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Sri Sunray de la Moon, alias Odo Kratzmeyr

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Wütend und verzweifelt riss Kratzmeyr das allerletzte Plakat von der Wand in seiner armseligen Dachwohnung, das ihm noch verblieben war. Nein, nein - er wollte nicht mehr, nie mehr erinnert werden an die Vergangenheit, an die Zeit, als er noch auf der Bühne stand, als talentierter Schauspieler, kleine Rollen zwar, immerhin in „Wallensteins Lager“, im „Wilhelm Tell“, in Shakespeares „Hamlet“ oder Lessings „Nathan“. Die große Welt des Theaters - und die brutale Welt des Vergessenwerdens, alles hatte er erlebt. Den Absturz ins Tingeldasein, die Dorfbühnen „mit dem bekannten Schauspieler Odo Kratzmeyr“. Bekannt? Unbekannt! - kein Mensch kannte ihn, alles nur Werbung. Ja, Werbung auch: Stundenlang proben für „RheumaWeg!“. „Deine Krücken wirfst du weg, nimmst du endlich RheumaWeg!“ Dazu er in Lederhosen mit Wanderstock vor einer papiernen Alpenkulisse.

Heute bekam er wieder mal, wie es seine Mutter immer bezeichnet hatte, „das arme Tier!“. Es regnete. Vermischt mit ersten Schneeflocken. Der Spätherbst zeigte sich nun von seiner grimmigen Seite. Die ach so goldenen Blätter, jetzt schlug es sie in den Matsch. Was sollte er anziehen? Den stockigen Mantel aus der Kleidersammlung vom letzten Jahr, inzwischen zwei Nummern zu groß? Die ausgelatschten Schuhe mit den Löchern in der Sohle? Hartz Vier - fürs arme Tier!

Odo Kratzmeyr war mal wieder auf dem Tiefpunkt angelangt. Wofür eigentlich noch leben? Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Die Künstlersozialversicherung - ach, wie toll hatte sich die Summe angehört, die er sich auf den Rat eines sogenannten Kapitalanlageberaters hatte auszahlen lassen! Investiert bei einer schweizer Bank! Was Sichereres gäbe es weltweit nicht! Und noch einen Fonds bei Lehman Brothers! Wenn die pleite gehen würden, hatte der Kapital-Fuzzy ihm in die Ohren geblasen, dann geht die ganze Welt pleite! Wie recht er doch hatte! Alles war weg! Alles! Und nun war Odo Kunde bei der „Tafel“, bei Caritas in der Kleiderkammer. Und dennoch: Es reichte einfach nicht. Er konnte nicht kochen, das hatte er nie gelernt, nicht mal Bratkartoffeln. Zweimal in der Woche ein Billigmenu im Wirtshaus - auch das reißt ein Loch ins Portemonnaie. Und nun noch die Kälte, die Nässe, der Regen, der auf das schräge Fenster in der Dachluke prasselte.

Odo Kratzmeyr war entschlossen, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Ins tiefe Treppenhaus runterspringen? Sich einfach zu weit übers Geländer beugen? Er würde den Hausbewohnern Arges zufügen. Vielleicht in voller Kleidung in den Eisbach springen, vorne am „Haus der Kunst“? Oder dort, wo die Surfer um Aufmerksamkeit buhlen? Sich auf die Mauer setzen und ab? Kopfsprung wäre das sicherste. Man schlägt auf und ist gleich bewusstlos.

So trippelte er durch den Englischen Garten, mutlos, ziellos, und sogar zu feige, um den letzten Schritt zu wagen. Genehmigte sich ab und zu einen Schluck aus einer letzten kleinen Wodkaflasche. Ein Hund, ein Wolfsspitz, raste auf ihn zu. „Der will nur spielen!“ rief eine Frau. Jetzt, bei diesem Wetter, waren ja nur noch Hundeliebhaber und Gesundheitsfanatiker unterwegs. Ach hätte er doch wenigstens einen Hund wie die Penner am Stachus, dachte er.

„Sheila! Sheila! Komm! Lass doch den Mann in Ruhe!“

Aber Sheila schnupperte an ihm rum, schaute zu ihm auf. Vielleicht verwechselte er ihn mit einem Bär, mit seinem Zottelbart und seinem ungebändigten, strähnig langen Haar. Einen Friseur hatte er sich schon monatelang nicht mehr geleistet.

