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Kapitel III A. D. 183, Februar Zusammenkünfte
ОглавлениеTúan saß stumm an der Liege des Jungen und beobachtete fasziniert dessen Schlaf. Seit Stunden sog er jedes Detail seines Sohnes in sich auf und genoss den Frieden, den das Kind seiner Meinung nach ausstrahlte. Immer wieder entdeckte er Merkmale von dessen Mutter und sich selbst an ihm und freute sich über die verhaltenen Bewegungen des Kleinen.
Brannon hatte das schwarze Haar seiner Mutter, dazu ihre vollen Lippen und - wie Túan in wachen Stunden bemerken konnte -, auch deren dunkle Augen. Von ihm schien er die Veranlagung zu späterer Größe geerbt zu haben, denn in den wenigen Monaten seit seiner Geburt, hatte er schon ziemlich an Gewicht und Größe zugelegt. Auch der Schnitt seines Gesichtes folgte dem Vorbild des Vaters. Trotz aller Rundlichkeit, die kleine Kinder besaßen, waren die Ansätze dazu überdeutlich zu sehen.
Arianrhod trat an Túan heran und schmiegte sich in seinen Schoß.
»Wenn er schläft, ist er dir am ähnlichsten, Liebster«, sagte sie sanft und trotzdem konnte er das Bedauern in den Worten wahrnehmen.
»Und wenn er wach ist?«, fragte er und fasste ihre rechte Hand, die mit seiner Wange spielte.
»Er ist anders als alle Kinder, die ich kenne. Er … ist fordernd und hellwach.«
»Sind das nicht alle Kinder?« Auch Túan begann jetzt, sie zu streicheln und fuhr mit seiner freien Hand durch ihr Haar und gelangte vom Rücken schließlich zu ihren Hüften. Sie räkelte sich wohlig und hauchte ihm ins Ohr.
»Wir sollten die Zeit nutzen, in der er schläft.«
Túan grinste und nestelte an seinem leichten Umhang.
»Du scheinst etwas aus der Übung zu sein, mein zukünftiger Gemahl«, lachte sie leise und zog ihn aufs Bett. Mit aufreizender Geste ahmte sie an ihrem eigenen Kleid seine ungeschickten Bemühungen nach, und erreichte damit, dass auch er verhalten lachte.
Schließlich schälten sich beide aus ihren Kleidungsstücken und sanken auf das Bett nieder. Während er begann, ihre Brüste mit seinen Lippen zu liebkosen, strichen ihre Finger wie in früherer Manier über seinen Körper. Sie suchten nach all den Wunden, die er erlitten oder sich selbst zugefügt hatte, wie sie immer noch mehr ahnte als wusste. Seine Erregung war mittlerweile so in Fahrt gekommen, dass er dieses Mal nicht stutzte und innehielt, sondern anfing, eine ihrer Brüste leicht zu kneten. Mit ein wenig Überraschung und einem verstehenden Lachen hörte er damit auf, als ein wenig Muttermilch hervortrat.
Auch sie besann sich und beendete ihre Suche nach den Spuren alter Wunden. Sie zog ihn herab und küsste ihn, zunächst zart und beinahe schüchtern, dann immer leidenschaftlicher und erregter.
Ihr Liebesspiel nahm sie völlig gefangen, jeder hatte sichtlich Nachholbedarf an Glück und Zärtlichkeit. Tief in ihrem Innern ahnten oder wussten beide, dass dies nicht lange so bleiben würde, und gaben sich nun der Stunde und dem Partner völlig hin. Trotz des harten Winters draußen vor dem Gebäude war es mollig warm. Nach Túans Geschmack schon zu warm, aber er nahm dies hin, denn das Neugeborene und die ehemalige Südländerin brauchten sicher andere Temperaturen als er.
Bald waren beide von Schweiß bedeckt und bemühten sich ihre Leidenschaft nicht auch in lautem Stöhnen oder Ächzen auszudrücken. Und das nicht nur des Kleinen wegen, sondern auch wegen der Wachen. Beide wussten, dass diese nur eine Wand aus stämmigen Hölzern entfernt ihrer Aufgabe nachkamen und über ausgezeichnete Ohren verfügten.
Aber schließlich erreichten beide kurz hintereinander ihren Höhepunkt und sanken erschöpft, aber glücklich nieder und atmeten noch Minuten heftig von der lange vermissten Anstrengung.
