Читать книгу Amerikatz - Wilhelm Bartsch - Страница 5
1 Charlottenburg
ОглавлениеAmerikatz hatte ihn verkehrt herum aufgehängt und sofort gesehen, dass er dadurch viel mehr war als Kunst. Nämlich die Einladung, jemand ganz Bestimmten sehr tief unter die Erde zu bringen, und zwar auf die grausige Weise der alten Cherokesen.
Ein schnurgerader dunkler Blitz schießt auf ihrem nächtlichen Schnappschuss von der Brooklynbridge aus tief hinab und wird sich, so fühlt man es gleich, unterwegs mit allen Stufen der Finsternis aufladen.
Der abgrundtiefe Fall Luzifers zeige nur, was in uns allen, wirklich in uns allen stecke, hatte Amerikatz später zu mir gesagt. Es wäre wie eine düstere Erleuchtung im Sekundenbruchteil gewesen, eine Gewissheit, die da längst keine Worte mehr gebraucht hätte.
Der nächtliche Schnappschuss zeigt die fahl erleuchteten Brückenseile auf der Manhattanseite. Verkehrt herum aufgehängt verbreiten die Stahlseile jedoch eine Titanicstimmung wie in die Tiefe sinkende Geländer oder das Netz eines Spinnenungeheuers. Was dahinter ja eigentlich den Nachthimmel abbildet, erscheint hier zwingend als ein nach unten hin abnehmendes Licht, und das weht einen sofort an wie eine Nahtoderfahrung, während aus dem oberen Bildrand das strahlende Märchen des Lebens verschwindet. In diesem Fall sind es das New York World Building und Verizon, der dickste Freund der NSA, mit seinem oben an der Fassade rot strahlenden Haken, als wäre auch dieses Gebäude bereits erledigt.
Mit dem Dreher eines Fotos also, ob nun versehentlich geschehen oder nicht, hatte der ganze Fall seinen fatalen Lauf genommen, wie ich heute weiß. Jan Untied, den ich im Auftrag seines Vaters suchte, war ja in der Nähe von Amerikatz und somit immer auch in der Nähe des unheimlichen evangelikalen Milliardärs Deodat Increase Mason zu vermuten gewesen. Jan hatte den Namen Amerikatz allerdings nicht erfunden. Wer denn dann? Deodat? Boris? Archag?
Oder etwa ich?
Ich werde es beim Aufschreiben all des Unglaublichen mit meinem Parker-51-Füller in die drei großen Moleskine-Hefte schon noch herausfinden. Wenn nicht, soll es auch egal sein. Also ein berühmter alter amerikanischer Füller. Gleich in meinen Apple gehe ich nämlich keinesfalls, ein frisch gebranntes Kind scheut das Web, sogar die eigene Festplatte.
Amerikatz, das ist Jensie Immakoolee Stone, inzwischen eine Meisterin der Land & Body Art. Sie stammt von den Cherokees ab wie Johnny Depp, Jimi Hendrix und Elvis Presley. Wer Jensie Amerikatz nennt, weist also vielleicht sogar unbeabsichtigt nicht nur auf etwas mehr als nur Uramerikanisches, nämlich Präkolumbianisches hin, sondern auch darauf, dass Jensie ein Puma, eine Berglöwin, also ein Cougar ist, nämlich eine ältere taffe Frau. Dabei ist Jensie noch gar nicht alt, aber ihr Haar könnte das durchaus vermuten lassen. Ihre Haarpracht wiederum passt ja auch zu Jensies Cherokee-Namen Immakoolee, der Wasserfall bedeutet. Übrigens hatte auch eine ihrer ersten Arbeiten in der Landschaft, mit der sie Aufmerksamkeit erregte, mit dieser amerikanischen Großkatze zu tun, denn sie trug den cherokesischen Titel Tiv Da Tsi, also Puma.
Ich würde jetzt weiter von Amerika und Amerikatz erzählen, um es hinter mich zu bringen, aber dies hier ist vermutlich auch eine Doppelgängergeschichte, also nicht nur der Fall Jan, sondern zugleich der Fall Micah Macrobius. Und das bin ich.
