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Arendts Prozess-Bericht

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Arendt verfasste ihrem Selbstverständnis nach einen bloßen »Bericht«, in dem »nur das zur Sprache« kam, »was im Prozeß verhandelt« wurde, »oder im Interesse der Gerechtigkeit hätte verhandelt werden müssen« (EJ, S. 14).1 Sie meinte, einzig einen Tatsachenbericht auf der Grundlage des im Verfahren verhandelten Prozessstoffs geliefert zu haben.2 An McCarthy schrieb sie, es gebe »keine ›Ideen‹ in diesem Bericht, es gibt nur Tatsachen mit ein paar Schlußfolgerungen, und diese Schlußfolgerungen erscheinen meist am Ende der Kapitel«.3 Und: Sie habe allein »die Wahrheit auf Tatsachenebene […] ohne theoretische und akademische Verbrämung«4 geschrieben.

Um eine Erklärung ging es ihr nicht, weder der Shoah noch des Verhaltens der Täter und der Opfer. Auch nicht um Geschichtsschreibung. Die Historie des jüdischen Volkes, die Geschichte der Judenverfolgung und -vernichtung war nicht ihr Anliegen. Gleichwohl ist festzustellen, dass Arendt aus den von ihr sogenannten, im Prozess ihrer Auffassung nach zur Sprache gekommenen Tatsachen überaus weitreichende Schlussfolgerungen zog, die in ihrer Allgemeinheit wenig überzeugend waren und die deshalb Gegenstand scharfer Kritik werden sollten.

Ein Arendt überaus geneigter Autor meinte, »im Falle Adolf Eichmanns« habe die Prozessbeobachterin »ein Urteil«5 sprechen müssen. Um welche Art Urteil es sich handelte, bleibt freilich unklar. Fraglos war es kein Rechtsurteil, obschon Arendt der Ansicht war, ihre Version (EJ, S. 327–329) abfassen zu müssen.6 Die Prozessberichterstatterin hat – wie geschildert – nur ein Viertel der Gerichtssitzungen besucht. Über das Ergebnis der Beweisaufnahme hat sie nach ihrer aus dem »Inbegriff der [mündlichen; W.R.] Verhandlung« (wie es zumindest in der deutschen Strafprozessordnung heißt) geschöpften »Überzeugung« nicht entscheiden können. Auf der Grundlage der ausgewerteten schriftlichen Quellen wollte sie aber auch kein historisches Urteil fällen. Weder über den Angeklagten, noch über die Täter und Opfer der »Endlösung«, auch nicht über den Jerusalemer Prozess als Geschichtsereignis.7 Diesen Anspruch erhob sie erklärtermaßen nicht.

Sprach Arendt stattdessen ein politisches oder ein moralisches Urteil? Ganz gewiss handelte ihr »Tatsachenbericht« nicht, wie sie vermeinte, nur von unbestreitbaren »Tatsachenwahrheiten«.8 Die Zeitgeschichtsforschung hat nicht wenige ihrer freihändigen Konklusionen verworfen.9

Die Rezeption ihres Berichts stellte sich folglich nicht so einfach dar, wie Arendt in einem Brief an McCarthy meinte. Dort heißt es: »Mit anderen Worten, mein Argument wäre, daß die ganze Aufregung [über ihr Buch; W.R.] Tatsachen betrifft und weder Theorien noch Ideen. Die Feindseligkeit gegen mich ist eine Feindseligkeit gegen jemanden, der auf einer Tatsachenebene die Wahrheit sagt, und nicht gegen jemanden, der Ideen hat, die sich mit den gängigen in Konflikt befinden.«10

Arendts wiederholte Rede von ausschließlich berichteten Tatsachen scheint im Hinblick auf einen Gerichtsprozess von einigermaßen überraschender epistemologischer Naivität zu zeugen. In einem Strafverfahren, insbesondere in NS-Prozessen, werden von Zeugen fallible Aussagen gemacht. Im besten Fall beruhen sie auf mehr oder weniger verlässlichen Erinnerungen. Es werden mithin Geschichten erzählt, die den Zeugen unvergesslich im Gedächtnis blieben, gleichwohl aber Konstruktionen darstellen.

