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Zwischen Himmel und Erde
ОглавлениеMit Fieber liegt sie im Schlafzimmer. Die Grippe hat sie erwischt. Im Alter kann Grippe besonders gefährlich werden, das weiß sie. Doch sie glaubt, dass nun das Schlimmste überstanden ist, fühlt sich aber sehr geschwächt.
Viel geschlafen hat sie und gefiebert. Hin und wieder ist sie aufgestanden, hat sich gründlich gewaschen. Und viel getrunken hat sie. Man soll viel trinken, auch das weiß sie.
Während sie also in ihrem Bett liegt, kommen ihr zwischendurch so manche Gedanken, sehr abstruse zuweilen, die sich in ihren Fieberträumen fortsetzen.
Das Bett neben ihr ist leer. Es ist Gernots Bett. Er ist vor zwei Jahren nach einem Schlaganfall gestorben und sie brauchte lange Zeit, um sich an das Leben ohne ihn zu gewöhnen. Irgendwie ist er trotzdem immer noch da. Ja, irgendwie.
Wenn sie vom Bett aus durchs Fenster blickt, sieht sie den oberen Teil des alten Stallgebäudes. Tiere gibt es darin längst nicht mehr, höchstens Mäuse. Inzwischen kennt sie jeden Backstein der Vorderfront. Ihre Augen sind noch recht gut. Auch bei ihrer Mutter waren die Augen bis ins hohe Alter in Ordnung, daran erinnert sie sich. Die war über neunzig, als sie starb, und geistig rege bis zuletzt.
Sie, Maria, hofft auch darauf, geistig rege zu bleiben. Ihren beiden Töchtern hat sie eingeschärft: „Wenn ihr feststellt, dass ich dement bin, dann bringt mich ins Heim.“ Sie hat zu den Töchtern volles Vertrauen, doch bei ihnen leben und ihnen zur Last fallen? Niemals!
Nun liegt sie also wach und blickt zum Stalldach und sieht die beiden Bäumchen, die sich in der Dachrinne angesiedelt haben. Gernot hat die Rinne vor sieben Jahren das letzte Mal gesäubert. Inzwischen hat sich da allerhand Kram, meist Laub, angesammelt und ist zu Erde geworden. Ein eigenständiges Biotop hat sich gebildet. Und die beiden Bäumchen scheinen sich dort oben recht wohlzufühlen.
Das Stämmchen der Birke will schon weiß werden. Die war auch eher da als die kleine Fichte. Eigentlich sehen sie hübsch aus, die beiden, doch sie sind so verschieden. Und sie sinniert weiter: So verschieden waren auch wir, der Gernot und ich. Natürlich sind Mann und Frau immer verschieden, biologisch gesehen. Aber vom Temperament und von der Lebensauffassung her passten wir überhaupt nicht zusammen. Er plagte sich stets mit Selbstvorwürfen, nie war er so richtig mit sich zufrieden, nie war ihm das, was er geschaffen hat, vollkommen genug. Sie hingegen fand kaum einen Mangel an seinen Arbeiten. Und wenn etwas zweckmäßig war, dann war es gut, gut genug.
Er war einer von denen, die immer bauen und schrauben mussten. Der Baumarkt war sein Paradies. Das ging ihr manchmal ganz schön an die Nerven. Als er mit dreiundsiebzig noch das alte Stallgebäude verklinkern wollte, ist sie ausgerastet. Sie mochte den ganzen Erneuerungswahn, wie er nach dem Umschwung eingesetzt hatte, nicht.
Am anderen Ende der Stadt hatten sie eine Siedlung hingesetzt. Lauter Klinkerhäuser unterschiedlicher Typen und doch alle wie uniformiert. Die sehen aus wie eine Ansammlung neudeutscher Apotheken. Und auch die Leute dort ähnelten den Apothekern aus dem Werbefernsehen. Um Gottes willen!
Sie liebte das Vertraute. Und das Stallgebäude war ihr vertraut und das sollte so bleiben. Bei dem Streit hat sie sich mächtig im Ton vergriffen, sich aber durchsetzen können. Kümmelzähler hat sie Gernot genannt und Pinschieter.
