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«Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ein junger Mann wie Ihr einen Beruf gewählt hat, der nicht nur unsägliches Leid über andere bringt, sondern ihm auch Schaden an seiner Seele zufügt.» Hanna Engist schaute dem jungen Offizier in die Augen. Betrübt? Vorwurfsvoll?

Sie sassen im Hof des Pfarrhauses von Katharinenfeld an einem langen Holztisch im Schatten einer Silberlinde. Es war so still, dass man das Summen der Bienen hörte, die in den gelben Blüten den letzten Nektar des Jahres ernteten.

Gestern, am 12. August 1828, war Vitus von Fenzlau, ein Balte aus Riga, mit dem Regiment seines Onkels, Oberst Dreyling, im Schwabendorf an der Maschawera eingerückt.

In den vergangenen zwei Jahren hatte der Regimentskommandant den Neffen unter seine Fittiche genommen und ihn zu seinem Flügeladjudanten befördert. Dreylings Einheit gehörte zur Armee General Paskewitschs, welche die Perser weit über Jerewan hinaus vor sich hergetrieben hatte. Der Schah war gezwungen gewesen, die Russen um Frieden zu bitten und ihnen bedeutende Gebiete im Süden Transkaukasiens abzutreten.

Der Leutnant hatte soeben der Frau von Pastor Engist den Feldzug geschildert. Er hatte ihr von Gefechten berichtet, von Toten und Verwundeten und von brennenden Dörfern. Und als sie darauf insistierte, hatte er ihr auch von weinenden Frauen und Kindern erzählt, die von einem Tag auf den andern Witwen und Waisen geworden waren.

Lange sassen sie schweigend nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach. Vitus von Fenzlau schaute zur Krone des Baumes hinauf, zu den herzförmigen, noch sommergrünen Blättern.

Hanna Engist, eine mütterliche Frau, legte ihre Hand auf den Arm des Balten. «Das Leben könnte so schön sein», sagte sie. Nach einer langen Pause fuhr sie fort: «Meine erste Liebe war ein Rheinschiffer. Er wurde von den Franzosen zum Militär gepresst und kam ums Leben, als er auf Saint-Domingue helfen sollte, einen Sklavenaufstand niederzuschlagen. Mein Bruder Paul folgte Napoleon freiwillig durch ganz Europa. Er gehörte zu den wenigen, die den Russlandfeldzug überlebt haben. Dann ging er für seinen Kaiser nach Waterloo. Von dort ist er nicht mehr zurückgekehrt. Gott allein weiss, wie viel Unheil die beiden als Soldaten angerichtet haben.» Noch immer lag ihre Hand auf Vitus’ Arm. «Es bricht mir das Herz», wiederholte sie, «dass ein junger Mann wie Ihr einen solchen Beruf gewählt hat.»

Von Fenzlau empfand den Vorwurf als ungerecht. Er hatte das Soldatenhandwerk nicht gewählt. Anders als sein jüngerer Bruder Gregor, dessen kaufmännisches Interesse ihn für die Nachfolge im väterlichen Handelshaus prädestinierte, war Vitus von Kindheit an für die Offizierslaufbahn bestimmt gewesen. «Du bist der Erbe eines grossen Namens», hatte ihm sein Vater, Baron Wernher von Fenzlau, immer wieder eingetrichtert, wenn er ihn in sein Kontor bestellte, «und es gehört zur Tradition der Familie, dass wir dem Zaren einen unserer Söhne schenken.»

Vitus pflegte bei diesen Gesprächen über den Kopf seines Erzeugers hinweg zum Urgrossvater zu schielen, der in Öl verewigt aus seinem Goldrahmen den Nachkommen prüfend ins Auge fasste, als frage er sich, ob der Junge würdig sei, dereinst den Titel Baron weiterzutragen, mit dem Peter der Grosse nach der Eroberung der Ostseeprovinzen dem Ahnherrn den Adel bestätigt hatte.

