füllte die Lücke fast völlig mit seinem mächtigen Körper aus. Natürlich entging ihm nicht Arianrhods baumelnde Hand in der Nähe der Klinge und er runzelte ein klein wenig die Stirn. Trotzdem nahm er freudig die entspannte Szene in sich auf und machte wortlos Platz für den alten Druiden. Der schob sich langsam herein, warf einen Blick auf den schlafenden Jungen und blieb aufgerichtet stehen.
»Ich sehe, es geht euch beiden gut, Königin«, begann er und ihm war anzusehen, dass er vor Ungeduld förmlich brannte. Sogar auf eine Begrüßung hatte er verzichtet, wahrscheinlich aber einfach nur vergessen.
Als Inga sich erheben und verabschieden wollte, hielt Arianrhod sie mit einer Geste zurück.
»Bleib hier, Inga. Es gibt nichts, was du nicht hören dürftest. Und auch du bleibst hier, Swidger.«
Der Germane nickte nur und blieb neben dem für ihn zu niedrigen Türstock, aber auf der Innenseite des Raumes, stehen. Seine Hand lag dabei wie zur Entspannung lässig auf dem Knauf seines riesigen Breitschwertes.
Sétanta sah sich um, konnte aber keine weitere Sitzgelegenheit entdecken und blieb somit einfach stehen. Er schien mit sich zu ringen und bot somit Arianrhod Gelegenheit, ihn zu betrachten.
Seine gebräunte Haut war zerfurcht wie die wildesten Schluchten und Berge des Hochlandes. Seine hohe Gestalt war hager, fast dürr, strahlte aber eine Kraft aus, die manche Männer in geringerem Alter nicht aufbieten konnten. Überhaupt hatte sie keine Ahnung, wie alt der Druide war. Er hatte es bisher nie erwähnt. Seine weiße Druidenkutte war frisch gewaschen und trug natürlich Symbole, wie sie Arianrhod schon auf Túans Kutte gesehen hatte. Dazu aber auch einige, die ihr unbekannt waren. Seine grauen Augen wirkten wie eine Mischung aus Fels und Stahl. Seine sonst beherrschte Gestik schien verschwunden, eine gewisse Unruhe verleitete ihn zu nervösen Bewegungen.
Er weiß nicht, wie ich reagieren werde, wenn er seinen Wunsch – nein, seine Forderung – vorbringen wird, dachte Arianrhod und lächelte ihm ehrlich, aber vorsichtig, entgegen.
»Danke der Nachfrage, Sétanta, es geht uns gut. Was verschafft mir die Ehre deines Besuches? Es tut mir leid, dass ich dir keinen Platz anbieten kann, aber dein Besuch ist sicher eher privater Natur und dies ist keine Audienzhalle, nicht wahr?«
»Ja …, nein. Es ist wirklich eine private Angelegenheit«, fasste er sich. »Ich … wir wollten dir so viel Zeit geben, wie nur möglich, aber wir sind der Meinung, dass uns nicht unendlich Zeit zur Verfügung steht.«
»Zeit für was, Sétanta?«
»Für die Befreiung unseres Landes. Was sonst, meine Königin?« Er schien wirklich überrascht zu sein, dass sie das nicht von selbst erkannt hatte.
Oder er ist nur ein verdammt guter Schauspieler, dachte Arianrhod und so langsam fand sie Gefallen daran, ihn ein wenig zappeln zu lassen. Andererseits sehnte sie sich gerade das herbei, was er ihr sicher gleich vorschlagen würde.
Oh, mein Túan, wenn ich dich nur bald wieder haben könnte.
»Sicher, wir haben noch Winter«, fuhr er fort. »Und von den Römern dürften wir nicht nur deswegen vorerst Ruhe haben. Trotzdem sollten wir uns jetzt für das Frühjahr rüsten und unsere Armee weiter ausbauen. Die Kämpfe am gesamten Wall waren eine Sache. Aber das ganze Land bis hinunter an die Südküste ist eine andere. Und wie du weißt, meine Königin, es ist uns bislang nicht gelungen, andere Stämme der Cruithin mit unseren Truppen zu vereinen. Mehrere Versuche sind gescheitert, die meisten haben entweder Angst vor unseren Kriegern oder glauben nicht an die Meldungen unserer Siege.«
Arianrhod bemerkte sehr wohl, dass er uns anstelle von dir gesagt hatte.
