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Am späten Nachmittag des 22. Mai, zehn Tage nachdem er in Derbent aufgebrochen war, traf Juri Jegorows Eskadron mit Vitus von Fenzlau in Tiflis ein. Der Major und der Rittmeister speisten in einem Restaurant unweit der Metechi-Kirche. Es gehörte zu einer Häuserzeile, die wie Schwalbennester auf dem Felsen hoch über der Kura klebte. Man hatte sie an einen Tisch am Fenster gesetzt. Während sie assen, schauten sie immer wieder hinunter auf den Meidan, den Platz der Tataren am anderen Ufer des Flusses, wo Händler an ihren Ständen Waren aus der ganzen Welt feilboten.

Von Fenzlau liebte Tiflis. Hier mündeten die grusinische Heerstrasse und der alte Karawanenweg aus Persien in die Seidenstrasse. Hier sorgten Reisende und Kaufleute aus dem Osmanischen Reich, dem fernen Osten, Russland und Europa für ein babylonisches Sprachengewirr. Hier vereinten sich Abendland und Orient.

Die Stadt lag an den Ausläufern des Saguramigebirges auf der einen und jenen der Trialetischen Berge auf der anderen Seite. Im Frühjahr, wenn in den Bergen der Schnee schmolz, überflutete die Kura den Talgrund auf ihrer linken Seite bis an den Fuss des Avlabari-Quartiers, wo armenische Handwerker und ihre Familien lebten, Weinhändler ihr Produkte anpriesen, Muslime nach der Arbeit in Teehäusern Wasserpfeifen rauchten und Huren in schäbigen Etablissements ihrem tristen Gewerbe nachgingen. Gegenüber, flussabwärts an der engsten Stelle des Tals, stand auf dem Kamm des Bergrückens die im vierten Jahrhundert erbaute Festung Nariqala, die Unbezwingbare, die erst 1827 gefallen war, als ein Blitz in die russischen Pulvervorräte eingeschlagen hatte und die Burg in eine Ruine verwandelte. Am Hang unterhalb des immer noch eindrucksvollen Gemäuers befand sich die Kala, eng ineinander verschachtelte ein- und zweistöckige Wohnhäuser, deren Balkone mit kunstvollen Schnitzereien und Säulen verziert waren. Zum Viertel, das sich, den Rücken gegen den Fluss gewandt, bis in die Niederung der Kura ausdehnte, gehörten auch der Palast des Katholikos, zahlreiche Gotteshäuser und Karawansereien.

Im Westen von Tiflis, am Fuss des Mtazminda, wo vor Zeiten der heilige Dawit in einer Höhle gehaust hatte, waren nach der Jahrhundertwende feudale Villen nach europäischem Vorbild gebaut worden, in denen hohe russische Beamte und reiche Kaufleute wohnten. Hier in der Neustadt, an der Sassachlis Kutscha, befand sich, unweit des Gouverneurspalasts, das Stabsquartier der Kaukasusarmee, wo sich der Major am nächsten Tag meldete.

«Baron von Fenzlau?» Ein Fähnrich, vom Pförtner herbeigerufen, stand stramm und salutierte. «Darf ich mich vorstellen? Ich bin Adrian Dreyling. Ich werde Sie zu meinem Vater bringen.»

Adrian! Der Major liess sich Zeit, seinen Cousin zu betrachten. Er musste jetzt achtzehnjährig sein und war wohl erst vor kurzem aus der Kadettenanstalt entlassen worden. Schlank war er und feingliedrig. Irgendwie unfertig, noch ein halbes Kind. Das weiche, dunkle Haar, das ihm in die Stirn fiel, hatte er von seiner Mutter Leonore geerbt. «Als ich dich das letzte Mal sah, warst du fünf Jahre alt und trugst noch ein Röckchen», sagte Vitus mit gutmütigem Spott und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Der junge Mann errötete. Steif sagte er: «Wenn Sie mir folgen wollen, Herr Baron.»

Von Fenzlau zog die Brauen hoch. «Lass das. Wir sind Vettern. Für dich bin ich Vitus.»

«Vitus, Herzbube und Schrecken der Bergtataren!», lärmte Theodor Dreyling, als von Fenzlau das Arbeitszimmer des Onkels betrat. Er stemmte sich ächzend aus seinem Sessel hinter dem mächtigen Schreibtisch hoch und drückte den Neffen an seine Brust. Er war inzwischen vierundfünfzig. Sein einst volles Haar hatte sich arg gelichtet, genauer: Er war fast kahl. Schon immer hatte er zur Korpulenz geneigt. Jetzt war er fett. Sein Bauch wurde von einem Korsett daran gehindert, sich ähnlich wie Augensäcke und Wangen den Gesetzen der Schwerkraft zu unterwerfen. Der Gurt, der den Uniformrock umspannte, war vermutlich eine Spezialanfertigung. Die Beförderung in den Generalsrang hatte seine Neigung zum Wohlleben nicht eingeschränkt. Im Gegenteil.

