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Der Prozess: Rechtsgrundlagen

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Die im Dezember 1948 von den Vereinten Nationen beschlossene Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord hatte Israel 1949 ratifiziert und sich verpflichtet, die Strafnorm in die nationale Gesetzgebung aufzunehmen. Im März 1950 verabschiedete die Knesset das entsprechende Gesetz.1 Doch für den jungen Staat gab es noch ein innenpolitisches Problem, das gesetzgeberisch zu lösen war. Holocaust-Überlebende hatten gegen ehemalige Funktionshäftlinge und Ghettopolizisten Anzeige erstattet. Ihr Vorwurf war, die Beschuldigten hätten als Handlanger, als Kollaborateure der SS Verbrechen an Juden begangen.

Das geltende Strafrecht Israels bot keine Handhabe, diese vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs im besetzten Europa verübten Taten zu ahnden. Um inneren Frieden herstellen zu können, erließ die israelische Legislative im August 1950 das »Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazikollaborateuren« (»Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law«).2 Das retroaktive und exterritoriale Gesetz führt neben Crimes against the Jewish People, Crimes against Humanity, War Crimes und Membership in Enemy Organization auch Straftatbestände des geltenden israelischen Strafgesetzbuches auf. Die Besonderheit des Gesetzes war, dass die Strafnormen auf Handlungen Anwendung fanden, die während der Naziherrschaft im feindlichen Ausland (»enemy country«) an einem Verfolgten (»persecuted person«) in einem Lager oder Ghetto (»place of confinement«) begangen worden waren.

Mit dem Gesetz ließen sich rückwirkend die Verbrechen ahnden, die nunmehrige israelische Bürger im »Dritten Reich« und in den besetzten Ländern in der Zeit von 1933 bis 1945 verübt hatten.3 Somit stellte das Gesetz »eher eine innerisraelische Angelegenheit dar denn eine zwischen den überlebenden Opfern des Holocaust und dem Staat, der sie repräsentierte, auf der einen Seite und denjenigen, die den Holocaust zu verantworten hatten, den Nationalsozialisten und dem Dritten Reich, auf der anderen Seite«.4

Vor dem Eichmann-Prozess gab es in Israel sogenannte Kapo-Prozesse. Vormalige Funktionshäftlinge, der Kollaboration mit der SS beschuldigt, mussten sich verantworten.5 Meist fielen die Strafen milde aus. Einige Angeklagte wurden freigesprochen. In einem Fall erkannte das Gericht auf die Höchststrafe.6 Der Oberste Gerichtshof gab jedoch der Berufung statt, sah den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschheit nicht erfüllt, kassierte die Todesstrafe und milderte sie auf zwei Jahre Gefängnis.7

Die materiellen Rechtsgrundlagen für den zu führenden Prozess waren 1961 mithin gegeben. Einige Probleme des Verfahrensrechts, die der bevorstehende Strafprozess aufwarf, löste der Gesetzgeber recht unkonventionell.

»Lex Servatius«

Nach dem geltenden Recht konnte nur ein Rechtsanwalt, der israelischer Staatsbürger war, vor einem israelischen Gericht einen Mandanten vertreten. Israelische Anwälte erklärten sich bereit, Eichmann zu verteidigen. Die Regierung verwarf jedoch aus vielfältigen Gründen diese Option. Kein Israeli sollte Eichmanns Rechtsbeistand sein können.8

Ein neu geschaffenes Gesetz ermöglichte einem ausländischen Anwalt vor einem israelischen Gericht als Verteidiger zu fungieren. Eichmanns Familie fand in Robert Servatius (1894–1983) einen Anwalt ihres Vertrauens. Der Untersuchungshäftling akzeptierte den Kölner Juristen. Unklar blieb zunächst die Bezahlung. Bonn weigerte sich, die Anwaltskosten zu tragen. Israel sah sich gezwungen, für das Honorar aufzukommen.

»Lex Halevi«

Gemäß dem geltenden Gerichtsgesetz war es das Recht eines Bezirksgerichtspräsidenten, für seinen Zuständigkeitsbereich die Zusammensetzung eines Gerichts zu bestimmen. Der Fall Eichmann sollte in Jerusalem verhandelt werden. Präsident des dortigen Bezirksgerichts war Benjamin Halevi (1910–1996). Er erklärte seine Absicht, sich selbst zu benennen, mithin den Vorsitz im Eichmann-Prozess übernehmen zu wollen. Gegen den Richter gab es aber juristische Bedenken.9 Auch politische Einwände spielten eine gewichtige Rolle.

