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Arendts Grundüberzeugungen

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Will man Arendt und ihr 1963 erschienenes, viel diskutiertes und umstrittenes Buch über den Eichmann-Prozess1 zutreffend bewerten, muss man sich vor Augen führen, mit welchen Grundüberzeugungen sie zur Prozessbeobachtung fuhr. Ihre wiederholt gebrauchte Rede vom Geschehen, das nicht sich hätte ereignen dürfen, erläuterte sie mit einem Hinweis auf Immanuel Kant. Der Königsberger Philosoph meinte, in einem Krieg solle kein Staat sich Feindseligkeiten erlauben, die »das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen«.2 Mit ihrem Rückgriff auf Kant verdeutlichte Arendt, dass das deutsche Verbrechen an der Menschheit, das sie in Ermangelung eines besseren Begriffs mit Al Carthill »›Verwaltungsmassenmord‹«3 nannte, in Dimension und Totalität ein beispielloses Ereignis darstellte, das aus keiner Tradition zu erklären war.

Für Arendt hatte sich in »Auschwitz […] der Boden der Tatsachen in einen Abgrund verwandelt, in den jeder hineingezogen werden wird, der nachträglich versucht, sich auf ihn zu stellen.«4 Anders gesagt: Es gab nach Auschwitz für Arendt keinen Denkstandort mehr in der Welt. Alle Tradition, die in der Vergangenheit Orientierung ermöglicht hatte, war an Auschwitz zuschanden geworden.

Das angesichts von Auschwitz empfundene sprachlose »Entsetzen« galt »nicht dem Neuen schlechthin, sondern der Tatsache, daß dies Neue den Kontinuitätszusammenhang unserer Geschichte und die Begriffe und Kategorien unseres Denkens sprengt. Wenn wir sagen: Dies hätte nicht geschehen dürfen, so meinen wir, daß wir dieser Ereignisse mit den großen und durch große Traditionen geheiligten Mitteln unserer Vergangenheit weder im politischen Handeln noch im geschichtlich-politischen Denken Herr werden können.«5 Und weiter: »In diesem Strudel haben schließlich die totalitären Bewegungen mittels einer höchst ingeniösen Verbindung von Terror und Ideologie eine neue Staats- und Herrschaftsform herauskristallisiert. Erst die totalitäre Herrschaft als ein Ereignis, das in seiner Beispiellosigkeit mit den überkommenen Kategorien politischen Denkens nicht begriffen, dessen ›Verbrechen‹ mit den traditionellen Maßstäben nicht beurteilt und mit Hilfe bestehender Gesetze nicht adäquat gerichtet und bestraft werden können, hat die in der Überlieferung so lange gesicherte Kontinuität abendländischer Geschichte wirklich durchbrochen.«6

Hitler und seine Mittäter und Gehilfen (ebenso wie Stalin) hatten nach Arendts Verständnis Verbrechen begangen, die weit mehr als nur eine Geschichtszäsur darstellten. »Die Gaskammern des Dritten Reiches und die Konzentrationslager der Sowjet-Union (die in Wahrheit ebenfalls Vernichtungslager sind, wenngleich mit anderen Methoden) haben die Kontinuität abendländischer Geschichte unterbrochen, weil niemand im Ernst die Verantwortung für sie übernehmen kann und man niemanden im Ernst für sie verantwortlich machen kann. Zugleich bedrohen sie jene Solidarität von Menschen untereinander, welche die Voraussetzung dafür ist, daß wir es überhaupt wagen können, die Handlungen anderer zu beurteilen und abzuurteilen.«7 Arendt sah den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1945/46 und fünfzehn Jahre später auch das Jerusalemer Bezirksgericht mit dieser Aporie konfrontiert.

