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Theodor Dreyling war von General Paskewitsch zum Militärgouverneur der Stadt und der dazugehörenden Provinz Mechetien ernannt worden. Der Oberst und sein Regiment würden hier bleiben, während der Rest der Kaukasusarmee weiter Richtung Westen vorstossen sollte, um die Türken ein zweites und ein drittes Mal aufs Haupt zu schlagen.

Der Oberst, der lieber hinter den Muselmanen hergejagt wäre, war zuerst ungehalten gewesen. «Seine Durchlaucht, der Graf von Jerewan, degradiert mich zum Gendarmen!», hatte er gebrüllt. Immer wenn er von Iwan Fjodorowitsch als «Seine Durchlaucht» sprach, wusste Vitus, dass der Onkel vor Wut schäumte. Bald hatte Dreyling aber realisiert, dass er als Gouverneur mit der Festung Rabat über eine standesgemässe Residenz verfügte, in der sich komfortabel leben liess. Zusammen mit seinem Neffen bewohnte er die luxuriösen Gemächer des vor den Russen geflohenen Paschas. Und er zweifelte nicht daran, dass es ihm innert kürzester Zeit gelingen würde, den türkischen, tatarischen, armenischen und jüdischen Bewohnern, welche die Stadt vorderhand nicht verlassen durften, den nötigen Respekt vor dem Zaren und Mütterchen Russland einzubläuen. Als Erstes liess er bei der Bevölkerung die Kriegskontributionen eintreiben. Dann gab er Anweisung, die zur Festung gehörende Moschee in eine Kirche umzuwandeln. Obwohl er Gottesdienste nur besuchte, wenn es sich nicht vermeiden liess, war er entschlossen, Alchaziche im Zeichen des Kreuzes zu regieren.

Ein paar Tage nach dem Sieg meldete sich Feldweibel Timofejew im Vorzimmer von Oberst Dreyling. Leutnant von Fenzlau schaute von den Papieren hoch, mit denen er beschäftigt war. Der graubärtige Unteroffizier stand stramm und meldete, er habe seinen Auftrag erfüllt. Draussen im Korridor würden fünf Weiber warten, die er mit seinen Leuten befreit habe.

Vitus erinnerte sich. Sein Onkel hatte den Feldweibel angewiesen, mit sechs Soldaten in der Stadt die Häuser der Reichen zu durchsuchen und sämtliche russischen und deutschen Sklaven zu befreien. «Ihre Neger und die übrigen Heiden mögen die Hurensöhne behalten», hatte er bestimmt. «Ebenso die gefangenen Tscherkessen, Inguschen, Tschetschenen und Dagestanen – kurz: das ganze Gesindel, gegen das wir im Nordkaukasus Krieg führen.» Dann hatte Dreyling seinem Neffen befohlen: «Gib Timofejew Rashid mit. Der spricht leidlich Russisch und kann ihm als Übersetzer dienen.»

«Ist der Mann auch vertrauenswürdig?», hatte Vitus wissen wollen.

«Wir haben seine Frau und seine Kinder in Geiselhaft genommen. Wenn er sie wiedersehen will, so wird er sich als nützlich erweisen müssen.» Theodor Dreyling hatte dröhnend gelacht.

Jetzt stand der Feldweibel also da und wartete darauf, dass der Flügeladjudant ihm sagen würde, was weiter zu geschehen habe.

«Nur fünf Frauen», staunte der Leutnant, «mehr nicht?»

«Nein, Euer Gnaden.» Mit einer vagen Geste drückte der Veteran, der über seine fünfundzwanzigjährige Dienstzeit hinaus in der Armee geblieben war, sein Bedauern aus. Alchaziche sei nur ein Umschlagplatz für den Sklavenhandel. Die meisten gefangenen Weissen seien ins Innere des Osmanischen Reichs geschafft und dort verkauft worden. «Nur fünf Weiber. Deutsche. Ich kann sie nicht verstehen.» Er zuckte mit den Schultern.

«Bring sie herein!»

Es stellte sich heraus, dass sie aus Katharinenfeld, Helenendorf und Annenfeld stammten. Bei den Überfällen vor zwei Jahren waren sie in Gefangenschaft geraten und hatten seither als Mägde für ihre muslimischen Herrschaften gearbeitet. Der Leutnant liess eine um die andere vortreten und nahm ihre Personalien auf. Er notierte schwäbische Namen: Käthe Sackmann, Maria Dangel, Babette Bart und Hilde Wegner. Als Balte hatte er keine Schwierigkeiten, sich mit ihnen zu verständigen.

