Читать книгу Die grusinische Braut - Werner Ryser - Страница 9
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ОглавлениеAm 24. August 1828, fünf Tage nach dem Aufbruch in Katharinenfeld, erreichte das Regiment Minazde. Das Dorf lag an einem Berghang über der Kura, die sich hier in weitem Bogen nach Osten wandte. Auf der anderen Flussseite vor Alchaziche breitete sich eine Ebene aus. Oberst Dreyling war angewiesen worden, sich in Minazde mit seinem Regiment in Bereitschaft zu halten, bis der Befehl zum Sturm auf die Stadt erfolgen würde. Man errichtete das Lager. Die Männer, die vom Kommandanten im Verlauf des Tages dazu verurteilt worden waren, wurden verprügelt. Anschliessend verpflegte sich die Truppe, und es wurden Wachen aufgestellt. Im Übrigen war man froh, dass man sich vor der Schlacht von den Strapazen des Marsches erholen, die Waffen in Ordnung bringen und im Fluss die verschwitzten Kleider waschen konnte.
Wenn Vitus von Fenzlau später über die Schlacht von Alchaziche sprach, schilderte er sie so, als habe er das Geschehen als unbeteiligter Zuschauer beobachtet. Was in gewisser Weise auch zutraf. Als Flügeladjutant hielt er sich in der Regel weit hinter der Front auf und wurde lediglich manchmal nach vorn zu einem der vier Bataillonskommandanten geschickt, dem er eine Order des Obristen zu überbringen hatte. Aber auch jene pflegten ihre Gefechtsstände im sicheren Bereich hinter der Kampfzone einzurichten.
Am 27. August ritt Vitus um vier Uhr in der Früh mit dem Onkel über die Brücke, die Pontoniere über die Kura geschlagen hatten. Am Westufer inspizierte der Oberst die Gefechtsbereitschaft seiner Bataillone. Die Soldaten in ihren weissen Hosen und den grünen Uniformröcken mit dem Kreuzbandelier, an dem die Patronentaschen und das Seitengewehr hingen, standen stramm, als Dreyling, gefolgt von ein paar Offizieren, langsam an ihnen vorbeiritt. Vitus betrachtete die verschlossenen, angespannten Gesichter der Männer. Plötzlich fiel ihm ein, dass mancher von ihnen den Tag nicht überleben würde. Er scheuchte den Gedanken wie eine lästige Fliege beiseite.
Zwei Stunden später, kurz vor Sonnenaufgang, begann die Feldartillerie, die während der Nacht in Stellung gebracht worden war, Alchaziche mit einem gewaltigen Bombardement unter Beschuss zu nehmen. Es war, als habe die Hölle ihren Schlund aufgetan. Vitus stand neben seinem Onkel auf dem Dach ihrer Unterkunft, von wo aus sie den Kampf durch ihre Fernrohre beobachteten. Er hörte das Donnern und Brüllen der Kanonen, die den Tod aus ihren Rohren spien. Er sah, wie Häuser in Flammen aufgingen. Er sah, wie lange Menschenkolonnen die brennende Stadt verliessen. Er sah das Mündungsfeuer und den Pulverdampf, der zeitweise die Türme der Festung und die Kuppel der grossen Moschee in einen grauen Schleier hüllte. Er stellte sich vor, wie die Erde unter dem Rückstoss der Geschütze, die sich auf die Lafetten übertrug, zitterte. Dann vernahm er die Trommelwirbel, welche die langgezogenen grünweissen Reihen der Soldaten vorwärtstrieb. Durch sein Fernrohr sah er, wie das Stadttor geöffnet wurde und eine türkische Kavallerieeinheit mit gezogenen Krummsäbeln und gefällten Lanzen die Russen im Galopp frontal angriff.
«Bildet endlich eure Karrees!», knurrte der Oberst, und als ob sie ihn gehört hätten, formierten die Infanteristen, wie sie das in endlosen Exerzierstunden geübt hatten, fünf Gevierte. Die Männer der äussersten Reihe knieten, jene hinter ihnen standen. Die aufgepflanzten Bajonette auf ihren Gewehren bildeten einen Stachelwall, vor dem die Pferde der Muselmanen scheuen würden. Die Offiziere im Zentrum der Verteidigungsstellungen konnten warten, bis der Feind nah genug war. Jede Reihe hatte nur einen Schuss. Für einen zweiten war die Zeit zu knapp. Es dauerte zu lange, bis das Schwarzpulver in den Lauf der Vorderladermusketen geschüttet und die Kugel mit dem Ladestock hinterhergestopft war.
Vitus hörte die Salve, welche die Russen auf den anstürmenden Feind abfeuerte. Er sah, wie zahlreiche Pferde stürzten, wie reiterlose Tiere in Panik gerieten und ziellos über das Schlachtfeld galoppierten. Ohne sein Fernrohr vom Auge zu nehmen, befahl ihm der Oberst, die Bataillonskommandanten anzuweisen, die Karrees aufzulösen. Die Hälfte der Einheit solle in zehn Reihen zu je hundertfünfzig Mann gegen die türkische Infanterie vorrücken, die sich vor der teilweise zertrümmerten Stadtmauer aufgestellt hatte und den Feind erwartete. «Der Rest bleibt vorderhand als Reserve zurück. Reiten Sie endlich los, Herr Leutnant!», schrie Dreyling.