Halevi hatte 1954 im Verfahren Attorney General vs. Malkiel Gruenwald den Prozess als alleiniger Richter geführt. In dem Streitfall ging es um die Frage, ob der Angeklagte Gruenwald in einem 1952 verbreiteten Pamphlet den Regierungsbeamten Israel Kasztner10 verleumdet hatte. Der als Retter und Helfer von Juden geltende Kasztner, führendes Mitglied des Hilfs- und Rettungskomitees (Vaada) in Budapest, war von Gruenwald der Kollaboration mit der SS bezichtigt worden.

Im Sommer 1944 hatte das »Sondereinsatzkommando Eichmann« mit maßgeblicher Hilfe der ungarischen Gendarmerie innerhalb von acht Wochen 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert. Kasztner war es durch Verhandlungen gelungen, im Juni 1944 einen Zug mit circa 1700 Juden außer Landes zu bringen. Über das Lager Bergen-Belsen gelangten die Insassen des »Kasztner-Zugs« im August und im Dezember 1944 in die Schweiz. Unter den Geretteten waren auch Familienangehörige Kasztners aus seinem Heimatort Klausenburg (Cluj/Kolozsvár).

Der seinerzeitige Generalstaatsanwalt Chaim Coh(e)n wollte mit einer Klage gegen den Pamphletisten die Sache richterlich aufklären lassen. Er war der Ansicht, entweder müsse Kasztner im Fall der Richtigkeit der vorgebrachten Anschuldigungen nach dem Gesetz gegen Nazis und Nazihelfer als Kollaborateur belangt werden. Oder aber Gruenwald habe im Fall der richterlich festgestellten Verleumdung eines ehrenwerten und untadeligen Staatsdieners und einstigen Judenretters die rechtlichen Folgen zu tragen.11

Der gegen den Willen Kasztners von Coh(e)n angestrengte Prozess hatte fatale Folgen. Halevi sprach in dem turbulenten Verfahren den Angeklagten von den Anklagepunkten der Verleumdung und der üblen Nachrede frei. Hinsichtlich der Anwürfe Gruenwalds meinte er, Kasztner habe bei seinen Verhandlungen mit der SS »seine Seele dem Teufel verkauft«.12 Mit der schwerlich juristisch zu nennenden Bezeichnung »Teufel« meinte Halevi Kasztners Hauptverhandlungspartner Eichmann.13 Überdies nannte er den Gegenspieler Kasztners einen »Bloodhound«.14

Äußerst nahe lag daher, Halevi im zu führenden Verfahren gegen Eichmann als voreingenommen und befangen zu betrachten. Zumindest musste befürchtet werden, dass der Angeklagte Eichmann und sein Verteidiger gegenüber einem Vorsitzenden Halevi diese Besorgnis vorbringen und ihn deshalb ablehnen würden. Alle Versuche, Halevi von seinem Vorhaben abzubringen, den Vorsitz übernehmen zu wollen, scheiterten. Die Verantwortlichen entschieden sich in ihrer misslichen Lage für einen rechtsstaatlich freilich bedenklichen Schritt. Sie änderten kurzerhand das Gerichtsgesetz, um Halevi zu verhindern. Nach dem neuen Gesetz bestimmte der Präsident des Obersten Gerichtshofs den Vorsitzenden Richter. Er musste dem Obersten Gerichtshof angehören. Im Fall der Ernennung der beiden Beisitzer blieb es bei der alten Regelung. Sie sollten weiterhin Bezirksrichter sein.

