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Wenn im Winter Schnee und Eis den Zugang über die Pässe zu den Siedlungen der Aufständischen verunmöglichten, las von Fenzlau viel, und wenn er genug von geistiger Nahrung hatte, vertrieb er sich die Zeit mit Kartenspiel und Huren. Manchmal nahm er Urlaub und reiste nach Tiflis. Er gab sich städtischen Vergnügungen hin und liess sich zu rauschenden Festen in den Gouverneurspalast einladen. Ab und zu traf er dort seinen Onkel. Zusammen besuchten sie die Schwefelbäder. Umhüllt von Dampfwolken liessen sie sich von kundigen Frauenhänden massieren, suchten vornehme Bordelle auf, speisten anschliessend und redeten über dieses und jenes. Jeweils zum Geburtstag schrieben sie sich, berichteten von ihren Erlebnissen in Alchaziche respektive Derbent. Zwei einsame Männer, getrennt durch eine Generation, verbunden durch den gemeinsamen Beruf.

Im Frühjahr 1839 erhielt der Major einen Brief von seiner Mutter. Sie teilte ihm mit, sein Vater, Wernher von Fenzlau, sei im Januar gestorben. Er habe in seinem Testament verfügt, dass sein jüngerer Sohn Georg das Handelshaus in Riga weiterführen solle, wobei ein Drittel der Erträge aus dem Geschäft Vitus zustünden. Ausserdem vermache er ihm das Gut in Segewold. Vom liquiden Vermögen stünde ein Fünftel ihr zu, seinen beiden Söhnen je vierzig Prozent. Die Mutter bat ihren Ältesten, seinem Bruder mitzuteilen, wohin man sein Erbteil überweisen solle und was mit dem Hof in Segewold zu geschehen habe. Ich gehe davon aus, schrieb sie, dass Du weisst, dass mit dem Tod Deines Vaters jetzt Du der Baron von Fenzlau bist. Erweise Dich dieser Ehre würdig.

Vitus las das Schreiben mehrmals. Er hatte, abgesehen von wenigen, nichtssagenden Briefen, die in grossen Abständen zwischen Riga und Grusinien hin und her gingen, keinerlei Kontakt mehr mit seiner Familie. Er hatte auch nie das Bedürfnis gehabt, sie zu besuchen. Hatte er dem Vater, der inzwischen bereits seit drei Monaten in seiner Grube lag, bis heute nicht verziehen, dass er ihn als Vierzehnjährigen dem Zaren «geschenkt» hatte?

Onkel Theodor war der Einzige, der ihm von der Verwandtschaft geblieben war. Vor einem Jahr hatte er ihn aufgefordert, Urlaub zu nehmen und ihn nach Sankt Petersburg zu begleiten. Seine beiden Töchter, Charlotte und Caroline, seien im heiratsfähigen Alter, hatte er augenzwinkernd hinzugefügt. Vitus erinnerte sich amüsiert an Lini und Lotti, die Zwillinge. Aber dann war der Oberst zum Generalmajor befördert und nach Tiflis versetzt worden, so dass man die Reise verschieben musste.

Allmählich wurde Vitus bewusst, dass er jetzt reich war, reich und unabhängig vom Geld, das ihm der Baron einmal im Jahr durch einen Kurier der Armee hatte überbringen lassen. Der Baron? Mit dem Tod des Alten war jetzt er der Baron.

Er trat vor den Spiegel und betrachtete sich. «Baron von Fenzlau», sagte er zu seinem Spiegelbild, das darauf zu bestehen schien, kein vornehmer, baltischer Adeliger zu sein, sondern ausschliesslich ein Krieger, der Tod und Verderben über seine Feinde brachte.

«Baron von Fenzlau», wiederholte er. Lauter diesmal.

«Haben Durchlaucht nach mir gerufen?» Sein Diener, der Anweisung hatte, in seiner Kammer neben dem Wohnzimmer auf Befehle zu warten, wenn sein Herr zuhause war, stand in der Türe.

«Ich bin jetzt Baron, Wassilj», sagte der Major.

«Wie Durchlaucht meinen», antwortete der Russe.