Ich bin wohl ein ziemlich absonderlicher Detektiv, und ich lasse mich, wenn es sein kann und sein darf, auch gefühlsmäßig, ja sehr persönlich in einen Fall verwickeln. Einer, der mittendrin ist, kriegt bei einem Job, wie ich ihn mache, oft mehr mit als ein Außenstehender.
Das hat bisher meinen Erfolg ausgemacht, und zwar seit 1991 als Einzeltäter und seit 1995 als Adele von Strauchs Partner in der Detektei Micah & Adele, Berlin-Charlottenburg, Knesebeckstraße. Meine Spezialstrecke ist die Suche nach Vermissten in den USA.
Der Fall Jan Untied begann damit, dass der angekündigte Bote von Boris Untied bei uns in der Detektei auftauchte. Ich hörte metallbeschlagene Schuhe im Treppenhaus. Der Heraufeilende nahm zwei oder drei Stufen auf einmal, er hatte also keine Zeit für den eigensinnigsten Fahrstuhl auf Erden. Ich klickte die Webside von »Zombie Boy und seine Kollegen« weg und erwartete nun wirklich so einen Kollegen.
Es gab also auch komplett unbeschädigte Zombies in tadellosen Anzügen, die sich morgens, mittags und abends anscheinend eine halbe Stunde lang die Zähne putzen. Dieser hatte einen silbernen Knopf im Ohr, war aber nicht von Steiff, sondern wohl eher von Grill & Gel. Der Mann war eine lackierte Mohrrübe aus dem Oderbruch, so etwas sehe ich, denn ich stamme selber zu drei Vierteln aus dem Osten der Mark Brandenburg. Er überreichte mir eine auf der Rückseite von Boris Untied beschriebene Visitenkarte mit dem in der Form einer Bitte versteckten Befehl, ich solle am besten der Mohrrübe schon zusagen, dass ich die Sache übernähme, denn dann werde er sich als noch großzügiger beim Honorar erweisen. Ich kritzelte ein »Charascho!« in russischen Buchstaben und den Termin gleich am nächsten Tag auf meine Visitenkarte und ließ sie von dem lackierten Zombie Boy zurückapportieren.
Es geschah allein aus Gier nach Geld, unter anderem wegen der Miete und wohl auch in einem Anfall von blöder triebhafter Neugier. Kaum war die Mohrrübe raus, fing ich meinen Federstrich schon an zu bedauern.
Aber da war was, grübelte ich gleich weiter, da war doch mal was ...
Abends zu Hause blätterte ich die zwei Kisten mit den in meinem Auftrag für mich kopierten Dokumenten der BstU durch, im Volksmund Stasiakten. Ich stieß dort auf ein Dokument, das ein Berliner Stasioberst namens Ungerer von der Abteilung XX, Kunst und Kultur, gezeichnet hatte. Ich wollte schon aufgeben, da kam mir die Idee, das genannte Blatt noch einmal vorzunehmen und nach den Verteilern zu sehen. Links oben als Dritter von Fünfen stand er: Generalmajor Untied. Es muss also ein OV, ein Vorgang mit ziemlich hoher Priorität gewesen sein, den ich da tangiert hatte. Gegenstand war eine Hinterhoflesung in Pankow gewesen, eine Lesung jedenfalls jenseits der Prenzlauer-Berg-Szene. Es ging da auch nicht um Literatur en vogue, sondern um einen biografischen, zeitgeschichtlichen Text, dessen Titel der dort nicht fehlen dürfende Horch & Guck kennerisch mit »Nicht im Regen, aber in der Traufe« angab.
Ich erinnerte mich auch dunkel an einen unansehnlichen, zusammengekauerten Mann, der ständig vor sich hin hüstelte und den man mehrmals zum Wiederholen des nuschelnd Vorgelesenen ermuntern musste. Ich erinnerte mich auch daran, dass ich dem Mann, der im KZ Buchenwald gesessen hatte, aber nicht von 1939 bis 1945, sondern von 1945 bis 1947, trotz all meiner Sympathie nicht so recht hatte glauben wollen.