Er ist vorsichtig. Sie nickte zustimmend, sowohl zu seinen Worten als auch zu ihren eigenen Gedanken.
»Was schlägst du also vor, Druide? Hast du einen anderen Zauber, der uns bei unserem Krieg behilflich sein könnte?«
Im gleichen Augenblick, als sie die Worte aussprach, erkannte sie ihren Fehler.
Sétanta versteifte sich und sein Gesicht nahm unweigerlich einen stolzen Ausdruck an.
»Ich habe viele Fähigkeiten, aber die Macht, über welche dein Mann verfügte, kann ich nicht heraufbeschwören. Dazu brauchen wir ihn schon selbst.« Den Rest ließ er ungesagt im Raum schweben, aber jeder wusste, was er meinte.
»Seit der Sekunde, in der der Römer ihn hinterrücks ermordete, denke ich an nichts anderes mehr, Sétanta, das sei dir versichert«, sagte sie mit harter Stimme. »Aber immer wenn ich meine Spiegelkrieger betrachte, quält mich der Gedanke, dass an seiner statt zwei, drei oder mehr Túan vor mir stehen und mir ihre Liebe beteuern. Wie sollte ich mich da für einen entscheiden und die anderen abweisen? Wie würden diese sich verhalten, wenn sie mich mit einem von ihnen eng verbunden und tagtäglich sehen könnten und sie selbst – jeder Einzelne davon – eine unerfüllte Liebe in sich trüge? Wäre das nicht grausam? Würde das nicht zu Mord und noch mal Mord führen? Bruder an Bruder? Vielleicht sogar an seinem Kind?«
Sétanta atmete erleichtert auf und bekam durch ihre Worte bestätigt, dass sie so gut wie nichts von Túan über die Wirkungsweise des Trankes erfahren haben konnte. Vielleicht ahnte sie dies oder jenes, aber wissen konnte sie nichts.
Der Grund seiner Erleichterung blieb ihnen verborgen. Seine offen gezeigte gleiche Empfindung legten sie allerdings falsch aus und wieder erkannte er dies und fühlte insgeheim Freude über ihr Unwissen.
»Nun, dann kann ich dir genau diese Angst nehmen, meine Königin. Ich kenne alle Auswirkungen des Trankes und kann dir versichern, nur diesen – deinen – Túan ein zweites Leben geben zu können.«
Inga und Arianrhod waren verblüfft; das hatten sie nicht erwartet. Swidger bewegte sich unangenehm berührt und fühlte sich bei diesem Gespräch völlig fehl am Platz. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre trotz des Schneesturms nach draußen gegangen.
»Woher kennst du die Wirkungen des Trankes? Ich habe dich bis wenige Wochen vor Túans Tod nicht gekannt und auch danach schien es mir nicht so, als würdest du oft mit ihm gesprochen haben. Hat er dir sein Geheimnis offenbart?«
Arianrhod bezweifelte dies stark und erwartete irgendeine Lüge zu hören. Stattdessen erfuhr sie die Wahrheit und wieder einmal hatte sie den Eindruck, dass sie dieses Volk noch lange nicht wirklich als das ihre betrachten konnte.
»Ich kannte Túans Meister, Kennaigh. Er und ich waren Freunde, viele Jahre, bevor wir beide alterten und er - ohne das ich je davon erfuhr - Túan als seinen Schüler aufnahm.«
»Das erklärt nicht, woher du von dem Trank weißt«, wagte Inga einzuwerfen und erntete dafür von dem alten Druiden einen strafenden Blick. Trotzdem nickte er ihr zu.
»Du hast recht. Aber ich war noch nicht fertig mit meiner Erklärung.« Ein zweiter strafender Blick traf sie und sie hielt ihm stand. »Kennaigh hatte sich in jungen Jahren auf dem Festland herumgetrieben, wie er es ausdrückte, und kam auf unsere Insel mit einer schweren Last beladen zurück. Wir beide hatten bei einem Treffen auf Ynys Môn über die Tafel mit dem Rezept diskutiert. Ich wollte schon damals seine Kraft nutzen und vielleicht wäre es dann nicht zu diesem Massaker gekommen. Kennaigh aber hatte zu viel Angst vor dem Trank und verriet mir weder das Rezept noch den Aufbewahrungsort der Tafel.«
Das ist es!, durchfuhr es Arianrhod. Er hätte längst weitere Spiegelkrieger erweckt, wenn er die Tafel besitzen würde. Er weiß auch jetzt nicht, wo sie sich befindet! Und vielleicht denkt er sogar, dass ich sie haben könnte.