Wernher von Fenzlau, ein spitzbärtiger, wohlbeleibter Herr, war ein Patriarch der alten Schule. Seine beiden Söhne küssten ihm, wenn es die Gelegenheit erforderte, die Hand, die Diener den Ärmel. Er hielt sich häufig im Erdgeschoss auf, wo sich sein Kontor befand, von dem aus er seine Geschäfte betrieb. Er wurde von vier Gehilfen unterstützt, die täglich zwölf Stunden für ihn arbeiteten. Der Baron war ein Grosskaufmann, der weit über die Ostsee hinaus Handel mit Gütern aller Art betrieb. Ausserdem besass er zwei Frachtsegler, respektable Dreimaster, die von Fenzlau, der von den germanischen Göttersagen fasziniert war, Frigg und Freya getauft hatte.

Die Freya war es denn auch, die den vierzehnjährigen Vitus im Oktober 1821 nach Sankt Petersburg gebracht hatte, wo in einer Kadettenanstalt seine Laufbahn als Offizier ihren Anfang nehmen sollte. Der Vater und Gregor waren in Riga an der Pier gestanden, die Hände in den Taschen ihrer Mäntel vergraben, und hatten zugeschaut, wie der grosse Frachtensegler ablegte und sich von der Strömung der Düna meerwärts treiben liess. Hinter einem Schleier von Nieselregen zogen die Fronten der reichen Bürgerhäuser an Vitus vorbei. Er erkannte die Türme der Sankt-Jakobs-Kathedrale, des Doms, der Petri- und Johanneskirche. «Denk immer daran, dass du ein von Fenzlau bist, und mach unserem Namen Ehre!», hatte der Baron seinem Ältesten mit auf den Weg gegeben.

In Sankt Petersburg kostümierte man Vitus als Soldat. Man steckte ihn in einen blauen Waffenrock mit rotem Revers und roten Ärmelaufschlägen und in enge, blassgelbe Hosen, die aus weissen Gamaschen wuchsen, die von den blank polierten schwarzen Schuhen bis über die Knie reichten. Ein schwarzer Zweispitz als Kopfbedeckung vervollständigte das Bild des Halbwüchsigen, der bei Inspektionen durch seine Vorgesetzten mit angespanntem Gesicht stocksteif wie ein Ölgötze dastand, mit der linken Hand den Griff des Degens umklammernd, der an seinem Gürtel befestigt war, während die rechte vorschriftsgemäss auf der Hüfte ruhte.

Die viereinhalb Jahre, die er in der Anstalt auf der Wassijewskij-Insel verbrachte, erwiesen sich als eine endlose Reihe von Tagen, angefüllt mit dem ewig gleichen Programm, das ganz im Zeichen der militärischen Disziplin und der körperlichen Ertüchtigung stand. Man liess die Schüler stundenlang exerzieren, bis sie jenen Kadavergehorsam verinnerlicht hatten, den sie später einmal als Offiziere ihren Soldaten abverlangen sollten. Ihre Lehrer hetzten sie mehrmals in der Woche über einen Hindernisparcours. Sie mussten sich in Gewaltmärschen bewähren und sich in Wettläufen die Seele aus dem Leib kotzen. Man drillte sie im Umgang mit Pistole und Gewehr, bis sie fähig waren, auch mit verbundenen Augen ihre Waffen zu laden und zu entladen, sie zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen. Als künftige Offiziere lernten sie fechten, reiten und tanzen. Daneben vermittelte man ihnen eine umfassende Allgemeinbildung. Sie wurden in Naturwissenschaften, Mathematik, Fremdsprachen, Zeichnen und Geschichte unterrichtet. Tugend, Tapferkeit und Treue zum Zaren war die Maxime, die sie jeden Morgen im Chor brüllten, wenn auf dem Exerzierplatz die russische Fahne hochgezogen wurde.