„Ach lassen Sie doch! Wenigstens ein Hund, der sich für mich interessiert!“

„Odo?“ Die feine Dame richtete plötzlich ihr ganzes Augenmerk auf ihn. „Odo? Bist du es?“

Er erstarrte. Wer sollte ihn kennen? Wer sollte ihn erkennen? Diese etwas aufgetakelte, überschminkte Alte? So wie er aussah, war er doch für niemanden mehr zu erkennen?

„Odo Kratzmeyr? Der Kratzi? Ja, ist denn das die Möglichkeit? Odo, erkennst du mich nicht mehr? Esmeralda Kleeblatt! Dämmert es dir nicht?“

Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen! „Esmeralda? Du? Hier im Englischen Garten? Und du .... wie hast du mich erkannt? Esmeralda!“ Er wollte ihr um den Hals fallen. Aber so dreckig, nach Fusel stinkend, ungewaschen, unrasiert, da schreckte er doch im letzten Moment zurück.

„Ich habe deine Stimme erkannt! Die habe ich noch genau im Ohr!“

Nun, Herr Wachtmeister?“ fragt Franziska .... und wie geht es weiter?

Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, wenn ich wieder komme, soll ich auch geputzter kommen?

Komm er, wie er will, Herr Wachtmeister; meine Augen werden nichts wider ihn haben. Aber meine Ohren werden desto mehr auf der Hut gegen ihn sein müssen!“

„Minna von Barnhelm! Siehst du, meine Ohren waren auf der Hut! Wann war’s? Hundert Jahre her? Dein Frauenzimmerchen, diese verschmitzte Tonlage, die werde ich nie vergessen!“

„Aber ich würde gern geputzter wiederkommen!“ Kratzmeyr schämte sich für sein Aussehen, jetzt, vor der Esmeralda, vor Franziska, vor dem Frauenzimmerchen.

„Odo, dir geht’s nicht gut, nicht wahr? Du bist in Not?“

„Kleeblättchen, ehrlich gesagt, mir geht’s beschissen. Und das ist noch kein Ausdruck!“

„Ich sehe es dir an, mein lieber Freund, Wachtmeisterchen! Ich glaube, es wird das Beste sein, ich nehme diesen Wachtmeister erstmal ins Schlafittchen und schleppe ihn zu mir ab.“

Und so geschah es. Dass sie sich nicht schon viel früher getroffen hatten, grenzte an ein Wunder. Sie wohnten ja kaum drei Straßenzüge von einander entfernt in Schwabing.

Es wurde ein vergnügter Abend. „Unverhofft kommt oft!“ dachte Kratzmeyr, als er sich durchgerungen hatte, Esmeralda, sein Kleeblättchen, darum zu bitten, bei ihr duschen zu dürfen.

Als er dann nach einer halben Stunde aus dem Badezimmer kam, die Haare und den Bart gewaschen und trocken geföhnt, sah er aus wie ein Waldschrat!

„Nein, Odo, weißt du, wie du aussiehst? Wie ein Guru! Wenn ich dir noch deine wunderbaren silbergrauen Haare in einen langen Zopf flechte, könntest du gut einen Geistheiler abgeben.“

Esmeralda kredenzte einen Dornfelder nach dem anderen. Sie schwelgten in Erinnerungen! Emilia Galotti! Nathan! “Weißt du noch ....?”

„Und was machst du jetzt!“

„Ich bin am Ende! Ich stecke ganz tief in der Sch....! Hartz IV! Essen von der Tafel! Kleidung von Caritas! Ich bin schon betteln gegangen, traue ich mich kaum zu gestehen! Und in der Lunge habe ich es wohl auch. Aber ich kann ja zu keinem Arzt gehen!“

„Das müssen wir ganz, ganz schnell ändern!“

„Wie willst du das ändern? Ich bin 73! Das Arbeitsamt hat mich längst ausgesteuert! Mit 73, wenn einer nicht Beamter ist oder sonstwie versorgt, dann landet man in der Gosse. Man ist der letzte Dreck!“

„Nicht mit Esmeralda Kleeblatt, mein lieber Kratzi! Ich habe da nämlich eine ganz, ganz tolle Idee. So einer wie du, für den weiß ich was. Bitte lach’ nicht, es ist keine Schnapsidee: Du musst in den Seniorenknast!“

