Читать книгу Das Mitternachtsschiff - Wilfried Schneider - Страница 8

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Er hörte die Tritte der Boten, als sie noch durch die Nebengasse liefen. Der Wind, schon am Nachmittag von den Bergen gesandt, war stärker geworden, selten an einem Abend zu dieser Jahreszeit, als zeige Melkart seiner Stadt an, dass sich Ungewöhnliches ereignen werde. Er löschte die schwimmenden Dochte auf den Fenstern, durch die bereits der frische Atem der baldigen Nacht in die Kammern drang. Abdi-ashirta öffnete das Haustor, er wischte sich über die Lippen, als eine Bö ihm ihren Staub ins Gesicht wehte. Er musste Hir-Rectars Gesandte selbst empfangen, die Wirtschafterin hatte auch an diesem Tag ihre Pflicht nicht getan.

»Die Stunde ist nahe, Herr, zu der Hir-Rectar dich ruft.« Sie kreuzten die Arme und verneigten sich voller Ehrerbietung. Noch war die Dunkelheit nicht über Zor gekommen, die Boten entzündeten aber die Dochte ihrer Laternen und führten ihn in die Altstadt.

»Der Auftrag dient nicht dem Rat, sondern Zor und jedem seiner Bewohner. Wir bringen dich über Markt und Hafen zum Palast, um das anzuzeigen«, beantworteten sie den verwunderten Blick des Admirals, der sich den Umweg nicht erklären konnte.

Abdi-ashirta berührte die Lehmwände der vertrauten Häuser, es waren auch die Straßen seiner Kindheit, durch die ihn die blassen Laternen führten. Auch die Hände seines Vaters streiften einst die Mauern, an jenem Abend, der sein letzter in Zor gewesen war. Als Oberer Verwalter des Regierungsbezirks hatte er den Auftrag erhalten, Quart-hadascht zu helfen, das Steuersystem zu ordnen. Lange war er im Sonnenuntergang mit dem Jungen durch die Stadt gelaufen. Die Mutter hatte ihre Kammer nicht verlassen wollen, ihre Tränen waren hinter den Mauern geblieben.

Am Haus des Sandalenmachers hielt Abdi-ashirta inne. Die Seitenwand durchzog ein Riss, in den sie als Kinder schon die Finger hinein gesteckt hatten. Sie verzweigten sich in der Fantasie zu Armen der Lotosblüte, eine von Putz entblätterte Fläche war das Innere Meer. Diese Stelle hatte er von der Schlafkammer seiner Eltern aus gesehen, als er mit Samranu am Fenster stand. Seine Mutter hatte zurückgeblickt, bevor sie dem Vater auf der breiten Straße zum Hafen folgte. Es war ihm verboten worden, mit ihnen zu gehen, er hatte es nicht verstanden. Ihr schwerer Zopf schwang nach rechts, nach links, noch einmal nach rechts, dann war er nur eine Erinnerung. Trotzig hatte er das Wasser aus den Augen gewischt.

»Herr!«

Abdi-ashirta bat mit einer Geste um Verzeihung, er ging den Boten mit schnellen Schritten nach.

»Siralu, mein Kleiner, so komm doch, komm ins Haus! Siralu!« Der Junge lief in die Arme seiner Mutter.

»Du hast ihn Siralu genannt!“ Der Admiral sprach die Frau an. Sie sah hoch, hielt erschrocken die Hände vor den Mund.

»Herr, o Herr! Warum richtest du das Wort an mich Unwürdige?«

»Rede nicht mit mir, als stündest du in der Ratskammer. Sprich als Frau aus Zor zu einem Mann aus Zor.«

»Siralu war dein Schiffsmeister, als du die Zinninseln suchtest.«

»Ja. Er stürzte über die Wandung, als er mich zurück riss. Das geschah auf einem harten Meer.«

»Ich habe meinem Kind diesen Namen gegeben. Nun lebt er weiter als Erinnerung. Viele Familien ehren so die Helden unserer Stadt. Ich gehöre zu ihnen.«

Abdi-ashirta blickte auf den Leib der Frau, die nicht zu ihm aufsah. Er hob ihren Kopf.

»Dieser Brauch ehrt nicht allein die Verstorbenen, er ehrt auch euch. Du trägst ein Kind in dir? Hoffentlich wirst du es nicht bald Abdi-ashirta nennen.«

»Es wird ein Mädchen, vielleicht.« Die Frau lächelte.

Die Häuser hatten ihre Augen geschlossen. Das Zedernholz schützte die Bewohner vor dem kräftigen Atem des Libanon. Das Portal des Stadtpalastes knarrte unter den Schultern der Wachen, irgendwo fiel eine Tür zu, um die Balken des Speichers heulte der Wind.

»Ich grüße Zors Großen Helden!« Hir-Rectar, der Oberste des Rates, von vielen schon als König verehrt, öffnete die Arme. Noch in der Verbeugung wurde Abdi-ashirta das Unglaubliche dieser Begrüßung bewusst. Der Herr von Zor empfing ihn bereits am Eingang des Audienzsaals. Dessen Fenster waren geschlossen, auf den Tischen flackerten die Lichter, der Wind war zum Sturm geworden, wie er nur selten auf die Stadt blies. An der Tafel saßen drei wichtige Männer des Rates, Verantwortliche der Seefahrt und Verhandlungspartner für fremde Gesandtschaften.

