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Die Dame mit dem gelben Hut

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Ich wollte ihr nur zuhören. Sie nicht belasten mit Fragen. Nach knapp einer Minute hatte ich ihre Demenz erkannt. Ja, sie tat mir leid und ich selbst tat mir auch leid, irgendwie. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich zu verwirrt, sie so und hier wiederzusehen.

Eigentlich sah sie ja noch aus wie früher. Nicht ganz, etwas kleiner und schlanker kam sie mir schon vor, natürlich auch älter. Über achtzig musste sie jetzt sein. Nein, man brauchte nicht rätseln, wer sie ist.

Ihr Gesichtsausdruck war ruhig, verträumter schien sie und sehr gelassen, jedenfalls im ersten Augenblick unseres Wiedersehens.

Wir kannten uns seit geraumer Zeit. Mehr als vierzig Jahre sind es gewiss. Vor ungefähr zwanzig Jahren war sie mit ihrem Mann, der einmal Bürgermeister in unserem Ort war, nach dessen Berentung in die Kreisstadt gezogen, in einen der modernen Wohnblocks, die man heute allgemein so verachtet. Sie hatten sich gut eingelebt. Einen kleinen Garten hatten sie noch erworben. Doch dann verstarb der Mann ganz plötzlich. Herzschlag und tot.

Sie traf ich hin und wieder in der Stadt während des Einkaufens und wir unterhielten uns. Sie fragte mich immer aus über das Neueste in Wangenhagen.

Einmal gestand sie mir, dass sie viel lieber auf dem Dorf geblieben wäre. Damals aber hatte Willi einen Groll gegen die Leute. Er fühlte sich von ihnen zu Unrecht verurteilt, denn er wäre immer für alle da gewesen und hätte geholfen, wo er nur konnte. Es hätte zu seiner Aufgabe als Bürgermeister gehört, dass er dem Rat des Kreises Auskünfte über diese oder jene Familie geben musste wegen deren politischer Zuverlässigkeit. Und manche waren nun mal nicht zuverlässig, das hat er ihnen auch ins Gesicht gesagt.

Eine andere Zeit war das damals vor mehr als zwanzig Jahren. Jedenfalls war in seiner Amtszeit auf sein Betreiben im Dorf viel Gutes entstanden. Das beste Beispiel war die neue Mehrzweckhalle mit der Gaststätte, wo er mächtig tricksen musste wegen der Baugenehmigung. Für sein Dorf hatte er sich immer an der Grenze der Legalität bewegt und manches mit Hilfe alter Beziehungen erfolgreich durchgesetzt.

Zur Wendezeit hatten sie ihn beschimpft, gerade die, denen er am meisten unter die Arme gegriffen hatte. „Rote Sau!“ und „Kommunistenschwein!“ haben sie geschrien und sich hinter der großen Hecke versteckt, die Schisser. Und keiner hatte denen Einhalt geboten, diesen „friedlichen Revolutionären“, die nicht überall und immer wie die Weihnachtsengel mit Kerzen daherkamen.

Alle seine ehemaligen Genossen hatten sich geduckt und verkrochen aus Schuld und Angst und Scham. Nein, er wollte mit diesem Dorf nichts mehr zu schaffen haben und er ist auch nie wieder, auch nicht besuchsweise, zurückgekommen.

Sie also, die Frau des ehemaligen Bürgermeisters, hatte noch ein paar Jahre allein in diesem Wohnblock verbracht, dann haben sie ihre längst erwachsenen Kinder, die weit ab wohnten, überzeugt, ins Heim zu gehen, denn sie bekamen ständig Anrufe, dass die Mutter wieder dies und das angestellt hätte.

Anfangs hatte sie selbst gespürt, dass sie immer vergesslicher wurde. Körperlich ging es ja noch, doch verirrten sich die Gedanken allzu oft. Dann vergaß sie, was sie einkaufen wollte, und schrieb es auf, doch dann vergaß sie den Zettel. Sie verlegte die Schlüssel an unmögliche Orte. Sie stellte die falsche Platte auf dem Elektroherd an und versäumte immer öfter ihn abzuschalten. Bald erinnerte sie sich nicht mehr an die Namen der Nachbarn und ihren Willi suchte sie überall, obwohl der schon Jahre unter der Erde war. Und so setzte es sich fort und wurde schlimmer und gefährlicher für alle im Haus.