»Es tut mir leid, Sétanta, auch ich weiß nicht, wo Túan die Tafel aufbewahrt hat. Und das Rezept des Trankes kenne ich ohnehin nicht, auch wenn ich viele Bestandteile gesehen habe, die er dafür verwendet hat.«
Sie blickte zuerst zu Inga, dann zu Swidger und danach mit einem langen Blick auf den immer noch schlafenden Brannon. Auch er würde seinen Vater brauchen. Sie fasste einen Entschluss.
»Also schön. Du bist dir völlig sicher, dass du mir meinen Túan mac Ruith wiedergeben kannst? Kein Spiegelbild?«
Sétanta nickte nur.
»Dann sag mir wie!«, befahl sie und wieder hörte jeder ihre Eisenhärte in der Stimme und die wenig versteckte Drohung darin.
Seine steingrauen Augen blitzten und er sprach jedes Wort mit klarer Betonung aus.
»Es darf nur ein Tropfen sein!«
Um die Gruft standen einige Hundert Krieger und Kriegerinnen. Zuvorderst natürlich Maelchon mac Cean, Catriona maqq Horestiani und all die anderen wiederbelebten Fürsten und Clanchefs.
In Windeseile hatte sich durch das ganze Winterlager des Heeres die Nachricht verbreitet, dass sie Túan mac Ruith, ihren Druiden, wieder aus der Gruft holen wollten. Das einzige, was die Ausbreitung der Nachricht behindert hatte, war der brusthohe Schnee gewesen, der das ganze Land blütenweiß bedeckte.
Arianrhod, Inga, Swidger und selbstverständlich Sétanta waren allein in die Gruft gestiegen und hatten eine ganze Reihe von Fackeln an den Wänden entzündet. Die Luft in der Grabkammer war erfüllt von den Ausdünstungen der verdorbenen Speisen und Getränke, die man Túan für seine Reise in die Anderswelt mitgegeben hatte und die immer noch unberührt in ihren Gefäßen vergammelten. Niemand hatte es gewagt, sie durch frische zu ersetzen.
Die Fackeln rußten ein wenig und fast alle waren für den Rauch dankbar, der ein wenig die Fäulnis der Lebensmittel überdeckte. Mit wenigen Handgriffen hatten Inga und Sétanta den Sarg geöffnet, das mit Runen bedeckte Leichentuch entfernt und mit einem Lappen und warmen Wasser die Schicht aus Staub und Reif auf dem Gesicht des Toten abgewaschen. Es war eiskalt in der Grube. Sein Haar hatte man schon bei der Beisetzung so gekämmt gehabt, dass die schwere Kopfwunde, welche ihm Trebius Servantus zugefügt hatte, nicht besonders ins Auge fiel. Bei einem oberflächlichen Blick hätte man meinen können, dass der Druide nur schlief.
Vielleicht tut er das ja auch, überlegte Arianrhod und beobachtete jeden einzelnen Handgriff Sétantas.
Túans Haare und Fingernägel waren ein wenig gewachsen, aber das geschah auch bei richtigen Toten.
Sétanta blickte sie noch einmal fragend an, aber innerlich triumphierte er bereits. Er wusste, dass niemand die wahre Bedeutung der Worte erkennen würde, die er gleich in ein Ohr des Toten flüstern würde. Mit scheinbarer Ergebenheit wartete er Arianrhods stumme Erlaubnis ab und öffnete mit übertriebener Sorgfalt den fast leeren Schlauch. Er hielt sogar noch schützend eine Hand unter die Öffnung und ließ wirklich nur einen einzigen Tropfen in den zuvor geöffneten Mund seines Glaubensbruders fallen. Danach schloss er den Mund wieder und beugte sich tief zu ihm hinunter. Aber dies tat er in Wahrheit nur, damit niemand auch nur eine Chance hatte, die Worte zu verstehen.
Mit leiser Stimme sprach er zu dem Toten.