Ein Prozess gegen einen deutschen Menschheitsverbrecher war für Arendt eine geistige Herausforderung. Ihr Interesse galt der Person Eichmann und ihrer von Arendt vehement behaupteten persönlichen Verantwortung für ihre im totalitären Staat verübten Taten8 sowie der juristischen und moralischen Frage, wie in einem rechtsstaatlichen Verfahren einem der Exekutoren der ihrer Ansicht nach gar nicht mehr justiziablen »Endlösung der Judenfrage« gleichwohl Recht und Gerechtigkeit widerfahren könne. Nicht justiziabel war für Arendt das präzedenzlose Menschheitsverbrechen, weil es weder ein positives Gesetz noch eine gesetzliche Strafe gab, die ihm angemessen gewesen wären (EJ, S. 323).9 Dennoch galt es, die Verbrecher persönlich zur Rechenschaft zu ziehen, sie wegen ihrer individuellen Schuld nicht straflos zu lassen. Arendt sah das Rechtsproblem mithin in der Tatsache, dass kein angemessenes gesetzliches, das heißt bereits kodifiziertes, gesetztes Recht vorhanden war und dennoch in einem fairen Prozess rechtsschöpferisch gerechtes Recht über einen Angeklagten gesprochen werden musste. Die Rechtfertigung für das Strafverfahren sah sie allein in der unabdingbaren Verpflichtung, Eichmann nach Recht und Gerechtigkeit zu richten. Ihre Erwartungen hinsichtlich richterlicher Rechtsschöpfung wurden in Jerusalem freilich enttäuscht.

In einem Brief an Leni Yahil machte Arendt ihre Sicht auf die überaus schwierigen, von ihr selbst nicht beantwortbaren Rechtsfragen, klar. So meinte sie, in einem Fall wie Eichmann müssten »selbst Juristen einsehen«, »dass man mitunter Recht sprechen muss ohne eine Gesetzesvorlage zu haben«.10 Die Lage war für die Richter Arendt zufolge »peinlich, aber […] schon darum nicht zu vermeiden, weil dies ja die einzige wirkliche Rechtfertigung des Kidnapping war«. Neben der paradoxen Situation, Recht ohne angemessenes positives Gesetz und ohne Präzedenzfälle sprechen zu müssen, kam für Arendt noch »die Unzulänglichkeit« des »Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law« (1950) hinzu, das die Rechtsgrundlage des Prozesses darstellte (EJ, S. 321). Zutreffend stellte sie fest, der israelische Gesetzgeber habe zwei Jahre nach der Staatsgründung »ja offenbar nur mit Juden gerechnet, die den Nazis Dienste geleistet hatten«.11

In ihrem Denktagebuch sinniert Arendt 1952 über die Begründetheit des Rückwirkungsverbots. Das rechtsstaatliche Prinzip »Nullum crimen sine lege« geht von der Auffassung aus, der Tat, soll sie geahndet werden können, müsse ein Gesetz vorausgehen, das den zu subsumierenden Straftatbestand klar bestimmt. Doch Auschwitz, die neue Art von Verbrechen, geschah und musste nach Arendt im Namen der Gerechtigkeit und im Namen der Opfer judiziert werden, obgleich kein angemessenes Gesetz und keine adäquate Strafe existierten. Die Rede, es gebe kein Verbrechen ohne Gesetz hielt sie deshalb für wenig haltbar.12 Gesetze mit rückwirkender Kraft betrachtete sie nicht als Problem (EJ, S. 303). Folglich verwarf sie das Verbot retroaktiver Gesetze angesichts des neuen Verbrechens.

Die Schwierigkeit lag für Arendt in der Bestimmung der Straftatbestände, in der angemessenen Darstellung der präzedenzlosen Verbrechen, die sie ein Verbrechen gegen die Menschheit, nicht gegen die Menschlichkeit nannte. Anders gesagt: Die Subsumierbarkeit von Auschwitz in Anbetracht von unzulänglichen Gesetzen stellte die Arendt interessierende Schwierigkeit dar, mit der sich ihrer Auffassung nach das Jerusalemer Gericht zu befassen hatte.

Für die bundesdeutsche Praxis, Sondernormen mit Blick auf das im Grundgesetz verankerte Verbot rückwirkender Strafgesetze13 auszuschließen und die NS-Verbrechen nach dem geltenden deutschen Strafrecht zur Tatzeit (§ 211 Strafgesetzbuch von 1871 und 1941)14 zu judizieren, hatte Arendt nur Unverständnis übrig. An Karl Jaspers schrieb sie: »In Deutschland, wo man kein Sondergesetz gemacht hat, tut man so, als ob das Strafgesetzbuch nicht allgemein für bestimmte Kategorien von Menschen aufgehoben war, an denen Mord entweder erlaubt oder sogar befohlen war.«15 Eichmann vor einem Schwurgericht der Bundesrepublik Deutschland wäre für Arendt wohl ein uninteressanter Fall gewesen.