Katharinenfeld lag in Niederkartlien, sechzig Werst südöstlich von Tiflis. Es war eines von mehreren Dörfern, die von schwäbischen Auswanderern in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Grusinien, wie die Russen Georgien nannten, gegründet worden waren. Um einen grossen Platz im Zentrum standen die öffentlichen Gebäude: die Schule und das Pastorat, das auch als Gemeindehaus diente. Eine Kirche gab es noch nicht; man würde sie später bauen. Vorderhand fanden die Gottesdienste im Bethaus statt. Wie in ihrer württembergischen Heimat lebten die rund fünfhundert Kolonisten auch hier in ein- bis zweigeschossigen Streckhöfen, Wohnhäusern, zu denen ein Stall und eine Scheune gehörten. Drei weitere Gebäude wurden gemeinschaftlich genutzt: das Backhaus, die Schmiede und die Badestube.

Nach den langen Monaten in den ausgedörrten Hochebenen zwischen Aragaz und Ararat und den Felswüsten des armenischen Gebirges erschien Leutnant von Fenzlau Katharinenfeld wie der Garten Eden. Die Kolonisten hatten im weiten Tal der Maschawera Obst- und Gemüsekulturen angelegt, Getreide und Kartoffeln gepflanzt. Auf den Weiden vor dem Dorf grasten fette Kühe, aus deren Milch sie Käse und Butter herstellten. Quelle des Wohlstands war aber der Weinbau. Mit Bewässerungskanälen, die wie ein artesischer Brunnen das Grundwasser durch unterirdische Tunnel an die Oberfläche leiteten, vergrösserte man laufend die Anbauflächen.

Hier in Katharinenfeld sollte sich das Regiment Dreyling für ein paar Tage vom Feldzug gegen die Perser erholen sowie Ausrüstung und Bewaffnung wiederherstellen und ergänzen. Während die Soldaten und Unteroffiziere am Dorfrand in Zelten untergebracht wurden, quartierte man die höheren Chargen in Privathäusern ein. Der Oberst bezog mit den Herren seines Stabs, zu dem auch der junge von Fenzlau gehörte, die Räumlichkeiten des Dorfamtes in der ersten Etage des Pfarrhauses. Ihre Gastgeber waren der Pastor Christian Engist und dessen Frau Hanna.

«Ihr habt Euch hier in Katharinenfeld ein wahres Paradies geschaffen», bemerkte Oberst Dreyling zur Pfarrfrau, als er und seine Offiziere an diesem Abend im Pastorat speisten.

«So, glaubt Ihr – ein Paradies?» Hanna Engist schaute den Kommandanten nachdenklich an. «Ja, es könnte ein Paradies sein», nickte sie, «wenn wir nicht vor zwei Jahren die Hölle erlebt hätten, als eine Horde von Ungläubigen unser friedliches Dorf überfiel. Wir werden morgen in einem Gottesdienst für die Toten und die Verschollenen unserer Gemeinde beten.»

Ihr Mann hob den Kopf und schaute seine Frau an. «Ich glaube nicht, dass sich die Herren für das Leid interessieren, das die Perser und Tataren über uns gebracht haben», meinte er tadelnd.

«Sagen Sie das nicht!», sagte Oberst Dreyling. «Schliesslich haben wir zwei Jahre lang gegen das Gesindel gekämpft.»

«Nun, wenn Ihr es durchaus wissen wollt …», begann Christian Engist: «Vor zwei Jahren drangen persische Freischärler in den Südkaukasus ein. Sie forderten die hier lebenden Tataren auf, mit ihnen im Namen Mohammeds gegen die Christen zu kämpfen. Rund tausend Bewaffnete überfielen Annenfeld und Helenendorf. Am frühen Morgen des 14. Augusts standen sie auch vor unserem Dorf. Sie machten jene, die sich zur Wehr setzten, mit ihren Säbeln nieder, durchbohrten sie mit ihren Lanzen oder erschossen sie. Fünfzehn Kolonisten kamen ums Leben, neunundneunzig Frauen, zweiundfünfzig Männer und dreiundvierzig Kinder wurden gefangen und weggeführt, um auf muslimischen Sklavenmärkten verkauft zu werden.» Der Pastor wandte sich abrupt ab. «Verzeiht, ich muss noch an meiner Predigt für morgen arbeiten.»

