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Allein statt einsam

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Ich bin als Mitglied einer Großfamilie auf einem Bauernhof aufgewachsen. Ab meinem 12. Lebensjahr starb jedes Jahr ein Mitglied der Familie, zuletzt meine Mutter. Ich erinnere mich an einen Sonntagmorgen, als ich als Siebzehnjähriger ganz allein auf dem Hof war. Mein Vater hatte eine Arbeitsstelle angenommen, und ich kümmerte mich um die Tiere. Es regnete, und ich fühlte mich zutiefst einsam.

Ich begann zu weinen. Viele Situationen der letzten Jahre wurden in mir lebendig, in denen ich mich einsam und ausgegrenzt gefühlt hatte, und ich beweinte auch diese Situationen ausgiebig. Ich weinte wohl eine Stunde. Und im Laufe dieser Stunde veränderte sich in mir etwas grundlegend. Indem ich mich fühlend dem gegenwärtigen Moment hingab, lockerte sich das feste Ich meiner persönlichen Identität. Ich erlebte eine Verbundenheit nach innen wie nach außen, zu den Tieren im Stall, zu jeder Kreatur.

Ich war immer noch der einzige Mensch auf dem Hof, Aus Einsamkeit kann Alleinsein werden.aber aus der Einsamkeit war Alleinsein geworden.

Einsamkeit und Alleinsein sind völlig verschiedene Zustände. Der Psychoanalytiker Rolf Haubl hat das sinngemäß so auf den Punkt gebracht: Einsamkeit heißt außer sich sein. Alleinsein hingegen bedeutet bei sich sein.

In der Einsamkeit hast du die Verbindung zur Welt verloren, kreist hilflos um dich selbst, bist gefesselt von Gedanken, deinem Widerstand gegen die Situation, deinem Begehren. Im Alleinsein hingegen ist die Welt in Ordnung. Die negativen Gefühle gehören zu dir, aber du reduzierst dich nicht darauf. Du weißt, dass du sehr viel mehr bist, spürst dich selbst sehr deutlich und fühlst dich in Verbindung mit deiner Umgebung.

In besonders kostbaren Momenten, wie ich einen solchen auf dem Hof erlebte, ermöglicht Alleinsein so etwas wie »mit dem All-eins-Sein«. Du bist in diesen Augenblicken vollkommen bei dir und mit dir, Alleinsein ermöglicht All-eins-Sein.erlebst gleichzeitig innere und äußere Vielgestaltigkeit und dabei dich selbst als Teil von etwas Großem, das alles in sich vereinigt. Und du erlebst Frieden.

In der Lehre des Buddha – wie in vielen spirituellen Traditionen – spielt das Alleinsein eine große Rolle. Sariputta, einer der bedeutendsten Schüler des Buddha, bezeichnete physische Abgeschiedenheit als wichtige Voraussetzung für das Entstehen geistiger Abgeschiedenheit. Die geistige Abgeschiedenheit wiederum ist notwendig, um geistige Trübung hinter sich zu lassen – und dies ist eine notwendige Bedingung für Verbundenheit, Frieden und Glück.

Vermutlich hast du selbst schon erlebt: Bist du über längere Zeit pausenlos in Gesellschaft, physisch zusammen mit anderen Menschen, zum Beispiel mit deinem Partner oder deiner Partnerin oder deinen Kindern, dann wird es früher oder später eng und schwierig. Leicht reagiert ihr überempfindlich aufeinander und verstrickt euch in Konflikten. Achtsame Selbstbeobachtung und -Einfühlung sind in Gesellschaft sehr viel schwieriger, oft kaum möglich. Ohne Phasen des Alleinseins kommt dir der achtsame Zugang zu dir selbst abhanden.

Es braucht Phasen des Alleinseins, um die vielfältige innere Landschaft deiner Bedürfnisse, deiner Wahrnehmungs- und Gewohnheitsmuster kennenzulernen.

Auch Widersprüchliches darf sich äußern, wächst im Raum der Akzeptanz zu einer Einheit zusammen. Du nimmst eine liebevolle Verbindung zu dir selbst auf.

Zusammen aufwachen

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