Arianrhod war die Erste, die sich wieder regte und ein wenig verwundert auf den immer noch deutlich mehr als normal atmenden Geliebten blickte.
»Es scheint, als dürfte ich dich das nächste Mal nicht so sehr in Anspruch nehmen«, sagte sie halb im Scherz und halb im Ernst. »Du atmest, als hättest du einen langen Marsch hinter dich gebracht und kein – zugegeben sehr anhaltendes – Liebespiel. Fühlst du dich wohl?«
Längst hatte er sich die gleiche Frage gestellt und wunderte sich über seine anhaltende Erschöpfung.
»Es … scheint so, als wäre ich doch noch nicht völlig wieder auferstanden«, gab er zerknirscht zu.
»Nun, zumindest ein Teil von dir ist völlig erwacht«, versuchte sie anzüglich über ihre echte Besorgnis hinwegzutäuschen.
Túan blickte doppelt betreten, als er Brannon wahrnahm, der hellwach in seiner Liege stand, sich mit seinen kleinen Händen am Rand festhielt und sie beide ausdruckslos ansah.
»Oh je, ich hoffe, er hat uns nicht die ganze Zeit beobachtet. Unser Sohn ist wach«, schob er überflüssigerweise nach und sah Arianrhod hinterher, die sich rasch ihr Kleid überwarf und zu dem Jungen ging. Sie nahm ihn auf die Arme und wandte sich Túan zu.
»Er kann stehen! Bei allen Göttern, er ist gerade neun Monate alt und steht auf seinen kleinen Beinchen.« Sie drückte ihn an sich und küsste seine beiden Wangen. Der Kleine behielt dabei seinen unbestimmten Ausdruck bei und gab keinen Ton von sich.
»Ja, er entwickelt sich erstaunlich schnell«, sagte Túan und warf einen langen Blick auf Brannon, den dieser ohne einmal mit den Augen zu blinzeln erwiderte.
Swidger grinste breit, als er nach seinem Klopfen ein »Komm nur herein, alter Germane!« gehört hatte, öffnete die Tür und trat ein. Mit einem unverhohlen anzüglichen Blick auf das zerwühlte Bett und immer noch grinsend, nahm er die ausgestreckten Hände Túans entgegen.
»Germane, ja, ein solcher bin ich, aber alt? Ich zählte erst 20 Sommer, und wenn du Inga darum bittest, wird sie dir vielleicht schildern, in welchem Alter ich stehe.« Wieder fiel sein Blick auf das Bett.
Túan lachte und Arianrhod schoss die Röte ins Gesicht.
»Männer«, sagte sie nur mit gespielter Verächtlichkeit und kümmerte sich intensiv um Brannon, der schon wieder mit seinen Lippen schmatzende Geräusche machte.
Der Druide und der Leibwächter gingen nach draußen und schlossen hinter sich die Tür. Sie gingen ein paar Schritte den kreisrunden Gang entlang und hielten an der Tür zum Vorraum an.
Bevor Túan mit dem begann, was er den mittlerweile zum Freund gewordenen Germanen sagen wollte, ergriff dieser das Wort.
»Ich freue mich, dich wieder unter den Lebenden zu sehen, Túan. Nun verbindet uns das Schicksal auch auf diese Weise miteinander. Und es nimmt mir eine schwere Last von den Schultern, dass du wieder lebend bei uns bist. Auch wenn du mir schon mehrmals versichert hast, dass du mir mein Versagen nicht vorwirfst, so brennt in mir immer noch die Wut darüber, dass ich die Zeichen nicht erkannte. Ich hätte Trebius …«
Túan hob eine Hand und unterbrach den ungewohnten Redeschwall des Germanen.
»Hör auf damit, Swidger! Wenn hier jemand versagt hat, dann ich selbst. Ich sah die Zeichen! Und habe sie dennoch falsch ausgelegt. Ich hätte erkennen müssen, dass der Römer trotz des Trankes eine ständige Gefahr darstellt.« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern und Swidger erkannte sehr wohl, dass er dies wegen möglicher Lauscher tat. «Aber was noch viel wichtiger ist: Diese Tat offenbart einen Umstand, den ich bisher nicht bedacht hatte. Ich verließ mich immer auf die absolute Zuverlässigkeit des Trankes, doch dem ist offensichtlich nicht so!«
Swidger reagierte wie immer, wenn die Sprache auf den Trank, dämonische Kräfte und ihm als abergläubischen Germanen unbegreifliche Zauber kam. Er rührte sich ungehalten und machte Anstalten, als wolle er davonlaufen.