Die Aussagen der von der Anklagevertretung geladenen Opferzeugen sind auf ihren Beweiswert kaum geprüft worden. Da es Generalstaatsanwalt Hausner und seinen Mitarbeitern um die Darstellung der Shoah ging, die Ankläger im Übrigen vorab genau wussten, was sie abzufragen hatten, und die Verteidigung auf kritische Nachfragen11 verzichtete, kann von im Verfahren vorgebrachten, feststehenden »Tatsachen« kaum die Rede sein. Gewiss wurden auch Urkunden (objektive Beweise) vorgelegt. Doch auch sie unterlagen der quellenkritischen Prüfung und der richterlichen Deutung. Blanke »Tatsachen« waren auch diese Beweismittel nicht, wie Arendt sehr wohl wusste.12

Arendts unbekümmerte Rede von Tatsachen in Zusammenhang mit ihrer Reaktion auf die gegenüber ihrem Prozessbericht vorgetragenen Kritik ist einigermaßen verwunderlich, denn ihr war durchaus bewusst, dass »Tatsachen […] glaubwürdiger Zeugen […] bedürfen […], um festgestellt und festgehalten zu werden, um einen sicheren Wohnort im Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu finden«. Mehr noch: keine »Tatsachen-Aussage« kann »jemals über jeden Zweifel erhaben sein«.13

Fraglos haben die Zeugen von der Geschichtsforschung meist verbürgte, mithin unstrittige Ereignisse und Sachverhalte geschildert. Ihre Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit in Frage zu stellen, war kein Anlass. Doch viele Zeugenaussagen hatten keinen Bezug zu dem Angeklagten und seinen Taten. Die Tatsachenermittlung in der Beweisaufnahme erwies sich deshalb in Bezug auf den Angeklagten als uneindeutig. Nicht wenige der zur Sprache gekommenen Vorgänge waren dem Angeklagten schwerlich zuzurechnen. Unzweifelhafte historische Erkenntnisse bestätigten die Zeugen zwar, doch viele Geschichten waren vor allem Ausdruck der subjektiven Sicht der überlebenden Opfer, Ausdruck ihrer individuellen Perspektive, ihrer konstruierten Erinnerung.

Unerörtert blieb bei Arendts Selbsteinschätzung auch, warum das Gericht zu tatsächlichen Feststellungen gelangte, die von ihren berichteten »Tatsachen« erheblich abwichen. Wären die von Arendt vielfach beschworenen Tatsachen so klar, bestimmt und unstrittig gewesen, dann hätten sich die richterlichen Tatsachenfeststellungen nicht so sehr von ihrem Bericht unterscheiden können. Sachverhaltsaufklärung, mag es sich um richterliche oder um historische handeln, ist kein so eindeutiger Vorgang, wie die Autorin in ihrer Selbstbewertung meinte.

Arendts Buch handelt mithin nicht allein vom Prozess, reportiert nicht nur den Prozessstoff. Es ist auch in Ablehnung einer »judeozentrischen Perspektive«14, einer genuin zionistischen Sicht auf die jüdische Geschichte und insbesondere auf die Shoah, eine Kritik am Ben-Gurion-Staat. Die Instrumentalisierung des Verfahrens zu nationalen, volkspädagogischen Zwecken lehnte Arendt entschieden ab. Ihr Bericht ist gleichfalls ein Buch über Deutschland: über Nazi-Deutschland und über den Adenauer-Staat.

Wie sehr ihr Werk auch von Deutschland handelt, machte Arendt mit der Wahl ihres Mottos aus Bertolt Brechts Gedicht »Deutschland« (1933) klar. In der amerikanischen und englischen Ausgabe stehen folgende Zeilen auf der Haupttitelseite, unübersehbar über dem Buchtitel: »Oh Germany – Hearing the speeches that ring from your house, one laughs. But whoever sees you, reaches for his knife.«

In der deutschen Ausgabe wird Brecht ausführlicher zitiert, steht allerdings weniger prominent auf Seite 5:

»O Deutschland, bleiche Mutter!

