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6 Kamtschatka, 180 km südlich von Charlottenburg

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Go West ist ein gemütlicher Ausflug gegen Stellers Fahrten. Aber durch ihn bin ich wohl endgültig in meinen Beruf geraten, so hatte ich Kandida chida erzählt. Ich hatte mich also für den interessanten Job beworben.

»Die Große Nordische Expedition« sollte in den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale ab dem Mai des Jahres 1995 eine unglaublich umfangreiche Ausstellung heißen. Gemeint war die Expedition unter Vitus Bering, dem »Kolumbus des Zaren«, über Monate und sogar viele Jahre hinweg durch das so elend weite Russland von Peter dem Großen, zu dem damals ja auch noch Alaska gehörte.

Man hatte Alaska schließlich wie Kolumbus die Antillen tatsächlich erreicht, es hatte eben nur zehnmal länger gedauert. Noch zu Schiff auf der Meerenge, die später Beringstraße hieß, hatte Steller als Erster einen amerikanischen Schwarzkopfhäher an Deck begrüßt. Georg Wilhelm Steller war der wissenschaftliche Leiter dieser gigantischen Expedition von 1733 bis 1745 gewesen und hatte als erster Europäer von Osten her amerikanischen Boden betreten, wenn auch nur für zehn Stunden. Er war es auch, der noch die letzten gigantischen Seekühe gesehen und beschrieben hat, die schließlich nach ihm benannt wurden. Diese Ausstellung sollte deshalb in Halle sein, weil Georg Wilhelm Steller dort einmal eine ganze Weile als Lehrer am Waisenhaus der pietistischen, aber zugleich auch global expandierenden und expeditierenden Franckeschen Stiftungen tätig gewesen war.

Eine der Leistungen Stellers bestand auch darin, so las ich es in dem ungewöhnlich ausführlichen Antwortschreiben der Franckeschen Stiftungen, dem kleinen Volk der Itelmenen auf Kamtschatka die Sprache, Gebräuche und Mythen abgelauscht und sie schriftlich fixiert zu haben. Vor allem Georg Wilhelm Steller verdanken die Itelmenen, so würden sie es auch selber sagen, dass sie ihre Sprache über die russische und sowjetische Zeit hinweg bewahren konnten. Deshalb sollten die Itelmenen nun mit der kleinen Verspätung von 250 Jahren im Jahr 1995 auf Gegenbesuch nach Halle in die Franckeschen Stiftungen kommen, natürlich nicht alle etwa tausendfünfhundert Leute des Stammes, sondern etwa zwanzig von ihnen in der Form eines Tanz- und Gesangsensembles namens Elvel samt Kind und Kegel.

Ausgerechnet ich bekam dann den laut der Annoncierung in der zeit sicher recht guten Job als eine Art Koordinator während der neunmonatigen Ausstellung in Halle. Dr. Dettlev Müller-Semrau, der Leiter der Franckeschen Stiftungen, empfing mich überfreundlich. Ich dachte gleich, ich hätte für neun Monate ausgesorgt, zumal er ein mehr als gutes Monatsgehalt nannte. Aber es war nur ein Koordinator-Job für höchstens einen Monat. Im Grunde sollte ich nur die für mindestens zwei Wochen anreisenden 20 Itelmenen aus Kamtschatka »betreuen«.

Müller-Semrau druckste ein bisschen herum. Dann ging unser Gespräch ungefähr so weiter, Müller-Semrau: »Im Grunde wissen wir nicht, wer da zu uns kommt, aber auch die Itelmenen werden vermutlich längst wie wir leben, so kurz vorm Ende des 20. Jahrhunderts.«

»Die Lappen des Ostens«, nickte ich.

»Nein, die Sami des Ostens!«, rief Müller-Semrau. »Sehen Sie? Da haben wir schon das Problem! Lappe ist eher eine Beleidigung. Die Lappen dominieren den Rat der Urvölker, seien Sie froh, dass jetzt keiner von denen hier im Raum ist! Zu Ihrem Job wird gehören, dass Sie situationsgerecht herausfinden, wie die Itelmenen ticken und entsprechend reagieren.«

»Herausfinden«, sagte ich. »Aha!«

»Sie haben doch eine Lizenz als Detektiv?«

»Ach so. Ich soll diese Itelmenen gar nicht betreuen? Ich soll die überwachen?«

»Sie sollen sie gut betreuen und alle Probleme, die diese Leute haben, ganz schnell und flexibel mit uns koordinieren und Abhilfe schaffen. Sehen Sie, da sind doch sogar Kinder dabei.«