Doch seit diesem Tag war Gernot nicht mehr der alte. Es fraß in ihm. Seine Lebensphilosophie war angeknackst. Schon während des Streites war er erblasst. Dann sagte er nichts mehr und ging für ein paar Stunden aus dem Haus. Und als er wieder zurückkam, war er sehr einsilbig. Das ging noch eine Woche so weiter, dann der Schlaganfall. Sie war nicht zu Hause, hatte auf dem Kreisamt zu tun, musste dort eine Unrichtigkeit aufklären. Und als sie heimkam, lag er im Bad und rührte sich nicht. Der Notarzt stellte den Schlaganfall fest. Auf der Fahrt in die Klinik war Gernot verstorben. Mein Gott, hat sie das damals umgeworfen! Und was hat sie sich für Vorwürfe gemacht.
Das ist jetzt zwei Jahre her und nun liegt sie hier mit Grippe, allein. Schaut auf die beiden Bäumchen im Dachrinnenbiotop und denkt: Die sind so verschieden wie er und ich und trotzdem sind sie zusammen. Das Schicksal hat sie zusammengetan. Und jetzt stürzen ihr die Tränen aus den Augen, obwohl sie eigentlich nicht so dicht am Wasser gebaut hat. Es ist ihr, als hätte sie jemand in ihrem Kopf angestellt, worüber sie sich hintergründig wundert. Hat sie nicht mit ihrer Trauer längst abgeschlossen? Kann man überhaupt mit seiner Trauer abschließen? Diese Frage geht ihr plötzlich durch den Kopf und sie erinnert sich an so viele Liebenswürdigkeiten, die der Mann ihr entgegengebracht und die sie doch so oft, allzu oft, mit einer gewissen Geringschätzung abgetan hat. All ihre Vorstellungen bei den Renovierungsarbeiten im und am Haus hat er erfüllt und war nie zufrieden, weil er es sich noch besser, noch vollkommener wünschte, ihr zuliebe. Ihr zuliebe oder doch eher sich zuliebe? Das konnte sie nie so recht ergründen. Er handelte eben nach anderen Maßstäben. Sie hat das erst sehr spät erkannt.
Nun wieder der Blick auf Fichte und Birke. Die leben zwischen Himmel und Erde, denkt sie. Gernot befindet sich unter der Erde und ich noch auf ihr. An Himmel und Hölle glaubt sie nicht, es sei denn als Gleichnis für Freude und Leid. Und der Tod, was ist der? Er ist, wenn man leiden muss, die Erlösung. Davon ist sie fest überzeugt. Angst vor dem Tod hat sie längst keine mehr, denn der gehört zum Leben wie einst die Geburt.
Die beiden Bäumchen sollten dort nicht bleiben, denn lange können sie es nicht mehr aushalten. In den heißen Sommern werden sie verdorren. Die Fichte nicht so schnell, die Birke aber bald. Die müssen dort runter, auf die Erde müssen sie, hier gehören sie her.
Es fällt ihr ein, wie sie als Kind und auch als Teenager auf die höchsten Bäume geklettert ist. Mancher Junge hat sich das nicht getraut. Oh, man hat sie sehr bewundert damals, nur Mutter hat gemeckert, Vater war eher stolz auf sie.
Ob sie die Bäumchen herunterholen sollte? Mein Gott, im nächsten Jahr wird sie achtundsiebzig, da klettert man doch nicht mehr auf langen Leitern herum. Sie schätzt die Höhe des Stallgebäudes bis zur Dachrinne. Das sind höchstens sieben Meter. Was sind schon sieben Meter, denkt sie, die Linde damals war doch doppelt so hoch, mindestens. Und da war sie ganz oben.
Ja, sie will die Bäumchen retten und zum Wolfsgrund tragen.
Damals, als sie hergezogen sind, haben sie vom alten Förster die Erlaubnis bekommen, von dort zwei kleine Birken zu holen, um sie auf dem kahlen Hof einzupflanzen. Beide wuchsen schnell in den Jahren, wurden groß und mächtig. Und wenn sie im Frühling ihr frisches Grün zeigen, sind sie besonders schön.
Gernot sagte einmal: „Die beiden Birken, das sind wir.“ Und er bestimmte, dass er die etwas größere sei, denn er war einen Kopf größer als sie, Maria.
Und nun wird sie also zwei junge Bäumchen aus der Dachrinne zum Wolfsgrund tragen und dort einpflanzen: eine Fichte und eine Birke. Und jedes Jahr, so Gott will, wird sie nachschauen und dabei an Gernot denken. Und diesmal soll er die Birke sein und sie die Fichte, das legt sie einfach fest.
Ja, das nimmt sie sich vor. Und plötzlich spürt sie eine wohlige Müdigkeit und schläft ein.