«Fy mbrawd wedi marw, llongyfarchiadau i ti! Cymer fy rhodd, defnyddia dy ail gyfle di a wranda: Fydd yna ddim un arall, felly ei ddefnyddia e yn iawn! Bydded ti'n cael dy rwymo arna i am byth a chyfodi di'n fuan!
Beim letzten Teil des Spruches wusste er, dass sich der Wiedererweckte nicht an ihn gebunden fühlen würde. Schließlich hatte Sétanta dem Trank nicht von seinem eigenen Fleisch und Blut gegeben. Trotzdem hatte er die Worte gesprochen. Er wagte es nicht, an der uralten Magie auch nur eine Silbe zu verändern. Und einen vollständig neuen Ansatz eben mit seinen eigenen Zusätzen konnte er nicht brauen, da er nicht im Besitz des Rezeptes war und schon gar keine Kenntnis der richtigen Dosierungen hatte.
Nun, das wird sich hoffentlich bald ändern, grinste er in sich hinein und konnte gerade noch seine Heimtücke in diesem Grinsen verbergen, ehe er sich erhob und immer noch lächelnd an Arianrhod herantrat.
»Wie ich hörte, hast du schon einer Erweckung beigewohnt. Also wird es dir keine Angst mehr bereiten, wenn du bei ihm bleibst. Ich bin davon überzeugt, dass es für ihn von Vorteil ist, wenn du bei ihm bist, wenn er erwacht.« Mit gespielter Fürsorge fasste er sie an den Schultern und drückte sie leicht. »Freue dich, meine Königin. Dein Mann wird bald wieder bei dir sein.« Er lächelte immer noch und Arianrhod war so aufgeregt, dass sie die Falschheit darin nicht sah. »Und es spricht nichts dagegen, dass ich euch in den Bund der Ehe führe, sobald sich seine anfängliche Verwirrung gelegt hat.«
Er verneigte sich kurz vor ihr und verließ die Kammer.
Inga und Swidger hatten sich an den Händen gefasst und traten nun zu Arianrhod mac Ruith und ergriffen auch ihre zitternden Hände.
Es dauert länger als damals bei Swidger und Trebius, dachte Arianrhod und auch die beiden Germanen wurden langsam unruhig. Aber vielleicht liegt es daran, dass er schon so lange … tot ist … war. Sorge und Aufregung verwirrten ihre Gedanken und mit jeder Sekunde, die verging, konnte sie weniger klar denken. Längst hatte sie sich erhoben und eine seiner Hände ergriffen, erschrocken über die anhaltende Kälte diese sofort wieder losgelassen, nur um sie schließlich erneut zwischen ihre bebenden Hände zu nehmen.
Von den Fackeln waren einige erloschen, aber drei brannten noch und verbreiteten ein gespenstisches Dämmerlicht. Es musste mittlerweile schon nach Mitternacht sein und draußen verharrte nur noch ein Bruchteil der anfänglichen Massen. Kälte und Müdigkeit trieben viele in ihre Zelte und Hütten.
Gerade wollte auch Arianrhod die beiden in ihre Behausung schicken, als sich das Licht im Raum änderte. Ein grüner Schein mischte sich in das goldgelbe Licht der letzten verbliebenen Fackeln.
Erleichtert wandte sich Arianrhod an ihre Freunde.
»Es beginnt.«
Beide antworteten mit einem gequält aufmunternden Lächeln und beobachteten mit wachsender Spannung das Ansteigen des Leuchtens. Keiner der Drei konnte sagen, wie viel Zeit verging, bis das Licht eine Intensität erreicht hatte, dass es die Leuchtkraft der Fackeln übertraf. Arianrhod sah natürlich an dem vor ihr liegendem Körper das Licht unmittelbar.
Wie eine zweite Haut schmiegte sich der grüne Schimmer um Túan. Einzelne Schwaden züngelten wie Schlangen über den Leichnam und wanden sich unstet kreuz und quer über Kleidung und Haut. Selbst durch die wenigen Kleidungsstücke drang das immer stärker und stärker werdende Licht. In dem Moment, als Arianrhod glaubte, nicht mehr hinsehen zu können, bildeten sich an beiden Beinen und am Kopf blendend helle Sonnen und umspielten die Wunden. Rasch schloss sie ihre Augen, doch sie musste beide Hände davor legen, um nicht geblendet zu werden. Auch Inga und Swidger wandten sich ab, als das Licht mit seiner Helligkeit das ganze Grab auszubrennen schien. Doch das Grün gab keinen wärmenden oder Freude vermittelnden Schein von sich, sondern hatte einen grausamen, giftigen Ton angenommen, der allen Drei unheimliche Schauder über die Rücken fahren ließ.