Wie sitzest du besudelt

Unter den Völkern.

Unter den Befleckten Fällst du auf.

…..

Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man.

Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer«.15

Das Motto16 ist nicht nur deshalb so wichtig, weil es einen Fokus von Arendts Buch hervorhebt, es macht auch klar, warum sie in ihrem Bericht und in ihrer Korrespondenz davon spricht, sie habe bei der Lektüre von Eichmanns Einlassungen im Polizei- und im Kreuzverhör lachen müssen.17 Im Interview mit Roger Errera meinte sie selbstkritisch, »das jüdische Volk« sei durch ihre Darstellung »beleidigt« worden, und führte weiter aus: »Sie [die Arendt-Kritiker; W.R.] waren vor allem von dem verletzt, was Brecht sagte, vom Lachen. Mein Lachen seinerzeit war in gewisser Weise unschuldig und nicht reflektiert. Was ich« in Jerusalem »sah, war ein Clown«.18

Wie Brecht lachte Arendt über die Reden, im Fall Eichmann über seine haltlosen, verlogenen Rechtfertigungsversuche in klischeehafter Sprache. Seine Darstellung des monströsen Vernichtungsgeschehens als bürokratische, befehlsgemäß, gewissenhaft und führertreu ausgeführte Verwaltungsmaßnahme war in ihrer ganzen Schrecklichkeit nicht ernst zu nehmen. Sie kam Arendt komisch vor. Eichmann wollte nur für die Fahrplanerstellung, für die Organisation der Transporte Verantwortung übernehmen. Mit der »Evakuierung«, dem Zusammentreiben der Juden, der Aufstellung der Transportlisten, der Durchführung der Deportationen zum Ziel-, das heißt: zum Vernichtungsort, der Selektion in Auschwitz, den unmittelbaren Vergasungen in den Todeslagern, wollte er, wie er nicht müde wurde zu beteuern, nichts zu tun gehabt haben.

Arendt lachte über Eichmann und seine fadenscheinigen Selbstrechtfertigungen, nicht aber über seine Taten. Mit Brecht war sie der Auffassung, den NS-Verbrechern gehe alle »Größe« ab, ihre präzedenzlosen Verbrechen machten sie nicht zu großen Verbrechern. In seinen nach 1945 verfassten Anmerkungen zu dem Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941) schrieb Brecht: »Die großen politischen Verbrecher müssen durchaus preisgegeben werden, und vorzüglich der Lächerlichkeit. Denn sie sind vor allem keine großen politischen Verbrecher, sondern die Verüber großer politischer Verbrechen, was etwas ganz anderes ist.«19 In ihrem Brecht-Essay zitiert Arendt eine andere Bemerkung des Schriftstellers: »Sowenig das Mißlingen seiner Unternehmungen Hitler zu einem Dummkopf stempelt, so wenig stempelt ihn der Umfang dieser Unternehmungen zu einem großen Mann.«20 In der Einleitung zu ihren Anfang der 1970er Jahren gehaltenen Vorlesungen The Life of the Mind repetiert sie diese Ansicht mit Blick auf Eichmann: »The deeds were monstrous, but the doer – at least the very effective one now on trial – was quite ordinary, commonplace, and neither demonic nor monstrous.«21

Wie bereits hervorgehoben, stützte sich Arendt in ihrem Report über die im Prozess verhandelte deutsche Verfolgungs- und Vernichtungspolitik (Kapitel IV bis XIII) weitgehend auf die vorliegende Forschungsliteratur. Insbesondere die Bücher von Léon Poliakov,22 Gerald Reitlinger,23 H. G. Adler24 und Raul Hilberg25 waren für sie grundlegend. Die Forschungsergebnisse dieser Historiker machte sich Arendt freilich recht selektiv zu eigen.

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