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Paradoxe Globalisierung
ОглавлениеHier kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, die Globalisierung. Also die Ausdehnung des ursprünglich europäischen internationalen Systems mit seinen Ordnungselementen und -versprechungen über den gesamten Globus. Dieser Prozess hat alle anderen politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen auf der Erde in der einen oder anderen Weise in Mitleidenschaft gezogen. Seine Dynamik hat in den letzten Jahrzehnten weiter zugenommen und wird sich in den vor uns liegenden Jahrzehnten voraussichtlich kaum verlangsamen. Das private, berufliche und das öffentliche Schicksal von immer mehr Menschen wird weltweit mindestens indirekt, meist jedoch direkt von der Globalisierung beeinflusst. Sie hat die verschiedensten Lebensbereiche erfasst, von der Wirtschaft, deren Märkte zu »Weltmärkten« werden, und der Politik, über die Unterhaltungsindustrie, den Tourismus, Wissenschaft und Forschung bis hin zu der Entgrenzung von Kriminalität und Terrorismus. Ihre Antriebsmomente sind in erster Linie mobilitäts- und kommunikationstechnische Neuerungen.
Es darf dabei erstens nicht übersehen werden, dass die Globalisierung nicht überall auf die gleiche Weise wirkt. Ihre Auswirkungen sind in den Kernregionen der Welt, etwa in den riesigen und weiter ungestüm wachsenden metropolitanen Stadt-Konglomeraten, viel offensichtlicher als in den ländlichen Regionen der Welt. Aber die Menschen und ihre Lebenswelten an den dortigen Peripherien werden ebenfalls von ihr betroffen, oft sogar ziemlich dramatisch (Abholzung des Amazonas-Regenwalds, Land Grabbing in Afrika usw.)
Zweitens ist zu konstatieren, dass die Globalisierung nicht nur vereinheitlichend wirkt, sondern auch Bruchlinien und Differenzen verschärft. Tatsächlich hat sie insgesamt höchst widersprüchliche Konsequenzen. An manchen Orten überwiegen positive Folgen, an anderen die schädlichen Konsequenzen. Die Vorstellung von der Erde als einem »globalen Dorf« suggeriert jedenfalls eine völlig realitätsferne Idylle. Die große Vereinheitlichung, eine handlungsfähige »internationale Gemeinschaft« von Staaten einschließlich humanitärer und anderer Nichtregierungsorganisationen, der Siegeszug kooperativer Politik und die Ausbreitung des »demokratischen Friedens«, all das ist nicht über erste Ansätze hinausgelangt und hat sogar Gegenbewegungen ausgelöst. Die Globalisierung von Produktion, Handel und Finanzspekulation hat eine Menge Gewinner, aber auch unzählige Verlierer zur Folge gehabt. Die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich hat sich weit geöffnet. So ist es kein Wunder, dass viele Menschen die Globalisierung strikt ablehnen, sie anhalten und zurückfahren wollen.
Gleich von zwei Seiten her wird die Globalisierung attackiert: Aus kapitalismuskritischer Perspektive und als lautstarke Anklage gegen den Neoliberalismus sowie von den Anhängern bestimmter identitätspolitischer Konzepte, die ethnische, nationale oder religiöse Homogenität und Souveränität politischer Einheiten anstreben, was zugleich jede Form von Multikulturalität oder die Anerkennung universeller Werte ausschließt. Auf die Staatenwelt – organisiert und in gewisser Weise repräsentiert durch die Vereinten Nationen samt ihren Unter- und Sonderorganisationen – wirkt sich der Globalisierungsprozess auf paradoxe Weise aus. Denn er stärkt keineswegs den internationalen Zusammenhalt. Im Gegenteil, er hat in den letzten Jahren zwei gegenläufige Entwicklungen angestoßen, die zusammen ein neuartiges Sicherheitsproblem darstellen. Einerseits eine deutliche Re-Nationalisierung auf allen Stufen der Macht-Rang-Skala der gegenwärtig um die 200 Staaten. Andererseits eine nicht exakt zu quantifizierende, aber unübersehbare Staatsabschwächung bis hin zum Staatsverfall. Dieses auch häufig mit dem Begriff der fragilen Staatlichkeit bezeichnete Phänomen hat sich zu einem der gewichtigsten Sicherheitsrisiken der gegenwärtigen internationalen Beziehungen ausgewachsen. Denn diese Fragilität drückt sich nicht zuletzt im Nichtfunktionieren wesentlicher Ordnungsaufgaben des Staates in seinem Innern aus – mit Folgen nicht nur für die eigene Bevölkerung und die unmittelbaren Nachbarstaaten, sondern potenziell weltweit. In den betreffenden Territorien herrschen Gewalt und Gegengewalt. Sie werden so zu Brutstätten für organisierte Kriminalität, Korruption, Repressionen aller Art, für internen und nach außen gerichteten Terrorismus. Dies wiederum ist ein nachhaltiger Antrieb für Massenmigrationen in die Nachbarländer, deren politische Stabilität ihrerseits dadurch auf die Probe gestellt wird, oder in jene Länder, die, oft irrtümlicherweise, als reich und Schutz gewährend wahrgenommen werden.