Und plötzlich wand sich Túans Körper wie in Krämpfen und zuckte mit allen Gliedern. Swidger hatte auf Folterbänken schon Menschen gesehen, die sich ähnlich gebärdeten. Immer heftiger wurden Túans Qualen, die er offensichtlich erlitt. Niemand sagte ein Wort, aber jeder – selbst der sonst so unerschrockene Germane – spürten, dass hier eine Veränderung im Gange war, die sich von der Wiederbelebung anderer Picten unterschied.
Unvermittelt begann der Druide Töne von sich zu geben, ein Wimmern wie von alten Weibern. Innerhalb von Augenblicken steigerte sich das Wimmern zu Trauergeschrei wie von Witwen am Grab eines Verstorbenen. Schlagartig stieß der Halbtote heftige Schreie voller Schmerz und Pein aus.
Von draußen kamen Catriona und Fionnghal hereingestürmt und blickten verwirrt auf die Szenerie. Auch Maelchon mac Cean wollte in die Kammer, doch für mehr als fünf Personen um den Aufgebahrten bot sie keinen Platz. Also blieb er im Eingang stehen und blickte entsetzt auf das unheimliche Leuchten.
Zehn Hände versuchten Túan zu bändigen und mussten alle Kraft aufwenden, um seiner Stärke etwas entgegensetzen zu können. Wäre er bei vollem Bewusstsein gewesen, so hätte ihre gesammelte Kraft nicht ausgereicht um seiner Herr zu werden. Eine dämonische Macht hatte ihn ergriffen und Arianrhod betete zu allen Göttern – römischen wie cruithischen -, dass er die Prozedur überstand.
Und wieder schob jeder für sich den außergewöhnlichen Verlauf der Erweckung auf den Umstand, dass eben eine lange Zeit verstrichen war, bevor der Trank verabreicht wurde. Alle traten an die Liegestatt heran und versuchten, den sich aufbäumenden, zitternden Körper zu beruhigen oder wenigstens davon abzuhalten, auf den Boden zu stürzen.
Túan schrie nun mit seltsam veränderter Stimme auf und brüllte unverständliche Worte so laut heraus, dass die vor der Gruft wartenden Cruithin unruhig wurden und nervös um sich blickten. Doch kein Feind oder Dämon zeigte sich.
Arianrhod verfolgte mit wild schlagendem Herzen und verkrampften Fingern, wie sich die Wunden endlich schlossen, als hätte es sie nie gegeben. Mit dem letzten Schorf, der verschwand, erlosch auch das grüne Glühen und verebbte das Geschrei ihres Geliebten und sie war für beides dankbar. Recht viel länger hätte sie diese Tortur nicht ertragen können. Fast war es ihr vorgekommen, als packe eine alte Macht aus uralten Zeiten nach ihrem Herzen und umfing es mit eiskaltem Griff.
Nur langsam beruhigte er sich und sie begriff, dass der Vorgang abgeschlossen war. Statt einer kalten, scheinbar toten Hand, hielt sie neues Leben in der ihren, spürte verhaltene Wärme aufkommen. Endlich lag er wieder völlig still da und sie fürchtete schon, der Zauber hätte trotz des vorherigen Tobens nicht gewirkt. Sie führte ihre Rechte auf seinen Brustkorb und hielt den Atem an, so als könnte sie seinen nicht wahrnehmen, wenn sie selbst atmete.
Und tatsächlich; seine Brust hob und senkte sich. Ruhig, gleichmäßig, als hätte sie nie aufgehört, Luft in seine Lungen zu pumpen.
Als er schließlich seine Augen öffnete und im schwachen Schein der wenigen Fackeln um sich blickte, brach es aus Arianrhod hervor. Sie warf sich auf seine Brust und weinte mit ohnmächtigem Schluchzen. Fast hätte sie seine leise Stimme nicht vernommen, als er ihr zuflüsterte:
»Hab keine Angst, ich bin wieder bei dir.«