Von Fenzlau verkniff sich ein Lächeln und setzte sich. Nachdem man sich nach dem gegenseitigen Befinden erkundigt und Nettigkeiten ausgetauscht hatte, wurde Generalmajor Dreyling dienstlich. In den westlichen Provinzen Transkaukasiens habe man Probleme mit Tataren aus dem Norden, mit Türken und mit Persern, erklärte er. «Sie schliessen sich zu Räuberbanden zusammen und ziehen marodierend durchs Land. Manchmal sind es fünfzig Mann, manchmal mehr, manchmal weniger. Die Teufelsbrut überfällt Reisende und Siedler, raubt sie aus, plündert auch ganze Dörfer und verzieht sich in die Berge, bevor die Armee eingreifen kann. Wir wollen dem ein Ende machen.»

Man habe sich entschlossen, fuhr Dreyling fort, Major von Fenzlau, der im Nordkaukasus gelernt habe, mit dem heidnischen Lumpenpack umzugehen, auf eine Inspektionsreise zu schicken. «Wir brauchen einen schonungslosen Bericht über die Stärke unserer Stützpunkte und Festungen sowie über die Schlagkraft und Einsatzfähigkeit unserer Truppen im Westen. Für die Dauer des Auftrags wird dir die Eskadron des Rittmeisters Jegorow unterstellt. Vielleicht gelingt es dir ja nebenbei, mit Hilfe der Kosaken ein paar der Hurensöhne in die Hölle zu schicken.»

Nachdem die Einzelheiten des Auftrags besprochen waren und ein Offiziersdiener Tee, Cognac und Gebäck serviert hatte, sagte Dreyling, er habe noch ein persönliches Anliegen. Er wirkte ein wenig verlegen. Sein Sohn Adrian habe ein etwas weiches Gemüt und habe sich nur widerwillig für den Soldatenberuf entschieden, erklärte er. Tatsächlich seien seine Leistungen in der Kadettenanstalt eher mässig gewesen. «Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, dass er während dreier Jahre dem Zaren dient. Wenn er dann nicht länger in der Armee bleiben will, kann er mit meinem Segen einen Beruf nach eigenem Gusto wählen. Der Junge hat gehofft, seine Zeit in einem Garderegiment in Sankt Petersburg absitzen zu können. Aber ich habe veranlasst, dass er in den Kaukasus versetzt wird. In den letzten beiden Monaten hat er es sich hier in Tiflis gutgehen lassen. Jetzt ist es Zeit, dass er den Ernst des Lebens kennenlernt. Kurz», Theodor Dreyling straffte sich, «ich möchte, dass er dich auf deiner Inspektionsreise begleitet. Nimm ihn mit und mach ihn zum Mann!» Er zögerte. Dann fügte er leise hinzu: «Und gib auf ihn Acht, er ist noch ein Kind.» Er senkte den Kopf und sah plötzlich alt aus. Als schien er sich seiner Schwäche zu schämen, sagte er schliesslich wieder laut: «Und im Herbst, wenn du deinen Auftrag erfüllt hast, reisen wir mit Adrian nach Sankt Petersburg. Meine beiden Töchter brennen darauf zu sehen, was aus dir geworden ist.»

Am nächsten Tag brach der Major mit seinen Kosaken in aller Herrgottsfrühe auf. Während er sich mit Juri Fedorowitsch über gemeinsame Erlebnisse in Dagestan unterhielt, wich sein Vetter Adrian den ganzen Tag nicht von seiner Seite. Gegen sechzehn Uhr erreichten sie Katharinenfeld.

Die Schwabensiedlung in der fruchtbaren Ebene der Maschawera war in den elf Jahren, in denen er nicht mehr dort gewesen war, gewachsen. Weitere Kolonisten aus Württemberg hatten sich niedergelassen. Neue Strassenzüge waren entstanden, an die sich die typischen Streckhöfe reihten.

Beim Dorfschulzen, mit dem von Fenzlau über die Einquartierung der Offiziere verhandelte, erkundigte er sich nach Pastor Engist und dessen Familie.

«Der lebt nicht mehr hier», sagte der Mann. Nach dem Tod seiner Frau habe ihn die Basler Mission nach Indien ausgesandt, damit er dort Heiden bekehre.

«Hanna Engist ist gestorben?» Von Fenzlau war betroffen.

«Im Winter vor acht Jahren suchte uns der Herr mit einer Seuche heim, der zahlreiche Brüder und Schwestern zum Opfer gefallen sind. Sie war unter ihnen. Jetzt liegt sie auf dem Gottesacker.» Er zeigte mit der Hand in die ungefähre Richtung.