»Das stimmt, Kinder gehören strengstens überwacht, aber hallo!«

»Könnten wir uns so einigen«, lachte Müller-Semrau, »dass Sie ganz einfach auch immer ein Auge auf sie haben? Früher hat man die Itelmenen zwar Fischhauttartaren genannt, aber ich nehme mal an, es sind jetzt alles zivilisierte Menschen wie Sie und ich. Die sollen übrigens viel Humor haben, vielleicht so wie Sie, Herr Macrobius! Sie sind auch noch ein erfrischend junger Mann, und dann haben Sie alle zusammen bestimmt auch viel Spaß! Da liegt ein Buch von Georg Wilhelm Steller vor Ihnen auf dem Tisch. Ich habe etwas hineingelesen und gleich ein paar Lesezeichen drin stecken lassen für Sie!«

Ich habe abends nach dem Gespräch also hineingelesen in Stellers Buch und in eine Broschüre über die Itelmenen. Ich stieß auf diese Stelle: »Die Materie ihrer Comedien sind entweder neue Sitten und Manieren ankommender Leute, oder närrische Stellungen ...« Na gut, das war vor einem Vierteljahrtausend.

Die Itelmenen haben einen Tölpelgott namens Kutcha. Tölpelgötter sind bei Urvölkern sehr selten, ihr Name sagt schon, dass sie nicht allmächtig sind, höchstens allmächtig zu großen Dummheiten. Kutcha ist eine Art Rabe und Chacky ist seine viel klügere Frau. Nachdem sich Kutcha einmal vorübergehend in seinen eigenen Kackhaufen verliebt hatte, ging er auch noch mit einer pazifischen Klaffmuschel fremd. Da ließ ihn Chacky sausen, indem sie sich in die stürmischen Lüfte erhob und dort oben einfach wohnen blieb. Kutcha überlegte, wie er was gutmachen konnte und erschuf Wolken und Regen. Weil es ihm darin zu kalt war, machte er ein Haus mit einer Menge an Kaminen, unberechenbaren Vulkanen. Das war Kamtschatka. Heißes Wasser spritzte da immer wieder aus dem Fußboden. Kutcha beschloss, zufrieden zu sein. Irgendwann kam auch Chacky wieder zurück, schon um weiteren Unsinn zu verhindern. Chacky war es dann, die zusammen mit Kutcha Geschöpfe erschuf, die sich nicht einkriegen konnten vor Freude und Lachen über ihre verrückte Heimat, nämlich die Itelmenen. Immerhin fürchteten sich die Itelmenen vor den Kamulen, die zahlreich in den Vulkanen hausten. Die mussten mit Umsicht und Opfern bewegt werden, keinen Schaden unter den Itelmenen anzurichten.

Um wie ihr Totemtier, der Rabe Kutcha, auch mal durch die Lüfte segeln zu können, bereiteten sie sich oft ein berauschendes Getränk, das sie Muchamor nennen und das überwiegend aus Fliegenpilzen hergestellt wird. Dieses Muchamor gibt es auch in getrockneter Herstellungsart, es wird in einer Pfeife geraucht.

Wenn erwachsene Itelmenen zur Zeit Stellers starben, gab man sie den Hunden oder Bären zum Fraß, um dadurch der Natur für ihre Gaben zu danken. Nur ihre toten Kinder setzten sie in hohlen Bäumen bei.

Itelmenen lieben wertvolle Hundefelle und verschmähen Fuchs, Biber und sogar den Zobel als Besatz an Kleidung und Stiefeln.

Und so weiter.

Vieles schienen die Itelmenen aber auch mit den Indianern an der amerikanischen Nordwestküste, den Kwaiutl, gemeinsam zu haben, zum Beispiel die Verehrung des Raben.

Aus der Sicht der Kwaiutl jedenfalls würden die Itelmenen wohl als die westlichsten Indianer auf Erden gelten, aber von hier aus gesehen waren sie im Gegenteil gerade dabei, fast zwei Wochen lang mit der Eisenbahn aus dem fernsten Fernen Osten bis nach Deutschland fahren.

Ich sollte also die Itelmenen diskret überwachen, denn bei ihnen hörte wirklich aller Ernst auf, besonders der pingelige deutsche, wie ich ganz schnell herausfand, schon als dieser eiserne Wigwam auf dem Hauptbahnhof Frankfurt/Oder eingerollt war von einer Halbinsel auf der anderen Seite der Erde von fast genau der Größe Deutschlands.