Doch Túan fuhr rasch - und weiterhin flüsternd - fort:
»Ich fühle, dass meine Erweckung nicht gleich deiner oder all den anderen vonstatten ging. Seit Wochen schone ich mich, gehe nicht auf Wanderung oder Kriegspfad. Ich jage nicht, ich trainiere nicht, da ich spüre, dass ich nicht die Kraft habe, einem normalen Mann auch nur mit der Chance auf Sieg entgegentreten zu können. Selbst die wonnigen Mühen beim Liebesspiel ermatten mich mehr, als es früher der Fall war.« An dieser Stelle verzog er den Mund und lächelte über sein Selbstmitleid. »Um es kurz zu machen: Ich glaube nicht, dass mir ein langes Leben gegönnt ist! Daher möchte ich dir, starker Freund, eine Bürde aufladen, von der ich glaube, dass du der Einzige bist, der sie mit aller Kraft und Würde erfüllen kann.«
»Was könnte ich dem Manne verwehren, der mir das Leben wieder gab?«, antwortete Swidger und fasste erneut die Hände des Druiden.
Túan nickte.
»Ich hatte gehofft, dass du so denkst. Aber hör dir erst an, was ich dir abverlangen will, und dann sag mir, ob du dazu bereit bist.«
Dieses Mal sagte der Germane nichts.
»Deine Aufgabe als Arianrhods und meine Leibwache, ist wie ein Fels in meinem von seltsamen Stürmen erfülltem Herzen. Sollte ich, auf welche Weise auch immer, zu Tode kommen, dann möchte ich, dass du und Inga an Arianrhods Seite bleibt. Du weißt, dass es kein weiteres Erwecken für mich geben wird.«
Swidger runzelte ein wenig die Stirn und Túan befürchtete schon dessen Ablehnung, als der Germane mit schon fast beleidigter Stimme antwortete.
»Nichts anderes wäre mir – und Inga – jemals eingefallen. Darum bittest du mich? Um einen Dienst, den ich schon angetreten habe?«
»Nein, betrachte es nicht als Dienst, sondern als dein Leben! Bleib bei ihr, egal was auch die Zukunft bringen mag, ich bitte dich!«
Vielleicht war es das sprichwörtliche Gespür des blonden Hünen, das er erkannte, dass sich Túans Bitte auf mehr bezog, als auf bloßen Schutz. Wieder unangenehm berührt versuchte er, der plötzlichen Aussicht auf kommendes Unheil mit munteren Worten zu begegnen:
»Hahaha, was soll schon passieren? Die Römer laufen wie die Hasen vor uns davon und du hast die Macht, unendlich viele Krieger zu erschaffen, sogar den Toten ein zweites Leben zu schenken. Wer sollte uns also schaden können?« Doch sein Lachen wirkte gekünstelt und ihm fehlte die echte Freude darin.
»So wirst du also meinem Wunsch entsprechen?«
»Ich schwöre dir bei Odin und meinem Platz an dessen Seite in Walhall, dass sich die Schande meines Versagens niemals wiederholen wird!«
Túan wollte etwas erwidern, spürte aber, dass jedes Wort zu diesem Punkt gesprochen war.
Swidger schien diese Empfindung zu teilen, denn er verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das zuerst ein wenig verunglückt ausfiel, dann jedoch von ehrlicher Freude zeugte.
»Draußen wartet noch ein Freund auf dich, Túan«, sagte er und deutete mit einem Daumen über seine Schulter. »Die Leibwachen wollten ihn nicht zu euch lassen. Aber ich denke, du kannst jedwede Freude gebrauchen. Er wedelt schon die ganze Zeit mit dem Schwanz.«
»Bran?!«
»Genau der«, konnte Swidger noch antworten, dann schob ihn Túan zur Seite und stürmte davon.
Mit neu erwachter Kraft stieß Túan die Tür auf und konnte nur zwei Schritte machen, denn Bran hatte ihn kommen hören oder es gespürt und war seinerseits an den Wachen vorbeigesprungen.