Bedrückt schaute ihm seine Frau nach, als er den Raum verliess. «Wir waren in jenen Tagen zusammen mit unserem vierjährigen Niklaus bei seinem Amtsbruder in Elisabethtal», erklärte sie. «Für unsere Familie war das ein Glück. Aber er macht sich bis heute Vorwürfe, dass er damals nicht bei seiner Gemeinde gewesen ist.»

Am dritten Tag seines Aufenthalts in Katharinenfeld lernte Vitus von Fenzlau bei einem Ausritt Johannes Grathwohl kennen, der auf seinem Acker am Dorfrand arbeitete. Sie kamen miteinander ins Gespräch. Ob er beim Überfall vor zwei Jahren schon hier gelebt habe, wollte der Leutnant wissen.

Der Kolonist, kaum älter als von Fenzlau, schob den Strohhut in den Nacken und musterte sein Gegenüber. Dann fuhr er sich mit der Hand durch den dunklen Bart. «Gewiss», sagte er schliesslich in seinem schwäbisch gefärbten Deutsch. «Ich war hier. Wenn Ihr mit mir das Vesperbrot teilen mögt, kann ich Euch davon berichten.»

Vitus stieg vom Pferd und band es an den Stamm eines jungen Ahorns, in dessen Schatten sie sich niederliessen. Der Jungbauer nahm aus einem Korb Brot, kaltes Fleisch, Käse und Früchte und legte alles auf ein sauberes Tuch, das er zwischen sich und seinem Gast auf dem Boden ausbreitete. Während sie assen und Most tranken, erzählte Grathwohl, dass er als Zwölfjähriger mit einer pietistischen Auswandererharmonie von Württemberg nach Georgien gekommen sei. «Ich war der einzige der Familie, der Katharinenfeld erreicht hat», fuhr er fort. «Auf der Reise donauabwärts brach die weisse Ruhr aus. Drei Dutzend Brüder und Schwestern starben. Unter ihnen waren auch meine Eltern und meine drei Geschwister. Eine Nachbarin aus unserem Dorf hat mich und Barbara Gmelin, ein Mädchen, das unterwegs ebenfalls zur Waise geworden war, in die Schar ihrer Kinder aufgenommen.»

Grathwohl machte eine lange Pause. «Die Regierung schenkte jeder Familie dreissig Hektaren Land», fuhr er schliesslich fort. «Wir alle halfen mit, die Kolonie aufzubauen, das Land zu roden, Äcker anzulegen und das Vieh, das wir aus unserem letzten Geld gekauft hatten, zu hirten. Die ersten Jahre waren hart. Später wurde es besser, denn dies ist ein gesegnetes Land. Als ich zweiundzwanzig war, wies man mir den Hof eines Kolonisten zu, der kurz zuvor verstorben und dessen Familie zu Verwandten nach Helenendorf gezogen war. Gleichzeitig gab man mir die inzwischen siebzehnjährige Barbara zur Frau. Wir waren noch dabei, einander als Eheleute vertraut zu werden, als das Unheil über uns hereinbrach.» Johannes schluckte. Er starrte lange auf den Boden. Dann fixierte er irgendeinen Punkt in der Ferne.