«Ich entbiete meinen Gruß …«

»Lass die Förmlichkeit, Admiral. Es ist nicht die Zeit für untertäniges Geschwätz. Höre mich und schweige. Dann frage, vielleicht muss auch ich schweigen. Verzeih uns, dass wir dich schon wenige Tage nach deiner Rückkehr rufen müssen. Wir dienen damit Zor und Sidonien.« Hir-Rectar presste die Lippen aufeinander. Seine Hände umfassten einen Leuchter, trotzdem war sichtbar, wie sie zitterten.

»Wohl ist die Zeit nicht fern, dass Zor wieder das Haupt der Küste ist.«

»Hir-Rectar, König von Zor!«, rief eines der Ratsmitglieder. Ärgerlich gebot der Oberste ihm Einhalt. »So kann es in den Jahren sein, die wir alle noch erleben.« Er sprach nicht weiter, und als Diener die Öllichter austauschten, schwieg er noch immer. Der Admiral kannte das Spiel der Mächtigen, die Schritte selbst zu bestimmen.

»Nun höre alles«, begann der Oberste des Rates endlich. »Nach vier Dekaden bringt dich die Rose von Zor zum Mittleren Großen Arm des Hapi. Ein Boot Kemets trägt dich nach Menfe. Keine Nachricht dringt davon in die Ohren des Volkes. Der Vorsteher des Tempels der Neith ist dein Vertrauter. Du sollst der Vollstrecker des Willens Nechos sein, eine Expedition in den Süden zu führen.«

»In den Süden?«, der Admiral sprang auf.

»In den Süden«, bestätigte Hir-Rectar betont leise. »Du hast es verstanden!«

»Verzeih die Erregung, Herr.« Abdi-ashirta fiel stöhnend auf die Bank zurück. Dieser Auftrag hatte nichts Gleiches: »Sidoner waren noch nie im Süden!«

»Nein? Der große Hiram schickte in zehn Jahren vier Schiffe zu diesem Südlichen Haus. Es waren Küstenboote, am Lazurwasser zusammengesetzt. Sie sollten Ophir finden.«

»Davon weiß niemand!«

»Ich weiß es.« Zum ersten Mal lächelte Hir-Rectar. »Zor bewahrt seine Geheimnisse gut. Wir danken deinem Großvater auch dafür«.

»Wohin?« Abdi-ashirtas Stimme war heiser, er fragte nur mit einem Wort.

»Wohin?«, fragte auch Hir-Rectar. »Du bist ein Mensch, der denjenigen von zwei Pfaden geht, der am wenigsten betreten ist. Also habe ich dich gewählt. Necho hat Sais verlassen und regiert in Menfe. Dort fühlt er sich seinen Ahnen näher. Was will er im Südlichen Haus, wirst du gleich fragen. Vielleicht sucht er so die Garamanten, weil der Sandweg ihm die Füße brennt? Vielleicht sollst du seine Tausende Soldaten heim bringen, die nach Nub desertiert sind … Schau nicht so vorwurfsvoll! Ich mache aus dir keinen Narren. Zu den Garamanten führt kein Wasser und die Desertierten hat Anubis schon vor hundert Jahren gefressen. Was will er im Süden, der Herrscher beider Ägypten? Der Freund deines Großvaters hat mir den Text einer Stele aufgeschrieben und so für meine Gastfreundschaft gedankt. Tanut-amun, Sohn des Schabaka, ließ sie errichten. Höre den König:

Im Jahre 1, als er zum König gekrönt wurde, sah Seine Majestät zwei Schlangen, eine zu seiner Rechten, eine zu seiner Linken. Seine Majestät erwachte, fand sie aber nicht.

Seine Majestät sagte: »Warum ist mir das geschehen?«

Darauf erklärte man ihm: »Du besitzt Oberägypten. Erobere Unterägypten. Die beiden Herrinnen sind auf deinem Kopf erschienen, um dir das Land in seiner Länge und Breite zu geben, ohne dass ein anderer es mit dir teilt.«

Schau mich nicht so an! Ich bin kein blöder Spaßmacher. Ich rede von Politik, Admiral, von Politik. In Menfes Thronsaal geht die Angst um. Der Süden tötete einst den Großvater des Pharao. Kemet befürchtet neue Eroberungen, hast du die Stele nicht verstanden? Auf dem Hapi fährt keiner nach Punt. Vielleicht gelangt man über das Lazurwasser schneller nach Kerma und Meroe? Von den heute Lebenden weiß es niemand. Mein Fluch über Kemets Priesterschaft. Mögen die Götter mit Necho sein und den Hapi bald durch seinen Kanal fließen lassen. Ich träume davon, eine Flotte hinter die Berge zu schicken, die sich nach Babylon erheben. Was hinter seinen Säulen liegt, hat Melkart nicht erzählt, aber im Osten erstrecken sich Länder, von Wassern umspült, die für uns befahrbar sind. Sei still! Dein Kopf versteht ohne zu fragen, was uns der Weg durch den Kanal bedeutet. Du bist ein Admiral! Wir hoffen auf Necho, die Kemeten sind Freunde Sidoniens. In unserer Zeit.«

Die anderen Ratsmitglieder hatten während Hir-Rectars Rede hefig genickt, ihre Mimik bezeugte Bewunderung. Auch Abdiashirta erstaunten die Kenntnisse des Obersten von Zor.