Túan ließ sich auf die Knie fallen und wurde von Bran zu Boden gedrückt. Túan drückte ihn und zerwühlte ihm das Fell. Bran war außer sich vor Wiedersehensfreude und sprang um Túan herum, auf ihn zu und stieß ständig seine Schnauze an Brust, Hals und Gesicht.
Die Wachen gingen ein paar Schritte zurück, um den beiden Platz zu lassen. Swidger und Arianrhod blieben ebenfalls direkt vor der Tür stehen und lachten über die beiden, die sich im Schnee wälzten und sich wie Mitglieder eines Rudels hin- und herwarfen.
Fast schien es, als könne sich Bran gar nicht mehr beruhigen und es dauerte lange, bis die beiden endlich am schneebedeckten Boden saßen – Bran fast auf Túans Schoß – und eng aneinander geschmiegt und glücklich in die Runde blickten.
Und plötzlich hatte Túan Tränen in den Augen. Er streichelte Bran unentwegt und der winselte und jaulte verhalten bei jeder Bewegung.
»Du bist alt geworden, mein Freund«, flüsterte Túan und nur Arianrhod und Swidger konnten die Worte hören und blickten das Paar mit unterscheidlichem Ausdruck in ihren Augen an.
»Wie alt ist denn Bran?«, fragte Arianrhod und sah natürlich die großen grauen – und auch dünnen – Stellen im Fell des Wolfes.
»Er muss jetzt 15 … nein 16 Jahre alt sein«, sprach Túan und mit jedem Wort ließ er erkennen, dass er selbst erschrocken war über die Zahl die er genannt hatte.
»Ich wusste gar nicht, dass Wölfe so alt werden können«, begann Arianrhod. Unausgesprochen hing die Tatsache in der Luft, dass das Wiedersehen der beiden nicht lange von Dauer sein würde.
»Werden sie auch normalerweise nicht«, antwortete Túan und schämte sich nicht für seine Tränen. »Ich wusste vom ersten Tag an, dass Bran ein besonderer Freund werden würde … also versuchte ich, so oft es mir möglich war, ihm … Gutes zu tun.«
Er führte nicht genauer aus, was er damit meinte. Aber für Arianrhod und Swidger war klar, dass er damit nur seine Druidenkräfte meine konnte.
Einige Tage später trafen sich Túan mac Ruith und Sétanta auf einer Anhöhe am Rande des Lagers und blickten auf die Winterlandschaft. Seit Tagen hatte es nicht mehr geschneit und der Himmel zeigte sich wolkenfrei und in einem strahlenden Blau. Trotz allem war es immer noch sehr kalt und beide trugen über ihren Druidenkutten warme Winterkleidung.
Obwohl der ältere der beiden Druiden es genau wusste, fragte er scheinbar ehrlich besorgt:
»Wie geht es dir, mein Bruder?«
Túan überraschte die ihm ungewohnte Anrede ein wenig und drehte sich dem Alten zu.
»Wahrlich, wir sind Brüder. Noch nie hatte ich einen anderen Druiden mich so anreden hören. Mein alter Meister, Kennaigh, nannte mich immer Schüler … oder eben bei meinem Namen. Du kanntest Kennaigh, wie ich hörte?«
Sétanta frohlockte, als Túan seinen Meister erwähnte. Er hatte schon seit Tagen überlegt, wie er unverfänglich das Thema auf ihn bringen könnte. Er registrierte sehr wohl, dass Túan auf seine einleitende Frage nicht geantwortet hatte. Aber diese Chance, das Gespräch dorthin zu führen, wo er wollte, konnte er sich nicht entgehen lassen.
»Ja, wir waren Freunde und jung und ungestüm. Wir lernten uns auf Ynys Môn kennen. Wir beide traten dort in die Lehre unseres Ordensführers. Viele Jahre später, als Kennaigh von seinen Reisen auf dem Festland zurückkehrte, trafen wir uns dort wieder. Er zeigte mir die Steintafel, die nun dein Besitz ist.«
Túan nickte. Ihm brannte seinerseits eine Frage auf der Zunge. Bis zu seinem Kennenlernen Sétantas hatte er nicht mehr gehofft, jemals eine Antwort darauf zu erhalten. Beide hatten dieses Gespräch erhofft, doch jeder mit anderen Absichten.
