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Für die, die am Fenster stehen

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Sie mochte das überhaupt nicht, wenn sie oben am Fenster standen und ihr nachschauten. Anfangs kam ihr das regelrecht gespenstisch vor. Jeden Tag. In den Blicken meinte sie, den Vorwurf zu spüren: Du kannst nach Hause gehen und wir müssen bleiben. Ja, dachte sie, was haben sie denn sonst noch?, und schämte sich.

Na gut, sie werden beschäftigt: Basteln, Gymnastik, Spiele, Zeitungsschau, Therapien und alles Mögliche. Manche stehen oft am Fenster, das sie von einem Leben trennt, von einem früheren.

Was gibt es heute zu Mittag? Eine der häufigsten Fragen im Alltag. Nicht schon wieder Spinat! Den mag niemand gern, denn der riecht nicht gut. Das Essen kommt von außerhalb. Im Heim wird nicht mehr gekocht – aus Kostengründen, wie man sagt.

Also, was haben sie denn sonst noch?, denkt Iris. Besuche: Ja, Besuche sind das Wichtigste. Manche bekommen gar keinen Besuch. Die sind oft traurig, mürrisch, manche streitsüchtig und Einzelne sogar richtig aggressiv bis hin zur Gewalt, denn sie sind neidisch auf die Privilegierten. Fühlen sich aufgegeben und weggestellt.

Sie weiß jetzt manches besser als vorher. Der Tod der Hanne Clarsen hat sie aufgerüttelt. Bei ihr saß sie oft, wenn sie Nachtdienst hatte. Man hat sich geduzt, was eigentlich nicht sein sollte. Und manchmal haben sie länger erzählt, bis der Pieper Iris alarmierte und in ein anderes Zimmer rief.

Die Hanne hatte viele Gebrechen und war auf jede Hilfe angewiesen. Im Kopf aber war sie noch klar. War das nun gut oder eher von Nachteil? Genau wussten es beide nicht, Iris, die Pflegerin, und Hanne, die Pflegeperson.

Hannes Motto war es schon immer, aus jeder Situation das Beste zu machen. Sie las viel und sprach gern über das Gelesene. Früher fuhr sie auf einem Luxusliner als Köchin. Verheiratet war sie nie und Kinder hatte sie auch keine. Eine Schwester hatte sie, doch die war vor vier Jahren verstorben.

Hanne hatte letztes Weihnachten Iris ihr handgeschriebenes Kochbuch geschenkt, mit vielen goldenen Tipps aus ihrem Erfahrungsschatz. Iris wird es wie einen Schatz bewahren. Von Hanne ist etwas geblieben.

Durch ihre Gespräche hat Iris begriffen, was in den Menschen hier vorgeht. Zwar hatte sie sich schon vorher gut auf diesen Beruf vorbereitet und in den gerontologischen Seminaren eine Menge gelernt, doch das war mehr oder weniger eigentlich nur die Theorie. Fachschulwissen halt.

Letzte Nacht ist Hanne eingeschlafen, für immer, einfach so. Und Iris war nicht dabei. Sie hatte diesmal Tagesschicht.

Alle, die Hanne kannten, haben von Herzen geheult, bei ihr sind die Tränen ausgeblieben, wollten nicht kommen. Darüber war sie selbst erstaunt und konnte es so recht nicht fassen, denn Hanne war ihr doch eine gute Freundin geworden.

Heute ist der Tag so, als ginge sie neben sich her. So, wie man im Traum geht. Dann endlich ist Dienstschluss und Stefan holt sie mit dem Auto ab. Das macht er manchmal, so wie es sein Job gestattet.

Und da stehen sie wieder am Fenster, die Alten. Das war ihr immer so unangenehm, wenn sie herabschauten und sie beobachteten, besonders wenn Stefan sie zur Begrüßung küsste. Heute aber ist es anders. Sie lässt sich lange küssen und winkt hinter Stefans Rücken den Leuten zu. Heute ist etwas so ganz anders geworden in ihr, das spürt sie.

Plötzlich, als sie im Auto sitzen und abfahren, öffnen sich ihre Schleusen und die Tränen stürzen nur so heraus. Stefan steuert den Wagen und sagt gar nichts. Er kennt sie. Er muss sie jetzt lassen, diese kleine Frau. Erst nach dem Aussteigen nimmt er sie in den Arm und streicht ihr sanft übers Haar.


Die Geburt der Eidechse

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