Doch nicht allein die in Zweifel gezogene Unparteilichkeit Halevis war der Grund für die flugse Gesetzesänderung. Mit seinem Urteil im Gruenwald-Verfahren, das im Grunde eine moralische Verurteilung Kasztners gewesen war, hatte sich der Jurist bei der Regierung Ben Gurion unliebsam gemacht. Unter seinem Vorsitz war »das Verfahren zu einer Anklage gegen die politische Führung des vorstaatlichen Jischuw in der Zeit des Holocaust geworden, die jetzt, rund zehn Jahre danach, identisch mit der Staatsführung war«.15 Halevi hatte sich mit seiner Gerichtsentscheidung auf die Seite der politischen Gegner des Ministerpräsidenten geschlagen. Ein in den Augen Ben Gurions derart politisch unzuverlässiger Richter durfte im so überaus wichtigen Eichmann-Fall keinesfalls den Vorsitz übernehmen. Ins Gewicht fiel auch, dass der Oberste Gerichtshof 1958 Halevis Urteil aufgehoben und Kasztner rehabilitiert hatte. Dieser konnte sich der Wiederherstellung seines guten Rufs nicht mehr erfreuen. Ein Jahr vor der Entscheidung des Supreme Court war er von einem Extremisten ermordet worden.16

In der gleichsam offiziellen Darstellung der Rechtsgrundlagen des Eichmann-Prozesses von Nathan Cohen, für die deutsche Leserschaft geschrieben, ist von den politischen Hintergründen des neuen Gesetzes mit keinem Wort die Rede. Eine Begründung, warum das Gesetz geschaffen und die bisherige Justizpraxis geändert wurde, gibt Cohen nicht. Lapidar heißt es bei ihm: »Unter den wichtigsten Paragraphen« des »Gerichtsgesetzes (Vergehen, die die Todesstrafe zur Folge haben)« befindet sich »der Paragraph, der festlegt, daß der Gerichtsvorsitzende in derartigen Fällen aus dem Richterkollegium des Obersten Gerichtshofes gewählt wird, während die zwei anderen Richter Distriktsrichter sein müssen.«17 Auch Generalstaatsanwalt Gideon Hausner (1915–1990), Chefankläger im Eichmann-Prozess, liefert in seinem Buch über das Verfahren eine irreführende Darstellung. Er verschweigt sogar, dass das Verfahrensrecht geändert worden ist. Bei ihm ist zu lesen: »Die Zusammensetzung des Gerichts wurde bekanntgegeben. Entsprechend der Prozeßordnung für die wenigen Vergehen, auf welche in Israel als Höchststrafe der Tod steht […], mußte bei der Verhandlung ein Richter des Obersten Gerichtshofs den Vorsitz übernehmen.«18

Das neue Gesetz schaltete, wie gesagt, den umstrittenen Halevi nicht gänzlich aus. Als Bezirksgerichtspräsident konnte er die beiden Beisitzer bestimmen. Gegen den Rat von Kollegen ernannte er sich selbst. Seinen Tel Aviver Kollegen Itzak Raveh (1906–1989) zog er bei. Die Befürchtung, Halevi könnte wegen seines Gruenwald-Urteils von Eichmanns Verteidiger Servatius abgelehnt werden, bestätigte sich nicht. Die Verteidigung hielt das gesamte Gericht für befangen, weil die Richter Juden waren.

»Lex Kaul«

Den politischen Ambitionen von Friedrich Karl Kaul, dem Kronjuristen der SED, der in Jerusalem als Vertreter von Nebenklägern aufzutreten gedachte, schob der israelische Gesetzgeber gleichfalls einen Riegel vor. Zivile Nebenkläger wurden nicht zugelassen, das Gesetz ermöglichte ihnen jedoch, im Rahmen eines getrennten Verfahrens zu klagen. Kaul, der sein Ersuchen zunächst schriftlich vorgetragen hatte und später mit Israels Justizminister Pinchas Rosen und Generalstaatsanwalt Gideon Hausner eine Besprechung führte, musste sich mit der Rolle des Beobachters begnügen.19 Der Anwalt übergab der Anklagevertretung Dokumente und benannte zwei Überlebende aus der DDR, die als Zeugen geladen werden sollten. Die Anklagevertretung verzichtete jedoch auf sie. Kaul wurde auch anderweitig aktiv. Auf einer Pressekonferenz gab er vor, die Hauptschuldigen für den Holocaust in Bonn ausgemacht zu haben. Nicht nur Kaul, auch Rechtsanwalt Shmuel Tamir sollte daran gehindert werden, als Nebenklagevertreter zu agieren.20 Tamir war Malkiel Gruenwalds Anwalt gewesen und verfolgte eine politische Agenda, die der Regierung missfiel.

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