Mit Blick auf den Nürnberger Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher meinte sie im Kontext von Jaspers Schrift16 Die Schuldfrage: »Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat.«17 In einer Buchbesprechung hatte sie gleichfalls 1946 dargelegt: »The Jewish people is indeed entitled to draw up this bill of indictment against the Germans, but provided it does not forget that in this case it speaks for all the peoples of the earth. It is as necessary to punish the guilty as it is to remember that there is no punishment that could fit their crimes.«18

Für Arendt war die totale Herrschaft eine neue Staatsform, die den »staatlich organisierte[n] Verwaltungsmassenmord« (EJ, S. 22), das »Verbrechen gegen die Menschheit, begangen am jüdischen Volk« (EJ, S. 30), in die Welt gebracht hatte. Dabei handelte es sich um eine neue Art von Verbrechen (EJ, S. 328), verübt von Menschen wie Adolf Eichmann, die einen neuen Verbrechertypus verkörperten.19 In diesen Verbrechen und in seinen willigen Vollstreckern zeigte sich für Arendt ein ungelöstes philosophisches Problem, dessen Erörterung in ihrem Prozessbericht einer der Gründe für die Arendt-Kontroverse war. Philosophisch betrachtet war Arendt nach Auschwitz der Auffassung, dass »the problem of evil will be the fundamental question of post-war intellectual life in Europe«.20 Vor Jerusalem ging sie von der in ihrem Totalitarismus-Buch ausgeführten Ansicht aus, dass es das »radikal Böse« gebe, dass es aber weder bestraft noch vergeben werden könne.21 Das Verbrechen, das nicht hätte geschehen dürfen, das ganz und gar »Unmögliche«, war ihr vor Jerusalem identisch »mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verzeihen, kein Gesetz bestrafen.«22 Im Denktagebuch heißt es 1950: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen, d.h. das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf. Es ist das, wofür man die Verantwortung nicht übernehmen kann, weil seine Folgerungen unabsehbar sind und weil es unter diesen Folgerungen keine Strafe gibt, die adäquat wäre. Das heisst nicht, dass jedes Böse bestraft werden muss; aber es muss, soll man sich versöhnen oder von ihm abwenden können, bestrafbar sein.«23

Der unbestrafbaren Tat stand das legitime Gerechtigkeitsverlangen nicht nur der Opfer entgegen. Arendt wollte in Jerusalem einerseits eine exemplarische Figur wie Adolf Eichmann ergründen, sie wollte andererseits sehen, wie das Bezirksgericht »the difficulties of judging crimes committed by a sovereign state« bewältigt, wie die Richter »the uncertainties of ›political justice‹«24 im Fall Eichmann meistern. Die neue Art von Verbrechen und der neue Verbrechertypus waren somit die besonderen Herausforderungen, die das Gericht, nach Arendt mit unzureichendem Instrumentarium ausgestattet, zu bewältigen hatte.

Einen klaren Begriff vom radikal Bösen hatte Arendt nach Auschwitz nicht bilden können. Ob es ontologisch oder anthropologisch zu deuten war, blieb in den 1950er Jahren offen.25 Da sie aber nach Auschwitz viele Jahre lang »about the nature of evil«26 nachgedacht hatte, wollte sie in Jerusalem, mit Eichmann konfrontiert, ihre Denkergebnisse auf den Prüfstand stellen. Über ihre für ihr Denken und ihr Leben so überaus folgenschwere Entscheidung, zur Prozessbeobachtung zu fahren, schrieb sie im Rückblick: »[…] the wish to expose myself – not to the deeds, which, after all, were well known, but to the evildoer himself – probably was the most powerful motive in my decision to go to Jerusalem«.27

Ebenso wichtig wie Arendts hier nur kurz skizzierten Grundannahmen ist die Entstehungsgeschichte des Eichmann-Buches. Sie lässt sich anhand ihrer Korrespondenz gut rekonstruieren. Die Genese des Prozessberichts erhellt auch seine Form und seinen Inhalt.

ad Hannah Arendt - Eichmann in Jerusalem

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