Dem deutschen Zoll klappte damals wie mir das Kinn herunter, als dem Wigwam-Waggon prachtvolle Indianer jeden Alters und Geschlechts in ihren bunten Fellstiefeln entsprangen. Sie trugen helle Jacken aus Seehundleder, besetzt mit den verschiedenfarbigsten Pelzen. Sie ignorierten einfach, dass sie ihre Pässe zeigen sollten, und freuten sich extrem. Schließlich reichte ihr Häuptling dem herbeigetretenen obersten Diensthabenden des Zolls zum sofortigen Verzehr eine marinierte Leckerei dar. Sie stammte aus dem Leib einer ochotskischen Seespinne. Kaum hatte sich der arme Deutsche vom Zoll den Bissen heroisch in den Mund geschoben, umringten ihn tanzend die Itelmenen mit ihren hoch erhobenen russischen Pässen. Sie hatten anscheinend die Absicht, sie zu verschenken oder notfalls wegzuwerfen. Die Frauen kreischten und trällerten wie Möwen, die Männer stampften herum und grunzten laut wie Bären.

Dann steckten sie sich die Willkommensgabe des Zolls, lauter kleine deutsche Fähnchen, ins Haar, die von dort erst allmählich im Verlauf der kommenden zwei Wochen endgültig verschwanden. Die etwa eintausend Bonbons, auf denen jeweils ein schwarzrotgoldener Adler mit dem Namen »Zoll der Bundesrepublik Deutschland« prangte, hatten die Itelmenenkinder samt dem eimergroßen Glas schon an sich genommen und weggetragen. Inzwischen hatten ein paar der Erwachsenen begonnen, insgesamt sieben zusammengebundene Schlitten, eine Menge riesiger Schamanentrommeln, ein goldglänzendes Akkordeon und eine längliche Kiste mit alten Jagdgewehren samt Munition auszuladen, um dann obendrein noch drei große Holzfässer aus ihrem Waggon zu wuchten. Eines von diesen Fässern war bis an den Rand mit Jukola, getrockneten Stinten und Kamtschatka-Lachsen, gefüllt und stank gesund und kräftig zum Himmel. In den beiden anderen befand sich, wohl ebenfalls zum Verkauf an Stellers deutsches Volk, so mancherlei an Bärenkrallen und -zähnen und nicht ganz astreinen Zobelfellen bis hin zu russischem Kaviar und Sekt. Ganz zu schweigen – ich jedenfalls schwieg davon, bis die Itelmenen wieder weg waren aus Deutschland – von all diesen rauen Säckchen, in denen sich, wie sich dann für mich gar nicht überraschend herausstellte, kleine Stöpselflaschen mit Fliegenpilzsud und Fliegenpilzpulver zum Rauchen befanden. »Medizina!«, jauchzte der Chief zum Zoll und hatte von seiner Warte aus sicher absolut recht.

Chief Aleksandr Pruttschin, grob zerfurcht und rot im Gesicht wie ein alter und waschechter Prärieindianer, war der Häuptling, zumindest des Tanz- und Gesangsensembles der Itelmenen. Er fasste mich ins Auge, als die deutsche Grenzbehörde auf mich verwies als dem nun Mit-Anführer ihrer Stammesabordnung in Deutschland. Der russische Indianer Aleksandr Pruttschin knallte dicht vor mir und dem Hauptzöllner die Hacken zusammen zur Habachtstellung, und eine ganze Wolke kamtschadalischer Lachmöwen war aus seinen Augen in meine vorgestoßen. So hätte ich beinahe nicht gemerkt, wie Aleksandr Pruttschin seinen Pieksfinger aus der Hüfte geschossen und dem deutschen Beamten in den Bauch gebohrt hatte.

Der raunte mir etwas später im Vorbeigehen noch ins Ohr: »Passen Sie auf sich auf, Kollege.«

Wieso eigentlich auf mich und nicht auf die Itelmenen? Das eine beunruhigte mich stark, und das Wort Kollege machte mich ein bisschen traurig. Aber Zeit zum Nachgrübeln würde ich, solange die Itelmenen da waren, zum Glück nicht mehr finden. Der Fliegenpilzsud, den ich als Erstes mit Aleksandr Pruttschin hinterkippen musste, stellte sich als Wodka heraus. Davon würde ich wohl hin und wieder noch einen brauchen und auch kriegen, wie es dann auch im fröhlich-lauten Bus nach Halle geschah.

Sie hatten, wie gesagt, auch sieben Schlitten nach dem durch Steller überlieferten Bauplan mit zum Verkauf und zum Vorführen in den leider schon maigrünen Tundraweiten um Halle. Vor der ersten Kulissenbibliothek der Welt in den Franckeschen Stiftungen kam es gleich über sie, mit ihrem Alchalalalaj, dem itelmenischen Powwow, zu beginnen. Da waren sie wieder, all die Möwen und Bären, und ich spürte und sah, wie die Wogen des nördlichen Pazifik an die Küste der höchsten und längsten Fachwerkhäuser auf der Welt anbrandeten.