An jenem 14. August vor zwei Jahren war er noch beim Morgengrauen aufs Feld gegangen, um den Weizen nicht in der Hitze des Tages einbringen zu müssen. Bei Sonnenaufgang kamen sie. Er hörte zuerst ihre schrillen Rufe, dann sah er Hunderte von Reitern, die sich auf der Kuppe eines Hügels in tief gestaffelten Reihen formierten. Es waren Perser und Tataren, erkennbar an ihren Turbanen und Papachi, den traditionellen Fellmützen. Viele von ihnen trugen weisse, wehende Gewänder, andere knielange, bis zum Gürtel eng geschnittene, dann weite Mäntel in verschiedenen Farben. Manche waren mit Gewehren bewaffnet, andere mit Lanzen, die mit farbigen Wimpeln geschmückt waren und deren Spitzen in der Sonne glänzten. Johannes warf sich zu Boden, bedeckte sich mit Korn, das er bereits geschnitten hatte, und hoffte, dass sie ihn nicht entdeckten. Er hörte einen scharfen Befehl, dann das Trommeln der Hufe galoppierender Pferde, die näher kamen, immer näher, sich aber schliesslich von ihm entfernten. Vorsichtig hob er den Kopf und sah, dass die Krieger breit ausschwärmten und das noch schlafende Dorf umzingelten. Während sie unter Kriegsgeschrei in die Siedlung eindrangen, flüchtete Johannes durch das Ährenfeld hinunter zur Maschawera. Er durchwatete das seichte Gewässer und versteckte sich im dichten Gebüsch am Ufer. Dann hörte er Schüsse, Kindergeschrei und Wehklagen. Vorsichtig bog er die Zweige auseinander. Er sah, wie aus dem Dorf Rauch aufstieg, sah Menschen, die versuchten zu fliehen, von den Reitern aber eingeholt, zu Boden geworfen und gefesselt wurden. Johannes zitterte am ganzen Leib. Er barg sein Gesicht in den Händen. Er fühlte sich ohnmächtig und war erfüllt von einer tiefen Scham, weil er seiner jungen Frau, die jetzt, in diesem Moment dem Furor der Barbaren preisgegeben war, nicht helfen konnte. Er flehte Gott an, dem Wüten der Heiden ein Ende zu setzen, seine Heerscharen zu schicken oder wenigstens ein Regiment Russen. Aber nichts dergleichen geschah. Allmählich verstummte der Lärm. Eine unheimliche Stille lag über Katharinenfeld. Und dann, nach drei oder vier Stunden, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, sah er, wie die Räuberhorde abzog. Sie nahmen den Weg am gegenüberliegenden Ufer des Flusses und ritten, nicht weiter als einen Steinwurf von ihm entfernt, Richtung Westen. In Wagen, die den Kolonisten gehörten und die von deren Pferden und Ochsen gezogen wurden, führten sie das Hab und Gut der Siedler mit sich. Auch die Vorräte für den kommenden Winter hatten sie geplündert. Sie trieben Kühe, Schafe und Schweine vor sich her, und ganz am Schluss folgte eine traurige Kolonne: Männer in seinem Alter, junge Frauen, Halbwüchsige, Mädchen und Burschen, auch Kinder. Johannes meinte, sein Herz müsse stillstehen. Die Ungläubigen, die manchmal mit Peitschen auf sie einschlugen, hatten ihre Hände gefesselt und sie wie Vieh mit langen Stricken aneinandergebunden. Manche weinten, manche sahen mit leeren Blicken vor sich auf den Boden. Er kannte jede und jeden. Mit diesen Menschen war er vor zehn Jahren aus Württemberg ausgewandert. Gemeinsam hatten sie Katharinenfeld aufgebaut und das Land urbar gemacht. Auch Barbara war unter ihnen. Ihre Kleider waren schmutzig und zerrissen. Offenbar hatte sie sich gewehrt. Er wusste, was ihr bevorstand. Man würde sie als Sklavin verkaufen. Auf sie wartete ein Schicksal, das ihm schlimmer erschien als der Tod.

Johannes Grathwohl hatte seine Erzählung zu Ende gebracht. Er schaute den Leutnant an. In seinen Augen schwammen Tränen. «Was haben wir getan, dass es dem Herrn gefallen hat, uns derart hart zu bestrafen?» Er schien keine Antwort auf seine Frage zu erwarten.