»Als Kennaigh starb, fand ich sie in seinen Habseligkeiten. Er hatte sie all die Jahre die ich bei ihm war, vor mir versteckt und auch mit keiner Silbe erwähnt. Trotzdem hinterließ er mir Zeichen, sodass ich sie finden konnte …«
Sétanta nickte und erkannte den Punkt, an dem er einhaken konnte. »So ist das bei uns Druiden. Wissen wird in aller Regel mündlich überliefert. Doch diese Tafel stammt aus anderen Zeitaltern. Und das, was auf ihr geschrieben steht, taugt nicht dafür, nur mit Worten überliefert zu werden.«
Nun war Túan wirklich überrascht.
»Du kanntest die Tafel und ihre Macht? Dir hat er sie gezeigt und mir, seinem Schüler, nicht?«
Sétanta lächelte mit gespielter Väterlichkeit. »Natürlich, mein Junge! Verzeih´ mir die Worte: Aber du warst damals ein Kind, ich sein gleichaltriger Bruder. Du wusstest noch nichts oder wenig von den Künsten, über die wir verfügen und ich hatte die gleiche Ausbildung wie er genossen. Viele Jahre haben wir unsere Aufgaben erfüllt und weiteres Wissen erlangt. Und noch eines darfst du nicht vergessen, Túan, Schüler des Kennaigh: Ich war länger sein Freund, als du auf dieser Welt wandelst. Natürlich haben wir versucht die Tafel zu erforschen und natürlich ist es uns gelungen.«
Der unverhohlene Stolz und seine wenig kaschierte Zurschaustellung seiner Überlegenheit gingen völlig an Túan vorbei. Der war viel zu sehr damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie die beiden sich gemeinsam über die Tafel beugten und ihr Geheimnis erkundeten.
»Und habt ihr den Trank gebraut? Habt ihr …?«
Plötzlich stutzte er und blickte Sétanta mit Zweifel in den Augen an. »Wann hattet ihr an der Tafel geforscht? Du sagtest, ihr ward auf Ynys Môn; man nannte sie damals auch die Insel der Druiden …«
»Und so nennt man sie auch heute noch.«
»Ich hörte von Kennaigh, dass die Römer dort einfielen und mordend und brennend über die Insel gezogen sind. Selbst vor unseren Heiligtümern machten sie keinen Halt. Sie haben alles was sie finden konnten vernichtet und viele Tausend Cruithin starben und jeden Druiden, dessen sie habhaft wurden, haben sie gekreuzigt.«
Als hätte sich plötzlich der Himmel überraschend verdunkelt, so finster wirkte nun Sétantas furchenzerklüftetes Gesicht. »Und viele, sehr viele gingen lieber freiwillig in den Tod, als dass sie den Römern in die Hände fielen und ihnen unter der Folter ihr Wissen preisgegeben hätten. Es war schrecklich …«
Noch mehr Zweifel sprühten aus Túans Augen.
»Das … das klingt so, als wärest du dabei gewesen; ich meine beim Überfall der Römer.«
Hatte Sétanta ohnehin Augen wie Granit, so wirkten sie jetzt mindestens so alt, wie der Fels auf dem beide standen. Langsam, so als drückten ihn die Jahre, nickte er bestätigend.
Túan keuchte auf.
»Das war vor mehr als 120 Jahren! Wenn du dort schon ein erwachsener Mann warst, wie alt …«
»Ich feiere bald mein 143stes Jahr auf dieser Welt. Und es sieht nicht so aus, als dürfte ich in absehbarer Zeit die Anderswelt erklimmen.« Er nahm den Faden wieder auf. »Ich war dort zu dieser schrecklichen Zeit. Und Kennaigh und ich gehörten zu den Glücklichen, die dem ersten Ansturm entkommen konnten. Ich beschwor ihn damals, die Macht der Tafel einzusetzen. Ich bettelte darum, den Trank zu brauen und eine Armee zu erschaffen, um unsere Feinde in das Meer zurückzutreiben, über das sie unser Land heimgesucht haben. Doch Kennaigh hatte länger als ich die Tafel erforscht und war der Meinung, dass wir damit das Böse selbst auf die Erde zurückbringen würden. Du und dein Handeln beweisen, dass er damit falsch lag.«
Die Lüge ging ihm so glatt von der Zunge und Túan war so gebannt von der Erzählung, dass ihm auch dieses Detail entging.
