Читать книгу Die grusinische Braut - Werner Ryser - Страница 8
2
ОглавлениеAm 18. August 1828 traf ein Kurier in Katharinenfeld ein und übergab Oberst Dreyling einen Brief. Vitus, der mit seinem Onkel ein Glas Cognac getrunken hatte, schaute zu, wie der Kommandant das Siegel studierte. «Aha, Iwan Fjodorowitsch, Graf von Jerewan, gibt sich die Ehre», knurrte er und riss den Umschlag auf. Dann vertiefte er sich in das Schreiben von General Paskewitsch, den der Zar nach seinem Sieg über die Perser in den Grafenstand erhoben hatte.
«Es geht gegen die Türken.» Dreyling liess das Blatt sinken und schaute seinen Neffen an. «Er will Alchaziche stürmen. Unser Regiment soll spätestens am 25. dort sein.» Er stand auf und studierte, die Hände auf dem Rücken, die Karte Transkaukasiens, die an der Wand hing. Er kniff die Augen zusammen, rechnete. Dann gab er sich einen Ruck. «Ihr trommelt die Bataillonskommandanten zusammen, Herr Leutnant!», befahl er. «In einer halben Stunde ist Befehlsausgabe. Morgen werden wir marschieren.»
Herr Leutnant. Vitus begriff. Die schönen Tage von Katharinenfeld waren vorbei. Er war wieder Adjutant. Man würde in einen neuen Krieg ziehen. Diesmal gegen die Türken. Natürlich. Als orthodox-christlicher Schutzherr unterstützte der Zar die aufständischen Griechen in ihrem Unabhängigkeitskampf gegen den Sultan. Im Juni hatten die Russen im Balkan die Donau überschritten und die Walachai erobert. Jetzt belagerten sie osmanische Festungen in Bulgarien. Offenbar hatte man höheren Orts beschlossen, in Transkaukasien eine zweite Front zu eröffnen.
Begleitet von den scheppernden Tönen der Regimentsmusik brachen sie am nächsten Tag in aller Frühe Richtung türkische Grenze auf: vier Infanteriebataillone, zweieinhalbtausend Soldaten in Viererkolonnen, das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett geschultert, auf dem Rücken den schweren Tornister. Neben ihnen, hoch zu Ross, die Offiziere. Am Schluss der Kolonne, gedeckt von vier Eskadronen Kosaken, der Tross: schwere Wagen, vor die man je sechs kräftige Gäule gespannt hatte. Sie waren beladen mit Proviant, Zelten, Waffen, Munition, Ersatzuniformen und dem Gepäck der Offiziere. Ferner einige Marketenderinnen, die auf ihren Karren jene kleinen Dinge mit sich führten, von denen ein Soldat glaubt, nicht ohne sie leben zu können: Schnaps, Tabak, Süssigkeiten und vieles mehr. Eine Gruppe Huren war auch dabei. Sie zogen den Männern den spärlichen Sold aus den Taschen und spendeten ihnen dafür die Illusion von Freude oder Trost. Je nachdem.
Unter der glühenden Augustsonne marschierte das Regiment durch die Graslandschaft am Fuss der Ausläufer des Kleinen Kaukasus. Jetzt im Hochsommer war die Zeit der zweiten Heuernte. In langen Reihen schritten die Mäher mit entblösstem Oberkörper durch die Wiesen. Unter ihren Sensen, mit denen sie im Gleichtakt weit ausholten, fiel das Gras, das von Mägden mit langen Rechen zum Trocknen gezettet wurde. Der Anblick der Landleute erinnerte Vitus an den Gutshof seines Vaters. Er lag an einem von Birken umstandenen Moorsee, unweit von Segewold, einem kleinen Städtchen, inmitten einer weiten, bewaldeten Hügellandschaft, durch die sich die livländische Aa ihren Weg zum Rigaer Meerbusen suchte.
Vitus’ Mutter, Amalie von Fenzlau, hatte dort mit ihren Söhnen jeweils die Sommerfrische verbracht. Wenn der Hauslehrer ihn und Gregor am frühen Nachmittag aus dem Unterricht entlassen hatte, pflegte sich Vitus auf dem väterlichen Hof herumzutreiben. Er half mit, wenn die Bauern, die Baron von Fenzlau Frondienst schuldeten, das Gras für die Winterfütterung des Viehs einbrachten. Er sah ihren Frauen und Töchtern zu, die morgens und abends die hundert Kühe melkten, und er stand neben Karl Schüpbach, wenn dieser die erwärmte und geronnene Milch mit der Käseharfe im grossen Kessel, der am Turner hing, verrührte.