Jemand tippte heftig auf meine Schulter. In einem der Hauptsäle war schon zum Empfang der ersten Ausstellungsbesucher am nächsten Tag das aufgebaut, was von der Stellerschen Seekuh noch übrig war, nämlich ihr einziges dunkles, sauriergroßes, unbezahlbares Skelett aus St. Petersburg. Zwei Itelmenenkinder saßen darin und spielten anscheinend ihre Bahnfahrt nach Deutschland nach. Eines davon hielt ein Glas Sekt in der Hand.

Die Seekuh ist aber zum Glück recht unbeschädigt geblieben. Ich erwähne noch den Schabernack, den die Itelmenen mit einigen zur Eröffnung eingetroffenen Politikern spielten, von denen sich etwa der OB von Halle trotz meiner ausdrücklichen Vorwarnung erschüttert zeigte. Sie hatten den Rücken des OB während seiner feierlichen Rede als Spielleiste für eine Art Kasperltheater mit zwei Trockenfischen und wohl der Pfote von einem Fuchs gemacht und er hatte sich über ein sehr erheitertes Publikum gewundert.

Dann schienen wir uns alle etwas »eingefuchst« zu haben miteinander. Müller-Semrau hatte anscheinend bereits die Koordination mit mir aufgegeben, die ich wenigstens mit einigen Itelmenen gerade noch so hinbekommen konnte, obwohl ich manchmal nicht einmal nachts in mein Hotel entkam.

»Halten Sie sie alle einfach nur in Schach!«, hatte Müller-Semrau mir mal abwinkend zugerufen, als ich zwei der entzückenden Itelmenen-Kleinen, mit denen ich gerade auf der Freitreppe das Belauschen von Kamulen spielte, mal kurz sich selbst überlassen wollte, um ihm einen fliegenden Lagebericht zu geben.

Drei Tage später aber fielen die Schüsse auf dem Pausenhof der Schule. Einer nach dem anderen.

Ich war es schließlich, der den Täter überzeugen konnte, sein Gewehr sinken zu lassen und es dann in einigen Metern Entfernung von uns abzulegen. Schon während von überallher die Sirenen zu hören waren, erklärte ich meinem kleinen Freund Waschka so gut es ging, dass man Schäfchenwolken leider nicht schießen kann. Er bekam Angst vor dem, was nun geschah, und klammerte sich fest um meine Hüften. Wir sahen wohl beide sehr überzeugend zugleich nach Tätern und Überlebenden eines Schulmassakers aus, während uns die Roten und die Weißen umringten. So ging der heulende Spuk der Kamulen ringsum relativ schnell wieder vorbei.

Ich selber war der Schafskopf gewesen, der Waschka das mit den Schäfchen, mäh-mäh-mäh, beigebracht hatte. Schäfchenwolken gab es im windzerblasenen Kamtschatka einfach nicht, und so hatte der Elfjährige die nicht ganz so streng verbotene und verschlossene Kiste geöffnet und das Gewehr genommen, mit dem er schon gut umgehen konnte, um so ein Himmelsschaf zu erlegen. Die waschechtesten Indianer, die ich je kennengelernt habe, stammten allesamt aus Russland.

Müller-Semrau war hell verzweifelt, nachdem ich ihm meinen Beitrag zum Geschehen im Beisein einer attraktiven blonden Dame, seiner guten Freundin aus Berlin, erklärt hatte.

»Ich weiß nicht«, seufzte und grollte er schließlich, »wie ich Ihre Arbeit beurteilen soll! Haben Sie eigentlich alles katastrophal falsch gemacht? Oder soll ich Ihnen für Ihre hervorragende Arbeit danken? Ich weiß es wirklich nicht. Bleiben Sie den Rest der vereinbarten Zeit auf Ihrem Posten und werfen Sie sich notfalls wieder vor einen Gewehrlauf dieser ach so heiteren Gesellen!«

Adele von Strauch schaute mich immer noch laut und hell lachend an.

So hatten mir die Itelmenen den wundervollsten Job auf Erden verschafft. Allerdings nicht auf Kamtschatka, sondern im Charlottenburg meiner Träume.

»Und der kommende Fall?«, hatte Kandida gefragt. »Den du da unterm Tisch so scheel angesehen hast? Er ist sehr heiß und ein bisschen zum Fürchten. Sowas spüre ich. Wird wohl der Fall deines Lebens sein.«

»Ich übernehme ihn gar nicht, Kandida chida.«

Der Berufsverkehr setzte schon ein, als ich völlig fertig im Büro einer Detektei namens Micah & Adele eintraf. Ich kochte mir eine Thermoskanne voll Kaffee, setzte mich so unbequem wie möglich auf einen Stuhl und machte den Fehler, Jan Untieds ersten Teil seiner Erzählung »Virginia Moon« zu lesen.

Amerikatz

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