»Noch bevor ich ihn überreden konnte«, fuhr Sétanta fort, »wenigstens ein solches Heer aufzustellen, dass die Römer zurückschlagen könnte, war er verschwunden … und mit ihm die Tafel! Lange Zeit glaubte ich, die Römer hätten ihn gefunden und ermordet, so wie viele, viele andere unserer Brüder und Landsleute.«
Er machte eine Pause und blickte Túan tief in die Augen.
»Erst als ich von unheimlichen Kriegern und ihren Siegen hörte, ahnte ich, dass die Tafel nicht verloren oder zerstört worden war. Sondern von jemandem - einem Druiden - erweckt und benutzt wurde. Von dir.«
Nun schien es, als würde Túan gebrechlicher sein, als der um das Vielfache ältere Mann vor ihm, so drückte ihn die Schilderung nieder. Seine Knie gaben nach und er setzte sich auf einen Stein.
»Viel Leid hätte verhindert werden können«, bestätigte er Sétantas Meinung. »Die Römer hätten schon damals zurückgeschlagen werden können. All die Weisheiten von Jahrhunderten, die verloren gingen, durch die Ermordung all unserer Brüder, all dies wäre nicht geschehen.« Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen und er hatte keine Scham, sie dem alten Freund seines Meisters zu zeigen. »Und auch meine Familie, mein ganzer Clan, würde noch am Leben sein.«
Der brennende Hass, der lange unter einer dünnen Schicht aus kurzfristigem Frieden und Liebe zu Arianrhod verborgen gewesen war, doch immer weiter geschwelt hatte, drang mit alter Kraft wieder an die Oberfläche. Seine momentane körperliche Schwäche schien verschwunden, wie vom Winde verweht, und Túan erhob sich mit neuer, in Wahrheit nur geliehener Kraft.
»Nun, Sétanta, mein Bruder. Ich denke anders als Kennaigh, wie du an meinen Taten gesehen hast und weiter tun wirst. Und noch einen Unterschied zu meinem Lehrer sollst du sehen: Ich werde nicht zulassen, dass das Wissen um so ein machtvolles Werkzeug wieder für viele Jahre in Vergessenheit gerät. Von nun an sollen immer zwei Druiden in das Geheimnis eingeweiht sein. Stößt einem etwas zu, kann der andere die Aufgabe fortführen. Solange, bis wir unser Land wieder befreit haben.«
Sétanta schaffte es, in seinem strahlenden Lächeln, die tiefe Zufriedenheit zu verbergen, die ihn erfüllte. Er beglückwünschte sich für seinen Einfall, dem spärlichen Rest des von Túan gebrauten Trankes einen weiteren Zusatz verabreicht zu haben. Von deinem Fleisch und Blut. Ihm war – im Gegensatz zu Kennaigh und offensichtlich auch Túan – schon vor vielen Jahren klar geworden, dass sich dieser Abschnitt nicht nur auf das Fleisch und Blut eines Druiden selbst bezog. Sondern auch auf dessen Kinder. Und der Bann, der einen Erweckten an den Überbringer des Trankes band, funktionierte eben nur mit diesen beiden Zutaten. Ohne sie würden die Wiedererweckten sich zwar erheben, aber nicht unbedingt dem Erwecker folgen.
Und so hat und wird der Tölpel doch noch zu etwas Sinnvollem seinen Beitrag leisten können, dachte er und innerlich lachte er grausam und höhnisch. Seine Gaben haben Túan zumindest soweit an mich gebunden, dass er meine wahren Absichten nicht erkennt. Und längst kennt er nicht alle Geheimnisse des Steins und des Trankes.
Marcellus Maximus Lupinius saß zusammen mit Túan, Arianrhod, Swidger, Maelchon, Fionnghal, Catriona, Dòmhnall, Máiri und Sileas in der kleinen Audienzhalle der neuen Königin.
Weder Sétanta noch die anderen Fürsten und Kriegerinnen stellten – auch jetzt nach Túans Wiedererweckung – deren Führungsanspruch infrage. Es hatte keiner erneuten Zeremonie bedurft, sie als Königin und als Herrin der Toten zu bestätigen.
Für die Jahreszeit war es erstaunlich milde und dies genau war der Grund, warum sie jetzt – mitten im Winter – Kriegsrat hielten.