Eine von ihnen, die Jüngste, hielt sich hinter den vier anderen versteckt. Ihr Haar war vollständig von einem Kopftuch bedeckt. Ausserdem trug sie einen viel zu grossen russischen Uniformmantel, den ihr der Feldweibel gegeben haben mochte. Sie trat als Letzte vor von Fenzlaus Schreibtisch und vermied es, ihn anzusehen.

«Wie heisst Ihr, und woher kommt Ihr?»

«Mein Name ist Barbara Grathwohl. Ich stamme aus Katharinenfeld», sagte sie leise.

Vitus hob den Kopf. «Seid Ihr etwa die Frau von Johannes Grathwohl?» Und als sie ihn mit grossen Augen anschaute und nickte: «Ihr seid frei, und ich werde dafür sorgen, dass Ihr zu ihm zurückkehren könnt.»

Barbara, die auf der langen Reise nach Georgien ihre Eltern und Geschwister verloren hatte, von einer Nachbarin an Kindes statt aufgenommen worden war und als Siebzehnjährige, kurz nachdem man sie verheiratet hatte, in die Gefangenschaft von Sklavenhändlern geraten war, begann zu weinen. «Frei», schluchzte sie. «Guter Herr Jesus, ich bin frei!»

Von Fenzlau stand auf. «Sorg dafür, dass die vier anderen unterkommen!», wies er den Feldweibel an. «Mit dieser hier», er fasste Barbara am Ellenbogen, «habe ich zu reden.»

Er führte die junge Frau in sein Zimmer, das Stube und Wohnraum in einem war. Dort liess er sie auf dem Sofa Platz nehmen, setzte sich neben sie und erzählte ihr von seiner Begegnung mit Johannes Grathwohl. «Euer Mann hat Euch nicht vergessen» schloss Vitus seinen Bericht. «Jeden Tag betet er um Eure Rückkehr.»

Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte.

«Jetzt ist doch alles gut», versuchte Vitus sie zu trösten. «Ihr werdet Euren Mann wiedersehen und gemeinsam ein neues Leben beginnen.»

«Wie soll ich ihm nur gegenübertreten?», schluchzte sie.

«Freut ihr Euch denn nicht, ihn wiederzusehen?»

«Weshalb sollte ich?» Erneut schlug sie die Hände vors Gesicht. Dann, mit stockender Stimme: «Als die persischen und tatarischen Teufel vor zwei Jahren unser Dorf überfielen, rissen sie jungen Mädchen und Frauen, auch mir, die Kleider vom Leib. Sie vergewaltigten uns vor den Augen der Umstehenden. Die Männer unseres Dorfes, die uns helfen wollten, wurden niedergeschlagen. Dann trieben die Unmenschen mich und die anderen wie Vieh nach Alchaziche, wo man uns verkaufte.»

Schweigend sassen sie nebeneinander, bemüht, sich mit den Schultern nicht zu berühren. Zwei junge Menschen, sie neunzehn, er einundzwanzig Jahre alt, getrennt durch ihr Schicksal, ihre Herkunft und ihren Stand.

Nach einer Weile sagte sie hart: «Mein Besitzer, Menhügan Agha, hat mich zur Hure gemacht. In den vergangenen zwei Jahren hat er mich mit drei anderen Nebenfrauen in seinen Haremsgemächern eingeschlossen. Ich war seine Lieblingssklavin.» Sie lachte bitter. «Er hat mich erniedrigt und missbraucht. Ich musste jederzeit bereit sein, seiner bösen Lust zu dienen, und wurde von der Hausherrin, die eifersüchtig auf mich war, geschlagen. Ich habe meine Ehre verloren und bin es nicht mehr wert, die Frau eines aufrechten und frommen Mannes zu sein. Ich kann nur beten, dass mein Johannes zu mir steht. Was soll mit mir geschehen, wenn er mich nicht mehr zurücknimmt?»

Darauf hatte Vitus keine Antwort. Kein Mann aus seinen Kreisen, der auf sich hielt, würde eine Frau zurücknehmen, die andere benutzt hatten. Je nach den Umständen würde man sie mit einem kleinen Geldbetrag abfinden.

