Читать книгу Rendezvous mit dem Tod - Warum John F. Kennedy sterben musste - Wilfried Huismann - Страница 14
Lee Harvey Oswalds Geheimnis
ОглавлениеAm letzten Tag der ersten Reise nach Mexiko gelingt dann ein unerwarteter Recherchedurchbruch: Zum ersten Mal treffe ich einen ehemaligen Offizier des kubanischen Geheimdienstes G-2. Er lebt seit Jahren unerkannt in Mexico City. Die meisten seiner Freunde und Verwandten wissen nicht, dass er früher Mitglied des kubanischen Geheimdienstes war. Ich habe über einen gemeinsamen Freund in Kuba Kontakt mit ihm aufgenommen. Nur deshalb hat er genug Vertrauen, um sich auf ein Treffen einzulassen.
Es ist die Nacht zum 2. November, Allerseelen. Die Einwohnerzahl Mexico Citys wird sich in den kommenden Stunden verdoppeln. Die Seelen der Toten verlassen ihre Gräber und machen sich auf den beschwerlichen Weg zu ihren Familien. Die Stadt hat sich für sie festlich geschmückt. In den Häusern warten Opferaltäre auf sie – gedeckt mit Blumen, Kerzen und den Lieblingsspeisen der Verstorbenen. Auch ein Stuhl wird ihnen hingestellt, damit sie sich ausruhen können. Damit sie sich auf dem Weg vom Friedhof nach Hause nicht verirren, haben die Angehörigen ihnen leuchtend gelbe Cempasúli-Blüten auf den Weg gestreut.
Ich warte im Zentralpark des Stadtteils Coyoacán auf Reynoso. Wird er kommen, oder im letzten Moment doch noch abspringen? Der Platz mit seiner kolonialen Architektur und den großen grünen Bäumen ist wie eine Oase des Friedens in dieser harten und lauten Stadt. Nur wenige Händler stören die Abendruhe: Sie verkaufen eilig ihre letzte Ware für die Nacht der Toten: Totenköpfe aus Zuckerguss, Marzipansärge und Skelette aus Draht und Plastik. Pünktlich zur verabredeten Zeit erscheint Reynoso.
Er hat Angst vor dem Gespräch, denn er muss dazu das lebenslang geltende Verbot überschreiten, niemals über Dinge zu sprechen, die er als Offizier des Geheimdienstes erfahren hat.
Reynoso betreibt ein kleines Geschäft für Haushaltselektronik und schlägt sich mit seiner Hände Arbeit durch. Er ist schon über achtzig Jahre alt, ein kräftiger Mann mit einem massigen galizischen Bauernschädel. Rente? Fehlanzeige. Die gibt es nicht für Aussteiger. Seinen kubanischen Stakkato-Akzent hört man kaum noch heraus, so sehr hat er sich seiner neuen Heimat angepasst. An sein früheres Leben als Archivar des kubanischen Geheimdienstes will er nicht gerne erinnert werden.
Sein Deckname beim kubanischen Geheimdienst G-2 war Reynoso. Er habe keine Angst um sein Leben, beruhigt er sich selbst, denn was er zu erzählen habe, sei zu wenig, um den Zorn seines ehemaligen Arbeitgebers zu wecken. Von wirklich geheimen Dingen wisse er nichts, denn er war lediglich Archivar des Geheimdienstes im Rang eines Sergeanten. Bei meiner Frage nach der Adresse des Archivs zuckt er zusammen: »Das darf ich nicht sagen, auf keinen Fall.« Überhaupt, er wisse eigentlich nichts. Und außerdem müsse er in fünf Minuten wieder weg, ein Kunde warte dringend auf eine Waschmaschinenreparatur.
Ich will wissen, ob er im September 1963 etwas vom Besuch Oswalds in der kubanischen Botschaft in Mexiko mitbekommen habe. Er schüttelt den Kopf. Als unbedeutender Archivar hätte er nichts anderes zu tun gehabt als Akten zu verschlüsseln. Die Kontakte mit den operativ tätigen Offizieren waren auf das notwendige Minimum beschränkt. Jeder misstraute jedem und in die Akten durfte er nicht hineinsehen.