Schüpbach, ein untersetzter kräftiger Mensch mit einem stets geröteten Nacken, war für die von Fenzlaus der Schweizer, wie die Balten den Beruf des Senns bezeichneten. Er war zuständig für die Überwachung der Herde, und er verarbeitete die Milch zu Butter und Käse, goldgelbe, kreisrunde Emmentaler, die vom Baron mit gutem Gewinn nach Sankt Petersburg verkauft wurden, wo man sie, wie es hiess, am Zarenhof schätzte. Das mochte wahr sein oder nicht. Schüpbach jedenfalls platzte fast vor Stolz, als er Vitus einmal verriet: «Dr Cheiser frisst myn Chäs.» Vitus, der sich häufig im Stall und im Käsekeller herumtrieb, verstand inzwischen, zumindest teilweise, den Dialekt des Senns, von dem die Baronin behauptete, er sei eine unmelodische Abfolge von Krachlauten.
Einmal, Vitus stand kurz vor seiner Abreise nach Sankt Petersburg, wollte er vom Käser wissen, weshalb er 1810 seine Heimat verlassen habe und seither in Livland lebe.
«Wegen dem Näppi», erklärte Schüpbach kurz angebunden.
Näppi – wieder so ein schweizerdeutscher Ausdruck. Vitus musste nachfragen, bis er begriff, dass Napoleon gemeint war.
«Die Eidgenossenschaft war verpflichtet, diesem Blutsäufer jedes Jahr sechzehntausend junge Männer für seine Armee zu stellen», empörte sich Schüpbach. «Kaum einer ging freiwillig. Und so liess man das Los entscheiden. Wenn es einen Reichen traf, so konnte er sich freikaufen. Das war ganz einfach. Er musste nur einen Habenichts finden, den er dafür bezahlte, dass er für ihn die Haut zu Markte trug. Die Not war gross. Viele hatten keine Arbeit. Manche litten Hunger. Da war es besser, das Geld zu nehmen, das den Angehörigen für ein paar Monate das Überleben sicherte, als darauf zu warten, dass einen das Los im nächsten Jahr selber traf und man gratis sterben musste.»
«Und damit du dich nicht totschlagen lassen musstest, bist du aus der Schweiz ausgewandert?», wollte Vitus wissen.
Der Senn fasste ihn unterm Kinn und zwang ihn, ihm in die Augen zu schauen. «Nein Bub, wann und wie wir sterben, liegt in Gottes Hand. Ich bin gegangen, weil ich niemanden totschlagen wollte. Meine Familie ist mennonitisch. Unser Glaube verpflichtet uns, keine Waffen zu tragen und den Kriegsdienst zu verweigern. Manche von uns werden deshalb ins Gefängnis geworfen, andere wandern aus. So wie ich.»
Wie das seine Gewohnheit war, wenn sein Regiment ins Feld zog, galoppierte Theodor Dreyling einmal im Tag seiner Einheit voraus, um vom rechten Strassenrand aus die Soldaten zu inspizieren, die an ihm vorbeimarschierten. Flankiert wurde er dabei von einem höheren Unteroffizier, der die Regimentsfahne neben sich in den Boden gerammt hatte, und von Leutnant von Fenzlau. In der Regel fand dieses Ritual am Nachmittag statt, wenn die militärische Zucht der Männer zu wünschen übrigliess, weil sie vom langen Marsch müde waren. Kerzengerade, seine Linke auf den Degen gestützt, sass der Oberst auf seinem Pferd und gab sich den Anschein, als fasse er jeden einzelnen seiner Soldaten, die auf ein scharfes Kommando ihrer Vorgesetzten den Kopf grüssend nach rechts warfen, ins Auge. Von Zeit zu Zeit knurrte Dreyling: «Vierte Kompanie, dritter von rechts im fünften Glied, ein Dutzend!» Oder: «Zwölfte Kompanie, im achten Glied, Flügelmann links, zwei Dutzend!»
Vitus fragte den vorgesetzten Korporal nach dem Namen des Betroffenen, notierte die Anweisungen des Obristen in sein Notizbuch und versäumte nicht, am Abend den zuständigen Kompaniekommandanten daran zu erinnern, dass ein Unteroffizier dem Unglücklichen mit der Knute den nackten Hintern zu verstriemen habe. Die Kameraden schauten zu und wetteten um ein Glas Wodka, ab welchem Streich der Delinquent zu schreien anfange. Alle schrien, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, denn für den Mann, der die Exekution durchführte, war dies eine Frage der Ehre.
Anfänglich hatte Vitus versucht herauszufinden, nach welchen Kriterien der Oberst die Männer bestrafen liess, bis er realisierte, dass es sich um reine Willkür handelte. «Ich will für meine Leute ein Exempel statuieren», hatte der Onkel seine Frage beantwortet. «Keiner soll sicher sein, am Abend nicht verprügelt zu werden. Wenn mich die Kerle nicht mehr fürchten als den Feind, dann taugen sie nicht für die Schlacht.»
Kein einziger von ihnen war freiwillig beim Militär. Der Zar brauchte Kanonenfutter, Männer, die für ihn starben. Es waren Leibeigene, die irgendeinem Gutsbesitzer gehört hatten. Junge Burschen, die keine gute Arbeit leisteten oder widerspenstig waren, wurden für fünfundzwanzig Jahre in die Armee abgeschoben. Damit sie unterwegs nicht davonliefen, trugen manche Ketten, wenn man sie dem Regiment zuführte, in dem sie zu dienen hatten. Dort brachte man den zum Waffendienst gepressten Kreaturen bei, wie man erhobenen Hauptes in den Tod marschiert, wie man schiesst und dem Feind mit dem aufgepflanzten Bajonett den Bauch aufschlitzt.