Eine Woche später liess Pjotr Ivanowitsch Baranow Vitus von Fenzlau zu sich bitten. Als er die Amtsstube des Festungskommandanten betrat, stand der Oberst, die Arme auf dem Rücken verschränkt, am offenen Fenster und beobachtete, wie im Hafen ein Frachtensegler entladen wurde. «Sie bringen Vorräte und Waffen für unsere Sommerfeldzüge, Herr Major», sagte er und drehte sich um. «Ich wollte heute mit Ihnen über unsere diesjährigen Operationen im Gebirge sprechen. Aber höheren Orts hat man offenbar andere Pläne.» Er ging zu seinem Tisch und reichte ihm ein Blatt Papier. Der russische Doppeladler mit Krone, Zepter, Reichsapfel und auf dem Brustschild Sankt Georg, der den Lindwurm durchbohrt, wiesen den Brief als offizielles Schreiben aus. Herr Baron von Fenzlau werde gebeten, sich so bald als möglich im Stabsquartier der Kaukasusarmee zu melden, man benötige seine Dienste, stand da. Unterschrieben war es von Theodor Dreyling, Generalmajor.

«Herr Baron?» Baranow, dessen Haut grobporig und von roten Äderchen durchzogen war, sah ihn aus seinen entzündeten Augen an. Fragend? Vorwurfsvoll? Seine Hände zitterten. Als er von Fenzlaus Blick bemerkte, legte er sie auf die Lehne seines Stuhls.

«Mein Vater ist gestorben. Ich habe den Titel geerbt», sagte Vitus.

«Darauf müssen wir anstossen!» Nicht: «Mein Beileid!», sondern: «Darauf müssen wir anstossen.» Baranow holte aus der Tiefe seines Aktenschranks eine Flasche Wodka und füllte zwei Gläser bis zum Rand. «Auf Ihre Karriere!», sagte er. Er leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich nach. Er schien nicht zu bemerken, dass der Major den Schnaps nicht anrührte. «Man holt Sie in den Generalstab. Einem wie Ihnen steht die Welt offen, während unsereiner in diesem Dreckloch vermodert.»

Von Fenzlau schwieg. Was sollte er diesem verbitterten Menschen antworten, der nichts anderes als den schmutzigen Krieg im Nordkaukasus kannte und darüber zum Säufer geworden war? Es war ein Wunder, dass er selbst nicht der Versuchung erlegen war, das Entsetzen, das ihn manchmal angesichts brennender Dörfer und gemetzelter Frauen und Kinder packte, in Strömen von Alkohol zu ertränken. Der Major trat ans Fenster. Der Himmel war bedeckt. Hinter den Wolken liess sich die Sonne nur erahnen. Im diffusen Licht sah die See aus wie flüssiges Blei. Ihm schien, als liege eine düstere Melancholie über diesem Land am Ufer des Kaspischen Meers. Er war erleichtert, Derbent, wo sich Menschen wie Baranow zugrunde richteten, nach neun Jahren hinter sich lassen zu dürfen.

«Auf Befehl von Generalmajor Dreyling soll Euch die Eskadron von Rittmeister Jegorow nach Tiflis begleiten», unterbrach der Oberst Vitus’ Gedankengänge. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. «So verliere ich nicht nur einen Bataillonskommandanten, sondern auch eine Einheit meiner fähigsten Leute!»

Damit hatte er recht. Die Männer von Juri Fedorowitsch Jegorow, einem Offizierskameraden, dem gegenüber von Fenzlau freundschaftliche Gefühle hegte, waren Kuban-Kosaken, Nachkommen geflohener Leibeigener und Gesetzloser, die sich in den südrussischen Steppen am Fuss des Grossen Kaukasus zu Gemeinschaften von Wehrbauern zusammengeschlossen hatten. Sie mussten sich gegen die Überfälle von muslimischen Tataren und asiatischen Reiternomaden verteidigen und erwarben sich dabei einen Ruf als gefürchtete Kämpfer, um deren Reitkünste sich Legenden rankten. Anders als die ins Militär gepressten Leibeigenen waren sie seit Generationen freie Krieger, die für ihren Einsatz mit Steuererleichterungen und einer gewissen Autonomie entschädigt wurden. Sie galten als wild und brutal. Spätestens nachdem sie beim Rückzug Napoleons aus Russland anno 1812 unter den Soldaten der Grande Armée Angst und Schrecken verbreitet hatten, waren ihre Reiterverbände für die Zaren unverzichtbar. Unter ihrem Schutz würde von Fenzlau auf dem Ritt durch das Gebiet der feindlichen Bergtataren so sicher sein wie in Abrahams Schoss.

Die grusinische Braut

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