„Kleeblättchen, du spinnst! Was soll denn das sein? In den waas?“

„Das ist eine Sonderstrafanstalt für alte Männer wie dich, zumal wenn sie nicht gesund sind! Wenn du da erstmal drin bist, hast du auf Staatskosten ausgesorgt für dein ganzes Leben: Vollpension, Krankenpflege, Psychotherapie, Fango und Massage, kreatives Schaffen, Feldenkrais, und du kannst dir noch was dazu verdienen für Zigaretten oder so! Ich habe da schon jemanden untergebracht!“

„Da muss man doch aber tüchtig was verbrochen haben! Kaufhausdiebstahl, Zechprellerei, Schwarzfahren, Tankstellenüberfall - das alles reicht ganz bestimmt nicht. Dafür kriegt man nur Bewährung. Da muss man schon jemanden umbringen!“

„Na ja, nicht so direkt, eher indirekt!“ Esmeralda schenkte ihm noch einen Dornfelder ein.

„Wie das?“

„Also ich sagte doch schon: Du siehst aus wie ein Guru! Wie ein indischer Geistheiler! Da liegst du voll im Trend! Wer geht zum Geistheiler? Die Verzweifelten! Die Austherapierten! Denen kein Arzt und keine Wunderklinik mehr helfen können. Die sterben sowieso! Homöopathie? Liegt auch im Trend, weil die Leute Angst haben vor der Chemie! Nichts hat geholfen, keine Pillen, keine Spritzen, nicht mal Globuli. Also letzte Ausfahrt: Geistheiler! Handauflegen! Das ganze Brimborium! Du musst natürlich einen anderen Namen bekommen, aber das bist du ja von der Schauspielerei gewöhnt. Warte mal, ich habe mal bei einem Kabarett mitgespielt. Da haben wir so einen Guru auftreten lassen, der hieß ....“

Esmeralda wühlte in einer Schublade. „Hier ist es, das Programm von damals, der hieß ‚Sir Sunray de la Moon“ und war so ein Management-Guru. Der hat ‚Management by Stardust’ verkauft, Stardust wie Sterntaler, die er vom Himmel herab versprochen hat. Den taufen wir jetzt ganz geringfügig um. Du bist ab sofort ‘S r i Sunray de la Moon’! Toll! Super! Wir hüllen dich in wallende weiße Gewänder! Eine großartige Rolle für dich, mein lieber Kratzi!“

„Aber ich habe sowas noch nie gemacht!“

„Kein Problem, ich kenne da eine alte Dame, die kennt sich damit aus. Da gehst du einfach hin, sagst, du hättest immer so Kopfweh, Tabletten helfen nicht, und das zieht runter bis sonstwohin, unerträglich, du wolltest dir schon das Leben nehmen und sie sei nun deine letzte Rettung. Das zahle ich für dich!“

„Und womit verdienst du dein Geld, Kleeblättchen? Immer noch Schauspielerei, Regie? Wenn ich mich hier so umsehe, geht es dir ja nicht schlecht, schöner Garten hinter dem Haus, sogar mit Springbrunnen und Putten. Und diese wunderbare Sheila, der wir unser Wiedersehen zu verdanken haben!“

Die Hündin hatte sich ihm zu Füßen hingekuschelt.

„Na ja, mit der Schauspielerei sieht es auch eher mau aus. Aber Regie führe ich in gewisser Weise. Nicht mehr am Theater, sondern im richtigen Leben. Da lehre ich arme Teufel wie dich, die Leute an der Nase herumzuführen und dabei gutes Geld zu verdienen.“

.... sucht nur die Menschen zu verwirren, sie zu befriedigen ist schwer!“

„Ja, ja, genau, der alte Goethe wusste schon Bescheid, und wie geht es weiter, das war zwar keine Frauenrolle, war aber stets meine Maxime:

Lasst uns auch so ein Schauspiel geben!

Greift nur hinein ins volle Menschenleben!

Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,

und wo ihr’s packt, da ist es int’ressant!“

Zwei arbeitslose Kolleginnen aus alten Zeiten sind jetzt als Märchenerzählerinnen unterwegs, als Vorleserinnen für einsame Menschen oder auch private Feiern. Da brauchst du nur wenige Requisiten, eine Klangschale, ein paar Zimbeln, eine Kerze, am besten noch ein türkisches Weihrauchkesselchen, eine dunkelrote Samtdecke - und fertig ist das Theater. Wird gut bezahlt!“

„Und was hast du davon?“

„Die verkaufen nebenher mein Heilwasser für mich. Teures Esmeralda-Heilwasser, angeblich feinstofflich angereichert, frei von sämtlichen Giften, die Atome durch Magnete und die Energien meiner Hände besonders energetisch ausgerichtet! Ist alles Quatsch, aber wer sich Märchen vorlesen lässt, lässt sich auch was vorgaukeln. Kannst du auch machen. Fülle ich hier im Keller ab, tolles Etikett drauf. Neun Euro die Flasche! Davon bekomme ich die Hälfte. Schwarz natürlich. Läuft wie geschmiert!“

„Und wenn es nicht hilft?“

„Würde doch niemand zugeben, dass er so doof war, daran zu glauben! Außerdem: feinstofflich ist so und so nicht nachweisbar!“

Esmeralda und Odo gerieten ins Schwärmen. Die Stunden flossen nur so dahin.

„Ich weiß auch schon, wie du dich vermarktest. Wir drucken Zettelchen, keine Visitenkarten, das wäre nicht geheimnisvoll genug, und du bist ja dann sooo bescheiden. Da schreiben wir drauf:

>Austherapiert?<

groß oben drüber. Als Blickfang!

Sri Sunray de la Moon reaktiviert Ihre durch die Pharmaindustrie zerstörten Lebensenergien! Kontakt nur über Esmeralda!“

„Und wie willst du die Zettelchen unter die Leute bringen?“

„Das ist ganz leicht. Da kenne ich einen Wirt im Glockenbach-Viertel. Und ein paar Szenekneipen in Haidhausen. Und in Bogenhausen klemmen wir die unter Scheibenwischer. Die finden mich schon!“

„Und wo soll ich meine Praxis aufmachen? Da braucht man doch Räume!“

„Da habe ich eine fabelhafte Idee: Eine Freundin von mir ist für ein Jahr in Indien. Die hat ein Atelier, nicht weit von hier. Das eignet sich ganz prima, weil die Fenster und Wände rundum mit Seidenmalerei verhängt sind. Wenn man da durch geht, dann wabert und wallt es! Kratzi - das wird eine tolle Sache!“

Trotz der dritten Flasche Dornfelder war Odo allerdings immer noch nicht klar, wie er nun in dieser Rolle Menschen um die Ecke bringen solle.

„Pass auf! Das geht so! Du versprichst ja, deine Patienten zu entgiften. Also lässt du dir gleich zu Anfang ein Dokument unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, mit Beginn der Behandlung sämtliche Medikamente sofort abzusetzen und wegzuwerfen! Und was passiert dann? Na klar - die sterben. Früher oder später sowieso. Die sind ja austherapiert. Natürlich kommt das raus. Das wollen wir ja. Du wirst verurteilt und kommst in den Seniorenknast. Basta! Ich hab’ da meine Verbindungen hin!“

Es ging auf Mitternacht zu. Kratzmeyr zog es überhaupt nicht in seine kalte Dachkammer. Esmeralda hatte überdies seine Schmutzwäsche längst in die Waschmaschine gestopft. Nicht ohne Hintergedanken. Im Bademantel würde er ihr nicht entkommen.

Als sie ins Schlafzimmer gingen, hatte Odo bemerkt, dass in den Nachttischlampen bereits Stromsparröhrchen zu sehen waren.

„Soll ich dir mal was zeigen, Kleeblättchen? Mach’ mal das große Licht aus. Guck’ mal, wenn ich mit meinen Händen so eine Stromsparbirne umfasse, beginnt sie zu flackern! Ohne eingeschaltet zu sein!“

„Mensch Kratzi, das ist ja Wahnsinn! Wenn du das deinen Patienten vorführst, dass du mit deinen Energien Lampen zum Leuchten bringen kannst, dann sind die sowas von überzeugt!“

„Aber das kann jeder!“

„Kratzi, erst nach der dritten Behandlung lässt du’s deine Patienten selber machen, und dann kannst du es auf deine Behandlung zurückführen!“

Als Odo Kratzmeyr am nächsten Morgen neben Sheila und Esmeralda aufwachte, rieb er sich seine Augen und murmelte vor sich hin:

„Das kann ja wohl alles gar nicht wahr sein!“

Endlich im Knast!

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