Túan mac Ruith hatte das Treffen in ihrem Namen einberufen, weil er sich immer schlechter fühlte und trotz fehlender sichtbarer Beeinträchtigungen seine Kräfte schwinden sah. Er aß und trank völlig normal, er strengte sich bei keinen Tätigkeiten an, und trotzdem sank seine Kraft beinahe von Tag zu Tag. Er konnte es sich nicht erklären und war damit auch im Vertrauen zu Sétanta gegangen. Der hatte ihm lediglich Speisen mit heilenden Kräutern verordnet, auf die er auch selbst gekommen wäre. Aber sie wirkten nicht.
Arianrhod hingegen hatte ein offenes Ohr für alle Vorschläge, die den Krieg so schnell wie möglich - und natürlich erfolgreich - beenden könnten. Denn sie erhoffte sich eine friedliche Zukunft, in der sie Brannon all ihre Aufmerksamkeit widmen konnte, derer er bedurfte. Er wuchs zu schnell. Sein seltsames Gebaren schob sie auf die Tatsache, dass sie nicht wie andere Mütter ständig bei ihm sein konnte, sondern dies zu einem guten Teil Inga überlassen musste.
Und all die anderen Führer der Cruithin brannten darauf, dass der Schnee schmolz und sie ihren erfolgreichen Feldzug - ob mit oder ohne die Unterstützung anderer Pictenstämme - fortsetzen konnten.
Marcellus Maximus Lupinius, Lupus, der Wolf, räusperte sich und stellte seinen Krug mit Honigmet beiseite. Auch wenn alle dem Met kräftig zugesprochen hatten, erhielt er doch ihre volle Aufmerksamkeit. Seine bald 80 Jahre alten Hände zitterten ein wenig.
Túan erinnerte sich daran, wie sie schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen den Bogen und Pfeil nur mühsam gehalten hatten. Auch seine Zeit würde bald kommen.
»Der Winter wird dieses Jahr nicht lange währen«, begann der Römer, der sich schon lange als Picte betrachtete. »Schon jetzt werden die Tage mit Schneefall seltener und die See wird ruhiger und weniger sturmgepeitscht. Wir kennen dieses Land«, sagte er und freute sich, als niemand anzweifelte, dass er fester Bestandteil des Wir war. »Sobald auch die Römer der Meinung sind, dass die See zwischen dem Festland und Britannia schiffbar wird, werden sie Entsatz für all die von uns vernichteten Truppen schicken.«
»Soweit sie welche entbehren können«, warf Swidger ein. »Viele der Handelsschiffe, die an unsere Küsten gelangen, berichten von Angriffen vieler Völker an beinahe allen Grenzen des Römischen Reiches.«
»Was uns nur recht sein kann«, bekräftigte Maelchon mac Cean und stieß mit seinem Kopf wie ein Raubvogel nach vorn. Sein ohnehin durchdringender Blick hatte einen fanatischen Glanz angenommen, der nur noch durch sein blitzblank poliertes Schwert übertroffen wurde, das nach seiner Meinung schon viel zu lange kein Blut mehr gekostet hatte.
Sileas mac Ducantae hatte kurz geschnittenes Haar, das nur an den Schläfen in zwei dünne, aber lange Zöpfe auslief. Als sie ihren Kopf schüttelte, tanzten sie wie zwei Schlangen vor ihrer Brust.
»Dann werden wir sie an unserer Ostküste erwarten und gar nicht erst landen lassen. Beschießen wir sie mit hatrischem Feuer. Es hat uns beim Sturm auf den Wall hervorragende Dienste geleistet.«
»Wir dürfen uns nicht nur auf diese mögliche Entsatzstreitmacht konzentrieren … wenn sie denn überhaupt kommt. Wir sollten uns zunächst um die Römer kümmern, die schon hier sind«, betonte Catriona und blickte sich nach Zustimmung um.
Ausgerechnet Marcellus Lupinius nickte.
»Oh, glaube mir, Catriona von den Horestiani, sie werden kommen. Wenn ich eines von Rom weiß, dann dieses, dass sie jedes Schiff schicken werden, das sie entbehren können. Die Frage ist nur, wie viele werden es sein?«
Jetzt erst griff Arianrhod in die Diskussion ein.