Von Fenzlau suchte nach Worten. «Die Seele eines gläubigen Menschen kann auch in einem geschändeten Körper vor Gott bestehen», sagte er schliesslich. Er hatte diesen Satz vor Jahren einmal in einer Predigt des lutherischen Bischofs im Dom von Riga gehört. Das war vor seiner Zeit in der Kadettenanstalt gewesen. Er war damals noch fast ein Kind, und das Wort «geschändet» hatte ihn, ohne dass er wusste, was damit gemeint war, ausserordentlich beeindruckt. «Ja», bekräftigte er, «Gott sieht allein die Seele.»

«Gott schon, aber ein Ehemann?» Barbara erhob sich und schaute ihn verzweifelt an. Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen. «Verzeiht, dass ich Euch mit meinem Kummer behellige», stammelte sie. «Schaut mich an, schaut, was aus mir geworden ist!» Sie löste ihr Kopftuch. Ihr offenes, blondes Haar fiel auf ihre Schultern. Sie knöpfte den Uniformmantel auf und zog ihn aus. So stand sie vor ihm, eine kleine Gestalt in einem dunkelroten, mit Stickereien verzierten, hochgeschlossenen Kleid aus Musseline. Noch immer trug sie die Halsketten, Armreife und Ohrringe, die wohl Geschenke ihres Herrn waren. «Ich bin eine Hure», wiederholte sie flüsternd.

Sowohl in der Kadettenanstalt als auch später, unter den Offizieren der Kaukasusarmee, waren die Frauengemächer reicher Muselmanen Gegenstand schlüpfriger Diskussionen gewesen, welche die Phantasie der Jünglinge und Männer angestachelt hatte. Als Vitus jetzt zum ersten Mal eine Frau sah, die aus einem Harem kam, fühlte er sich unbehaglich und befangen. Ihm fiel Hanna Engist ein, die gesagt hatte, über den Schreckenstag von Katharinenfeld gebe es mehr als vierhundert verschiedene Geschichten. Wahrscheinlich war jene, die er soeben gehört hatte, nicht einmal die schlimmste. Er stellte fest, dass die junge Frau am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre. Gleichzeitig sah er die Angst in ihren Augen und spürte, dass sie darauf wartete, dass er ihr etwas sagte, etwas, das ihr Hoffnung gab.

Er erhob sich und legte ihr die Hand auf die Schulter, zog sie aber sofort wieder zurück, als er spürte, wie sich ihr Körper versteifte. Offenbar missdeutete sie seine Geste. Glaubte sie, er wolle ihr zu nahe treten? Was bildete sie sich ein? Vitus war verletzt. Andererseits: Was verstand er schon von Frauen? Seine Mutter, Baronin von Fenzlau, und ihre Schwägerin, Leonore Dreyling, waren Damen: stolz, kühl, unnahbar. Er hatte nie herausgefunden, was sie dachten und fühlten. Dann gab es die Töchter aus adeligen Häusern, denen er in Sankt Petersburg an Bällen und Soireen im Haus des Onkels am Newskij Prospekt begegnet war. Sie trugen anmutige Abendkleider aus teuren Seidenstoffen, und ihre weiblichen Formen wurden durch ein Satinband betont, das unter der Brust zu einer Schleife gebunden war. Ausserdem rochen sie nach teuren Parfums. Ihr Daseinszweck schien einzig darin zu bestehen, darauf zu warten, dass ein meist deutlich älterer Gutsbesitzer, ein hoher Beamter oder ein Offizier um ihre Hand anhielt. Und schliesslich waren da noch die Mägde und Freudenmädchen, mit denen sich ein junger Mann aus gutem Haus gegen ein geringes Entgelt vergnügen konnte, wenn ihm danach der Sinn stand. So wie das Vitus von Fenzlau im Verlauf des Feldzugs der vergangenen zwei Jahre oft getan hatte.

Obwohl sie sich als Hure bezeichnet hatte, gehörte Barbara Grathwohl in keine dieser Kategorien. Doch was ging ihn ihr Schicksal an? «Ich bringe Euch zu den andern zurück», sagte er kühl. «Morgen werde ich Eure Rückkehr nach Katharinenfeld in die Wege leiten.»

Die grusinische Braut

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