Als Vitus von Fenzlau von seinem Ausritt zurückkehrte, sass Hanna Engist wieder am Holztisch unter der Silberlinde. Vor ihr stand eine grosse Schüssel mit grünen Bohnen, die sie bereits gewaschen hatte. Sie legte jeweils fünf oder sechs von ihnen nebeneinander auf ein Küchenbrett, richtete sie aus wie Soldaten, die in einem Glied stehen, und kappte dann mit einem Messer an beiden Enden die Spitzen. Sie lud ihn ein, sich neben sie zu setzen.

Johannes Grathwohl habe ihm die Geschichte des Schreckenstags von Katharinenfeld erzählt, berichtete der Leutnant, nachdem er Platz genommen hatte.

«Er hat Euch seine Geschichte von jenem Tag erzählt», sagte die Frau des Pastors, ohne von ihrer Arbeit hochzublicken.

«Gibt es denn mehrere?»

«Gewiss, eine ganze Dorfgemeinschaft wurde überfallen – mehr als vierhundert Menschen, und so gibt es auch mehr als vierhundert Geschichten. Solche, die erzählt, und solche, die verschwiegen werden. Es gibt die Geschichten von wehrlosen Opfern, von Heldinnen und Helden, von Feiglingen und von Verschonten. Jede dieser Geschichten ist wie ein Faden, der erst im Lauf der Jahre mit anderen zu einer Art Bilderteppich verwoben wird, der ein Ereignis darstellt, das, obwohl es die Wirklichkeit auch nicht wiederzugeben vermag, von unseren Kindern und Kindeskindern für wahr gehalten werden wird.»

Vitus dachte nach. «Was ist denn die Wahrheit?», fragte er.

«Katharinenfeld wurde überfallen. Fünfzehn Menschen wurden erschlagen, hundertvierundneunzig wurden versklavt, zweihunderteinundzwanzig blieben zurück. Aber das Leid, die Schmerzen, die Angst, die Verzweiflung und die Trauer – es gibt keine Worte, die all das angemessen zum Ausdruck bringen könnten. Doch glaubt mir: Es vergeht kein Tag, an dem jene, die damals dabei waren, nicht an diesen 14. August denken. Und jeden quälen andere Bilder.» Noch immer rüstete Hanna Engist ihre Bohnen. Konzentriert zwickte sie die Spitzen ab, als gebe es nichts Wichtigeres auf der Welt.

«Johannes Grathwohl meint, es habe dem Herrn gefallen, das Dorf zu bestrafen.»

«Johannes Grathwohl versündigt sich, wenn er das glaubt.» Jetzt endlich unterbrach die Frau ihre Arbeit. Sie sah den Leutnant an. «Wenn im Verlauf eines Krieges friedliche Bauern erschlagen und ihre Lieben versklavt werden, so ist das Menschenwerk.» Ihre Stimme klang zornig. «Wahr sind nicht nur die Gräuel, die wir einander antun», fuhr sie nach einer Weile leiser fort. «Wahr ist auch, dass es Mitgefühl gibt und Grosszügigkeit. Ohne die Hilfe unserer Glaubensbrüder aus den anderen Schwabendörfern hier im Kaukasus, die uns einen Teil ihrer Wintervorräte schenkten und uns mit Pferden und Vieh aushalfen, und ohne die finanzielle Unterstützung durch den Generalgouverneur in Tiflis hätten wir die Siedlung wohl nicht wiederaufbauen können.» Sie unterbrach ihre Arbeit erneut. «Inzwischen sind neue Auswanderer zu uns gestossen. Wir haben ihnen die leeren Häuser gegeben. Das Leben geht weiter. Eine neue Generation wird heranwachsen. Hoffentlich darf sie hier in Frieden und Gerechtigkeit leben.»

Die grusinische Braut

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