Nur einmal habe er den Namen »Oswald« auf einer Akte gesehen, im Sommer des Jahres 1963. Also noch bevor Oswald nach Mexiko fuhr und dort in der kubanischen Botschaft auftauchte! Ich bin wie elektrisiert und frage nach, ob er sich wirklich sicher sei. Seine Antwort kommt ohne Zögern: »Ich hatte die Akte in der Hand. Auf ihr stand mit dickem Stift geschrieben: ›Lee Harvey Oswald‹. Ich musste sie verschlüsseln und im Archiv in der Abteilung ›ausländische Mitarbeiter‹ abheften. Das war im Sommer 1963, Ende Juni. Es kann auch Ende Juli gewesen sein. Auf alle Fälle in einem dieser Monate.«
»Warum haben Sie das Datum so genau im Kopf?«, frage ich erstaunt.
»Das ist doch klar. Es kam selten vor, dass Ausländer eine Personalakte hatten und als ich seinen Namen im November in allen Zeitungen las, war ich alarmiert. Die Akte war nicht besonders umfangreich.«
Dabei zeigt er mir mit Daumen und Zeigefinger einen Umfang von etwa zwei Zentimetern an. Ich will wissen, was in der Akte stand.
»Das weiß ich nicht. Es war uns strengstens untersagt, hineinzusehen. Jeder passte im Archiv auf den anderen auf. Es gab selten Momente, in denen man alleine war und aus reiner Neugier einen Blick in so eine Akte warf. Ich habe nur ganz flüchtig hineingesehen.
»Sie haben also doch etwas gesehen?«, hake ich nach.
»Es waren Berichte über Treffen mit Oswald. G-2-Offiziere hatten sich mit ihm getroffen. Das kann ich sagen, aber ich weiß keine Namen und Orte.«
»Haben Sie denn etwas von anderen Offizieren gehört?«
»Mir wurde gesagt, er sei für zwei Tage in Kuba gewesen, im Sommer 1963. Aber ich möchte das nicht als Aussage machen, denn ich habe ihn nicht mit eigenen Augen gesehen. Das ist nur Hörensagen. Und wenn ich ihn selbst gesehen hätte, dann würde ich es nie jemandem erzählen. Jetzt wird es höchste Zeit für mich. Hasta luego. Auf Wiedersehen.«
Reynoso verschwindet so schnell, wie er gekommen ist und lässt mich mit meiner Verblüffung unter den im Wind klappernden Plastik-Skeletten sitzen. Seine Aussage ist das bislang schwerwiegendste Verdachtsmoment gegen Kuba: Oswald als »ausländischer Mitarbeiter« des kubanischen Geheimdienstes? Wie ist das möglich? Obwohl ich keinen Grund erkennen kann, warum Reynoso lügen sollte, kommen die ersten Zweifel: Warum sollte ein professioneller und gefürchteter Geheimdienst wie der kubanische jemanden rekrutieren, der in den Geschichtsbüchern als blasser, psychisch kranker Versagertyp und notorischer Aufschneider geschildert wird?
Vor allem die Autoren der Verschwörungstheorie, die hinter dem Mord an Kennedy einen amerikanischen Staatsstreich vermuten, haben Oswald zu einem Nichts schrumpfen lassen: Ein Bauer in einem für ihn undurchschaubaren Schachspiel, der allenfalls die Rolle des Sündenbocks in einer weitverzweigten Verschwörung aus CIA, Mafia, Exilkubanern und der politischen Rechten spielen durfte.
Reynoso hat die Tür zu einem dunklen und unbekannten Kapitel in Oswalds Leben aufgestoßen. Wer war dieser Mann wirklich, der mit einem Mord den Lauf der Weltgeschichte verändert hat? Handelte er in eigenem Auftrag oder auf Befehl? Spurensuche in einem verstörenden Leben.