Einem spontanen Impuls folgend spazierte der Major zum Friedhof, der am nördlichen Dorfrand lag. Eine alte Frau wies ihm den Weg zum Grab. Er schob die dunkelgrünen Efeublätter, die den grauen Stein überwucherten, beiseite. Hanna Engist-Jacob von Waldenburg, Schweiz, 1779–1831, las er.

«Du hast sie gekannt?» Adrian, der sich ihm angeschlossen hatte, war hinter ihm stehengeblieben.

Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ein junger Mann wie Ihr nicht nur unsägliches Leid über andere bringt, sondern auch Schaden an seiner Seele nimmt. Von Fenzlau hatte die Begegnung mit ihr vor elf Jahren nicht vergessen. «Sie war eine gute Frau», sagte er, ohne sich umzudrehen.

«Bist du zufrieden, Vetter Vitus?» Noch immer sprach Adrian zu seinem Rücken.

«Was soll die Frage?»

«Ich habe euch zugehört, dir und dem Rittmeister Jegorow. Macht es dir Freude, die Dörfer einfacher Leute zu zerstören?»

«Es muss sein.» Der Major löste den Blick von Hanna Engists Grab und wandte sich dem jungen Cousin zu. «Seit 1813 ist Dagestan Teil Russlands. Der Zar braucht den Grossen Kaukasus als Grenzwall gegen die Perser. Ausserdem verbünden sich die Bergtataren aus dem Norden mit unseren Feinden, den Türken, und überfallen auch Dörfer und Höfe in Grusinien. Wir sorgen für Ruhe und Ordnung.»

«Und dafür müssen Frauen und Kinder, die uns nichts zu Leide getan haben, sterben?»

«Sprich nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst!», wies ihn von Fenzlau schärfer als beabsichtigt zurecht. «Wenn du einmal in einen Hinterhalt dieser Dreckschweine gerietest und mitansehen müsstest, wie deine Kameraden erschossen oder so schwer verwundet werden, dass sie elend verrecken, würdest du anders reden.»

«Kameraden – meinst du unsere Soldaten, jene Männer, die in der Armee wie Sklaven behandelt werden? Warst du jemals dabei, als einer zum Spiessrutenlaufen verurteilt wurde?»

Der Major nickte. Natürlich hatte er das schon miterlebt. Mehr als einmal. Bei schweren Vergehen, wenn sich einer beispielsweise gegen einen Vorgesetzten, der ihn schlug, handgreiflich zur Wehr setzte oder wenn einer desertierte und wieder eingefangen wurde, war das die übliche Strafe, welche die Militärgerichte über den Unglücklichen verhängten.

«Was hast du empfunden, wenn ein Delinquent mit nacktem Oberkörper und gefesselten Händen dreimal, viermal, manchmal sogar fünfmal langsam durch die Gasse schreiten muss, die zweihundert Männer seiner Einheit bilden?» Adrians Stimme überschlug sich. «Jeder von ihnen hält eine fingerdicke Rute in den Händen. Jeder Einzelne schlägt ihn, und zwar nach Leibeskräften, denn hinter ihm steht ein Unteroffizier, der darauf achtet, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Mit rechten Dingen!» Der Fähnrich lachte höhnisch. «Wenn man aus dem Rücken des Delinquenten ein blutiges, zuckendes Stück Fleisch gemacht hat und er zusammenbricht, bringt man ihn ins Lazarett, wo man ihn notdürftig wieder so weit herstellt, dass die Strafe fortgesetzt werden kann. Mancher überlebt sie nicht.»

«Nun», sagte von Fenzlau, für den das Spiessrutenlaufen eine von vielen Massnahmen war, um die Disziplin der Truppe zu wahren, «dein Vater hat einmal behauptet, dass die Kerle nicht für den Krieg taugen, solange sie ihre Vorgesetzten nicht mehr fürchten als den Feind.»

Adrian überhörte den spöttischen Ton. «Russland wird allein durch die Gewalt des Zaren und des Adels mithilfe der Armee zusammengehalten», ereiferte er sich. «Nur radikale Reformen können unser Land heilen. Zuerst muss die Leibeigenschaft abgeschafft werden. Fünfzig Millionen Bauern leben in Unfreiheit. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Eigentum des Staates. Über zwanzig Millionen gehören adeligen Grundbesitzern, von denen Einzelne zwei-, manchmal dreitausend Seelen besitzen – Seelen, als seien ihre Herren Gott oder der Teufel, dabei werden die Menschen frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es, heisst es im ersten Artikel der Menschenrechte.» Er schaute den Älteren erwartungsvoll an.

«Wenn du nicht in Teufels Küche kommen möchtest, solltest du diese Gedanken besser für dich behalten.»

Adrians Gesicht wurde verschlossen. «Verzeih, ich habe gehofft, wenigstens bei dir Verständnis zu finden.» Abrupt wandte er sich um und ging davon.

Die grusinische Braut

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