»Dein Gesicht ist ja so lang?«, fragte Hir-Rectar spöttisch. »Du wunderst dich, dass regierende Männer auch wissend sein können? Ich habe Samranus Tafeln gelesen, bevor ich sie vergraben ließ. Wer viel weiß, dem widerspricht man seltener.«

»Wohin?«, fragte Abdi-ashirta zum zweiten Male.

»Du sidonischer Esel!«, schrie Hir-Rectar und rieb sich die Stirn. »Dein Vater war meine Stütze, ihn schickte ich nach Quart-hadascht, um unseren Einfluss auf die Siedlung zu stärken. Das stach den Suffeten wohl ins Auge. Am Abend von Samranus Tod gab es in einigen Stuben des Ostviertels Wein«. Hir-Rectar rieb sich die Wangen, seine Hand war faltig, sie verriet sein Alter. Abdi-ashirta ahnte, dass die Verantwortung die Seele des kommenden Königs bedrückte und eine Amtsstube kein geschützter Ort war.

»König! Ich werde König sein und wenn es am letzten Tag meines Lebens ist«, flüsterte der Oberste Zors. »Ich weiß es auch nicht, wohin du fahren wirst!«, brüllte er plötzlich.

Abdi-ashirta öffnete den Mund, sein Gesicht wirkte noch schmaler. Ein Windstoß riss an den Fensterläden, die Tischlichter flackerten und bewegten Hir-Rectars Schatten an der gekalkten Wand, der sich für einen Atemzug zu den Deckenbalken ausbreitete und auf den Admiral zu stürzen schien. Der Regent beugte sich vor und sagte: »Wohin du fährst, wissen nur der Erhabene in Menfe und wenige seiner Vertrauten. Behalte den Namen Kerifer-Neith in deiner Erinnerung. K-e-r-i-f-e-r …« begann er zu buchstabieren.

»Ich spreche kemetisch«, fiel ihm der Admiral ins Wort.

»Ja, du hast die Worte aus Nurfrets Mund gesogen wie die Milch aus der Mutterbrust.«

»Ich kenne aber nur die Volksschrift.«

»Die Bilderschrift haben die Kemeten selbst vergessen, sogar die Priester schreiben sie falsch. Du wirst Necho helfen, die Bäume seiner Feinde zu fällen. Er wird dich beschenken wie einen Gott. Du erhältst nach deiner Rückkehr das Landgut eines Fürsten, eine Frau der Oberschicht wird an deiner Seite sein. Du siehst Menfe die erste Zeit zwar nur aus der Kammer einer Herberge, aber bald wohnst du in ihrem Stadthaus. Du wirst ein Kemete werden! Nach so einer Fahrt fährt niemand wieder auf ein Meer. So kamen Nechos Worte zu mir. Und er ließ mir gesiegelt mitteilen, dass er dir nicht befehlen, sondern eine Bitte aussprechen wird. Du darfst den Auftrag ablehnen und du darfst, wenn es dein Wunsch sein sollte, in dein Haus im Ostviertel zurückkehren. Abdi-ashirta, du bist ein freier Mann, frei in deiner Entscheidung. Wer von uns Machtausübenden ist das schon! Der Pharao glaubt, nur so ein Mann kann seinen Auftrag erfüllen. Und er hat Recht!« Hir-Rectar verzog den Mund. »Unsere guten Wünsche werden dich begleiten. Und nicht nur sie.«

»Was willst du mir damit sagen?«

»Nichts.«

»Warum hast du mich gewählt, Herr?«

»Du bist der beste Seefahrer in unserer Zeit. Du hast die Schiffe auch durch schwere Meere geführt. Du bist gebildet. Und du trägst eine wichtige Eigenschaft deiner Mutter in dir.« Hir-Rectar erhob sich, er stöhnte und streckte den Rücken.

»Meine Männer werden mit dir besprechen, was dich am besten auf die Reise nach Kemet vorbereitet. Ich bin ungeduldig zu erfahren, was die nächste Zeit dir und Zor bringt, ich bin erwartungsvoll wie ein Jüngling, bei dem zum ersten Mal ein Weib hockt.«

Er ging zur Tür, kehrte noch einmal um, breitete die Arme aus und umarmte seinen Admiral.

»Noch eine Antwort, Herr«, bat Abdi-ashirta: »Was war die wichtige Eigenschaft meiner Mutter?«

»Ihr war in Zor kein Mensch gleichgültig.«

Das Mitternachtsschiff

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