»Das ist aber nicht der Punkt, der dir Sorge macht, Marcellus, nicht wahr? Ob es nun 50, 100 oder mehr Schiffe sind, habe ich recht?«
»Es kommt darauf an, wer in Rom so viel Weitblick aufbringen kann, dass er unsere zu erwartenden Vorbereitungen nicht seinerseits in Erwägung zieht. Ich anstelle dieses Feldherrn würde einen Landungsplatz wählen, der sich uns nicht auf den ersten Blick erschließt.«
»Der Weg über den Kanal ist der kürzeste. Die römischen Schiffe mögen unseren überlegen sein, aber für lange Expeditionen sind sie nicht geeignet. Das Meer, das Rom umgibt, ist warm und hat die Bauweise ihrer Schiffe beeinflusst.« Dòmhnall grinste und deutete mit einer vagen Geste zur Tür, was andeuten sollte, dass er die Meere rund um Breith meinte. »Unser Meer ist kalt und in der skotischen See schwimmen immer noch Eisschollen. Im Norden wären sie von allen Resten ihrer südlichen Truppen abgeschnitten und dies ist unser Stammland. Auch wenn sie spekulieren könnten, uns in die Zange zu nehmen, kennen sie doch weder das Land, noch die Wege, die dort möglich und vor allem unmöglich sind. Von dort werden sie nicht kommen. Nein, ich glaube an eine Landung weit im Süden. Dort werden sie sich mit den vorhandenen Truppen verstärken und nach Norden marschieren.«
Arianrhod dankte ihm für seine Ausführungen und nickte dann wieder Marcellus Lupinius zu.
»Es sind gute Argumente, die Dòmhnall angesprochen hat. Und trotzdem bist du anderer Meinung.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Der Wolf nickte lächelnd und richtete sich ein wenig auf.
»Ja, sehr gute. Von zehn römischen Feldherren würden neun so vorgehen, wie Dòmhnall es beschrieben hat. Aber ich habe erfahren, dass Marcus Lucius´s Nachfolger ein gewisser Ulpius Marcellus sein soll. Wie ich leider zugeben muss, ein Verwandter von mir.«
»Woher hast du diese Information? Du lebtest viele Jahrzehnte in Breith und hast erst seit du zu uns gestoßen bist, sporadisch Kontakt zu anderen Römern und Britanniern gehabt«, warf Túan ein und fasste sich, wie er hoffte von allen unbemerkt, an die Brust. Ein leichter Stich war wie eine heiße Nadel durch seinen Brustkorb gefahren. Doch kaum hatte seine Hand die Stelle berührt, war der Schmerz wieder verschwunden.
»Es waren wenige darunter, die Kunde von Rom hatten. Doch einer war dabei, der mir erzählte, dass Ulpius, der Sohn eines Vetters von mir, seine politische Karriere mit der Niederwerfung des Aufstandes, wie sie es nennen, einen kräftigen Schritt vorantreiben will. Ich fragte detailliert nach, da es viele Römer mit dem Namen Ulpius geben kann, doch die verwandtschaftlichen Verbindungen wurden bestätigt.«
»Und was hilft uns das? Du kennst Ulpius nicht persönlich«, warf Maelchon misstrauisch ein und schob angriffslustig seinen Kopf erneut nach vorn.
»Das muss ich auch nicht. Es genügt, dass ich erfahren habe, dass Ulpius Marcellus sich damit brüstet, genau das Gegenteil von dem zu tun, was politische Gegner von ihm erwarten. Und er in der Regel damit auch Erfolge verzeichnen kann.«
»Und du überträgst dieses Verhalten auch auf seine militärische Vorgehensweise?«, fragte Túan mac Ruith und mühte sich, einen frischen Eindruck zu machen.
»Wenn eines meinem Ruf als schlauer Wolf als Grundlage dient, dann ist es mein Gespür für meinen Gegner. Ulpius Marcellus wird an der Westküste landen! Er ist der Auffassung, dass wir gerade damit nicht rechnen. Er wird den Süden umschiffen, immer an der Küste entlang, sich vielleicht bei den Skoten neu mit Proviant versorgen und versuchen, dort Söldner anzuheuern. Und dann, wenn das Eis und der Schnee endgültig geschmolzen sind, wird er versuchen, uns mit einem ausgeruhten Kontingent in den Rücken zu fallen, während wir unsere größten Kräfte an der Ostküste auf eine Flotte warten lassen, die dort nie landen wird.«
Maelchon und die anderen waren beeindruckt. Lange sagte niemand etwas.
Dann sprach Arianrhod mac Ruith.
»Nun, mein Freund Lupus, dann schlagen wir ihn mit seinen eigenen Waffen und tun auch das Gegenteil dessen, was er von uns erwartet …«