Schließlich konnte sie der älteste Sohn dazu bewegen, ins Heim zu gehen, und sie durfte sogar ihre Möbel mitnehmen, wenigstens einen Teil davon. Nach der Heimbesichtigung lief dann alles in seiner Ordnung weiter.

Und so traf ich sie also wieder, hier, nach längerer Zeit. Allein ging sie in den weitläufigen Anlagen spazieren, setzte sich zwischendurch auf eine Bank und schaute einfach ins Grüne. Ihr gelber Hut war mir gleich aufgefallen. Seit ich sie kannte, trug sie einen gelben Hut, so einen kleinen, kreisrunden, etwas steifen. Wie eine Krone trug sie ihn. Ob es immer derselbe war, kann ich nicht sagen, vielleicht hatte sie mehrere in all den Jahren. Anfangs war ich mir ihrer Identität nicht ganz sicher. Um mich endgültig zu vergewissern, musste ich sie von vorn sehen. Und da ich für Herrn Brügge wegen dessen Bewegungstherapie erst gegen sechzehn Uhr da sein musste, konnte ich mir die Zeit nehmen und auf sie zugehen.

Als ich dann plötzlich vor ihr stand und grüßte, sah sie mich auflächelnd doch irritiert an. Ihre Lippen bewegten sich zunächst ohne Laut, doch schließlich, mit einem Aufleuchten ihrer graublauen Augen, rief sie: „Sie sind doch der Lehrer?! Aber mir fällt der Name nicht ein.“

Ich lobte sie, indem ich antwortete: „Ich hätte nie gedacht, Frau Hollerbeck, dass Sie mich nach so langer Zeit wiedererkennen.“ Dass ich längst kein Lehrer mehr war und umgeschult hatte, sagte ich nicht. Wozu auch. „Übrigens, ich bin immer noch der Torsten Kunert.“

„Ach, richtig!“, rief sie aus. Und sofort schien sie auf eine andere Ebene zu springen. „Haben Sie den Willi getroffen? Ob der wieder eine Sitzung beim Kreis hat?“

Ihr Willi, der schon lange nicht mehr lebte, war ganz fest in ihrem Kopf. Also flüchtete ich mich ins Unverbindliche und sagte einfach: „Ja, ja, die ewigen Sitzungen.“

Dann fragte sie mich, ob es nicht bald Mittag gebe, was ich verneinte, da der Zeitpunkt längst überschritten war. Als nächste Mahlzeit komme nur das Abendbrot gegen achtzehn Uhr infrage. So wollte ich mir noch ein wenig Zeit nehmen, um sie einfach reden zu lassen. Meine Stimmung schwankte zwischen Freude und Traurigkeit. Ich kannte sie noch von früher als stolze, stattliche Frau. Die sich nie zu schade war, zuzupacken, wenn es irgendwo nottat, die gastfreundlich war und gesellig und angesehen im Dorf bis zur Wendezeit.

Nun traf ich sie also hier wieder, auf der Parkbank des Seniorenheims, allein, mit dem unverwechselbaren gelben Hut, der so ganz nebenbei eine Brücke zur Vergangenheit herstellte.

Bald spürte ich, wie ihre Konzentration nachließ. Sie plapperte allerhand Zeug, das ich nicht mehr verstand. Dann wiederum, ganz plötzlich, schien es, als erwache eine neue Person in ihr, frisch und ausgeruht. Sie lachte mich an und rief: „Willi, da bist du ja!“

Da sagte ich: „Wir wollen jetzt reingehen.“

„Ja, wir gehen jetzt heim!“, meinte sie glücklich, hakte sich bei mir unter und wir gingen gemessenen Schrittes wie ein altes Ehepaar hinüber zum Hauptgebäude.


Die Geburt der Eidechse

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