Aber nicht das interessierte mich jetzt. Ich hatte so eine Ahnung davon, dass damals neben mir irgendjemand gesessen haben muss, den ich gekannt habe. Ich kenne freilich viel zu viele Leute, doch ich wollte mich über diesen Unbekannten näher an den Generalmajor Boris Untied herangrübeln und schlief dabei ein. Im Traum war mir dann ein Stasi-Häuptling mit markantem Kinn erschienen, der spielte mit beiden Händen in seinen Hosentaschen mit seinen Orden. Es klang wie knisterndes, schließlich undeutlich flüsterndes Lametta. Es war kein halbwegs säuberlich in Strähnen aufgehängtes Lametta, sondern es waren eher kurze und chaotisch auf dem Baum verteilte Fäden, die sich noch bewegten wie alte Enden längst vergessener Fäden von Erzählungen.
Am nächsten Tag stieg ich wieder einmal in den eigensinnigsten Fahrstuhl auf Erden, um mich inspirieren zu lassen bei meinem Da-war-doch-noch-was. Eigentlich liebte ich ihn, aber ich fürchtete mich auch ein bisschen vor ihm. Dieser Fahrstuhl hat anscheinend Verstand und Stimme, jedenfalls für mich, denn es war mir oft genug so vorgekommen, besonders wenn ich etwas übermüdet war, als sei jemand oder etwas bei mir zugestiegen, um mir manchmal sogar mit meiner eigenen Stimme etwas zuzuraunen, meistens ein Stichwort, das mich dann oft auf eine wichtige Spur gebracht hatte. Das war mir da drin schon passiert, noch ehe ich erfahren hatte, dass ihn schon mein Lieblingslügenbold Karl May und der armenische Mörder und Nationalheld Soghomon Tehlerjan benutzt hatten, die beide hier in der Knesebeck denselben Rechtsberater konsultierten, Karl May wegen seiner Scheidung und dann noch wegen seinem Privatklageprozess gegen den Sensationsjournalisten Rudolf Lebius vor dem Amtsgericht Charlottenburg. Die Scheidung klappte, aber den Prozess hat er verloren. Von da an durfte er auch weiterhin ungestraft »ein geborener Verbrecher« genannt werden. Karl Mays Skandalruhm in der Kaiserzeit hatte damals selbst den von Wilhelm Voigt übertroffen, dem »Hauptmann von Köpenick«.
Und jetzt kommt’s: Eines Tages fand ich im Fahrstuhl Karl Mays seltenes Buch »Lichte Höhen« aus der olivgrünen Werkausgabe. Jemand hatte es aufgeschlagen dort liegengelassen, und merkwürdige Gedichtzeilen über den Tod, der stets unter meinen Füßen droht, sprangen mich an. Ich wusste gar nicht, dass Karl May auch ein Dichter gewesen war.
Ich schätze mich als eher unterdurchschnittlich abergläubisch ein, ich glaube auch nicht an höhere Komplotte, ich glaube noch nicht einmal an Gott. Dennoch hielt ich damals wie heute sowas wie mit dem Karl-May-Gedicht nicht ganz für puren Zufall. Wahrscheinlich muss man Dichter oder wenigstens Detektiv wie ich sein, um bestimmte Verknüpfungen in der Wirklichkeitsfülle dieser Welt ein bisschen ernster im Augenwinkel zu behalten als jemand, der zu wissen glaubt, wie der Hase läuft. Aber ich bin quasi ein Bartenwal und lebe von Krill.
Und wie soll ich mir das mit Soghomon Tehlerjan erklären? Hatte nicht schon Karl May gereicht?