Als Soldaten galten sie vor dem Gesetz zwar als frei. Tatsächlich aber waren sie von nun an Untertanen ihres Regiments, und es verging kein Tag, an dem nicht einer von ihnen für ein geringfügiges Vergehen von irgendeinem Offizier mit dem Stock gezüchtigt oder vom Profos ausgepeitscht wurde.
Selber in einem aristokratischen Haus aufgewachsen, machte sich der junge von Fenzlau wenig Gedanken über die Niedriggeborenen. Sie waren dazu da, dem Adel zu dienen. Sie galten als ungebildet und unkultiviert. Man betrachtete sie als eine Art unmündige Kinder, die man eben bestrafen musste, wenn sie ungehorsam waren.
Oberst Dreyling, der in Sankt Petersburg ein grosses Haus besass, hatte sich im Balkan, wo sich die Russen seit hundert Jahren mit den Osmanen herumschlugen, Stufe um Stufe bis zum Regimentskommandanten hochgedient. In der Familie nannte man den einen Meter neunzig grossen und weit über hundert Kilogramm schweren Koloss respektvoll «Türkenschreck». Wenn er, selten genug, seine Verwandten in Riga besuchte, brach er wie ein Unwetter ins Haus von Vitus’ Eltern an der Jekaba ielea ein: laut, lärmend – eine Urgewalt. Er ass Unmengen, die er mit reichlich Alkohol hinunterspülte, kniff seine beiden Neffen in die Wangen und die Mägde in den Hintern. In weinseliger Stimmung begann er Geschichten von aufgeschlitzten Türken, von Hurenweibern und Hurenböcken zu erzählen, worauf die Mutter ihre beiden Söhne schleunigst in ihre Zimmer verbannte.
Während seiner Zeit in der Kadettenanstalt verbrachte Vitus seine freien Tage im Haus der Dreylings am Newskij Prospekt, unweit der Brücke, welche die Fontanka überquerte. Der Onkel war selten zuhause. Meist befand er sich im Krieg gegen die Türken oder die Perser. So blieb es Leonore, seiner jungen Frau, überlassen, sich um den Neffen zu kümmern. Mit den Kindern der Dreylings konnte Vitus wenig anfangen. Seine beiden Cousinen, die Zwillinge Charlotte und Carolina, waren dreizehn Jahre jünger als er, und ihr kleiner Bruder Adrian musste noch gewickelt werden.
Als die Baronin von Fenzlau einmal in Sankt Petersburg zu Besuch war, hörte Vitus, wie seine Mutter dem Onkel sagte, dass sie, falls er nichts dagegen einzuwenden habe, in Erwägung ziehe, zwischen ihrem Sohn und einer seiner beiden Basen, sobald sie mannbar sein würden, eine Heirat zu arrangieren. Vitus, der Lini und Lotti nicht auseinanderhalten konnte, betrachtete amüsiert die damals Dreijährigen und versuchte sich vergeblich vorzustellen, wie sie wohl im Brautkleid aussehen würden. Er vergass das Gespräch wieder. Erst als ihm der Onkel nach dem Abschluss der Ausbildung an der Kadettenanstalt eine Offiziersstelle in seinem Regiment anbot und andeutete, dass er für eine rasche Beförderung sorgen werde, erinnerte sich Vitus an die Heiratspläne seiner Mutter. Die Aussicht, eines fernen Tages Schwiegersohn eines Obristen zu werden, den der Zar möglicherweise noch zum General machen würde, war allerdings nicht der Grund dafür, dass er das Angebot des Onkels annahm. Es war vielmehr schiere Abenteuerlust, die Vitus den Entscheid leicht machte. Das Regiment Dreyling erhielt damals, im März 1826, den Befehl, in Transkaukasien erneut gegen die Perser ins Feld zu ziehen. Im Krieg von 1804 bis 1813 hatte man sie bereits geschlagen, aber jetzt wollten sie ihre damals verlorenen Gebiete zurückerobern.
Vitus sollte seinen Entschluss nicht bereuen. Er liebte es, auf seinem Pferd neben der Truppe zu reiten, wenn sie singend in den Krieg zog. Er liebte es im Freien zu kampieren, umsorgt von Offiziersburschen, die darauf gedrillt waren, ihren Vorgesetzten, den sie als «Eure Durchlaucht» anzusprechen hatten, jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Er liebte das Kartenspiel und die Besäufnisse mit seinen Kameraden. Er liebte es, mit kaukasischen Mädchen anzubandeln, die bereit waren, sich ihm für wenig Geld hinzugeben, und er liebte das prickelnde Gefühl einer bevorstehenden Schlacht.