Vitus stieg auf seinen Kabardiner und gab ihm die Sporen. Als er seinen Auftrag erfüllt hatte und über die Brücke nach Minazde zurückkehrte, sah er, dass die Männer seines Regiments bereits auf den Feind zumarschierten, wie sie etwa siebzig Meter vor ihm stehen blieben und die inzwischen wieder geladenen Gewehre auf ihn anlegten. Eine kleine Ewigkeit lang standen sich die Russen und Türken gegenüber. Dann zerrissen zwei Salven die Stille. Auf beiden Seiten fielen zahlreiche Männer. Für Vitus sahen sie aus, wie die Figuren auf einer Kegelbahn. Er wusste: Jetzt würde das grosse Hauen und Stechen beginnen. Muslime und Christen würden aufeinander losgehen, die einen mit dem Krummsäbel, die anderen mit dem aufgepflanzten Bajonett. Man würde sich gegenseitig niedermetzeln, bis zum bitteren oder glorreichen Ende.
Es war ein gewaltiges Ringen, und es dauerte den ganzen Tag. Schritt für Schritt drängte die russische Infanterie, unterstützt von kosakischen Reiterverbänden, die Türken zurück. Am späten Nachmittag endlich hatte die Armee General Paskewitschs die Stadtmauer überwunden und die Kanonen der Verteidiger schwiegen. Als die Sonne hinter den dunklen Kämmen des Messchetischen Gebirges versank, wurde auf der Festung die weisse Fahne gehisst. Achalziche war gefallen.
Jetzt entschloss sich Oberst Dreyling, mit seinen Offizieren in die eroberte Stadt zu reiten. Das Schlachtfeld, das sie überqueren mussten, war vorher fruchtbares Ackerland gewesen. Die Menschen, die hier lebten, hatten seit dem Frühjahr mit schmerzenden Rücken und Schwielen an den Händen für ihr tägliches Brot geschuftet. Die Früchte ihrer Arbeit würden ihnen jetzt die Sieger nehmen.
Die ganze Ebene war mit den Leichen unzähliger, zum Kriegsdienst gepresster junger Männer bedeckt. Sie hatten sich gegenseitig massakriert und lagen nun in verdreckten und blutigen Uniformen herum. In teils grotesken Verrenkungen schienen sie über die mit Orden behangenen Höheren, die an ihnen vorbeizogen, zu spotten. Keiner von denen würde sie je wieder krummschliessen lassen, zu einer Prügelstrafe verurteilen oder nach ihrem Gusto persönlich züchtigen können. Genau gleich wie die Kadaver der Pferde von Freund und Feind lagen auch die toten Russen und Türken einträchtig auf den abgeernteten Feldern, in Gebüschen und Bächen. Vitus bemühte sich, sein Pferd nicht in Blutlachen treten zu lassen, auch nicht auf die abgetrennten Arme und Beine und die abgeschlagenen Köpfe, die überall herumlagen. Wie der Abfall in einem Schlachthof, dachte der Leutnant. Was irgendwie auch stimmte. Und auch hier flatterten Schwärme von Raben krächzend über dem Festmahl, das ihnen die Menschen bereitet hatten.
Noch schlimmer als der Anblick der verstümmelten Leichen waren die Hilferufe, das Stöhnen und Wimmern der zahllosen Verwundeten. Es war die Musik zum makabren Totentanz, den Zar Nikolaus im fernen Sankt Petersburg und Sultan Mahmut II. in Istanbul ausgerichtet hatten. Vitus sah junge Burschen, die noch nicht gestorben waren, obwohl ihnen die feindlichen Säbel und Bajonette den Bauch aufgeschlitzt hatten. Er sah Gesichter, die eine einzige Wunde waren, Männer mit abgehackten Gliedmassen, deren Stümpfe jemand notdürftig abgebunden hatte, damit sie nicht sofort verbluteten. Überall machten sich Unversehrte zu schaffen: Musiker der Regimentskapelle, die jetzt als Sanitäter eingesetzt wurden, und Bauernweiber aus der Umgebung. Sie mühten sich ab, die verletzten Männer, von denen viele weinten wie Kinder, auf Karren und Bahren, manchmal auch auf ihren Schultern nach Alchaziche zu bringen, in die Moscheen, die Kirchen und die Synagoge, die als Lazarette dienten, wo es den Pflegern an Verbandzeug, Medikamenten und Wasser mangelte und die Ärzte, mitten im Gestank von Wundbrand, Eiter und Blut Gliedmassen amputierten, nur um das Leben und Leiden der Unseligen um ein paar Tage zu verlängern.