Ich bin nämlich selber ein bisschen Armenier! Na gut, wenn auch bloß zu einem mir immer lieber werdenden Viertel. Soghomon Tehlerjan jedenfalls erkundigte sich im Frühjahr 1921 hier im Haus bei vermutlich demselben Anwalt wie Karl May, wie er sich im Fall einer Anklage wegen Mord verhalten solle. Der Mord stünde aber noch aus. Tehlerjan war ein Armenier, der als Mittäter der Aktion »Nemesis« den früheren türkischen Innenminister Talaat Pascha umbringen sollte, der im Hotel gleich vorne an der Ecke zur Hardenbergstraße logiert hatte und hauptverantwortlich am Genozid an den Armeniern ab 1915 gewesen war.
Tehlerjan, ein stolzer, glutvoller, schöner Mann, wie man auf Wikipedia sehen kann, mit einer geraden und langen und sehr filigranen Nase, die in seinem Gesicht stand wie Gottes gelungenste Schöpfung aus Lehm, hatte beim Genozid seine gesamte Familie verloren und selbst nur schwer verletzt überlebt.
Ich sehe vor mir, wie am frühen Vormittag des 15. März 1921 ein bartloser und unauffälliger, aber etwas dunklerer Herr das Hotel vorne an der Ecke zur Hardenbergstraße verließ und die Knesebeckstraße überquerte. Etwas später ging auch Tehlerjan ohne Gewese wie ein Preuße diesen Weg. Wenig später waren die Schüsse zu hören. Sie mussten in der Nähe der Kreuzung Hardenberg- und Fasanenstraße gefallen sein.
Soghomon Tehlerjan wurde in einem der aufsehenerregendsten Prozesse des 20. Jahrhunderts am Kriminalgericht Berlin drüben in Moabit aus psychiatrischen Gründen freigesprochen vom Mord an Talaat Pascha, und Franz Werfel beschloss, einen Roman zu schreiben, der später unter dem Titel »Die vierzig Tage des Musa Dagh« weltweites Aufsehen erregte. Soghomon Tehlerjan aber wanderte aus nach Amerika.
Ich war ebenfalls seit mehr als zwanzig Jahren sehr oft in Amerika gewesen und fühlte mich bis vor Kurzem dort auch noch so unternehmungslustig wie ein Auswanderer.
Doch zurück zu jenem Tag, als ich wieder einmal den Fahrstuhl benutzte, ehe Boris Untied kam und kraft seiner Bedeutung eine Bugwelle erzeugte, die mich mehr als 25 000 Kilometer auf der Nordhalbkugel und irgendwie auch durch die halbe und sehr untote Geschichte der Menschheit geschleudert hat.
Es ist ein äußerst langsam fahrender Holzkäfig aus der Kaiserzeit mit roten Samttapeten, einer roten Decke, mit einem roten Teppich und mit klickernden Messingscherengittern. Uralter vergoldeter Feinstaub lag wie immer in der Luft und schärfte meine Nase. Ich setzte mich da drin auf die rot gepolsterte Bank. Aber diesmal kam keine Einflüsterung, obwohl ich noch müde war von zu wenig Schlaf und durchgedreht von der Stasischeiße. Ich hatte das dumme Gefühl, mich auflösen zu müssen, als ich mich, auf unserer Etage angekommen, wieder erhob und in den Spiegeln ringsum sah, wie ich mich, wenn dort auch verhundertfacht, in einer dunklen Unendlichkeit verlor. Außerdem zog es merkwürdig kalt herauf.
Da hatte ich an diesem Tag doch noch eine Einflüsterung. Foggy Gellhorn, mein Cousin und Mitarbeiter aus Iowa, raunte ein kleines Wörtlein in mein Ohr, nämlich »dissen«. Wen sollte ich denn dissen? Oder war bloß »dis« gemeint?
Ich rief gleich Foggy in Dubuque an. Er war ja immer zu Hause und auch nachts wach.
»Was heißt ›dis‹, Foggy? Geschrieben mit d, dann i und s.«
»Spielst du denn neuerdings auch? Meinst du die City of Dis?«
»Was für ein Spiel denn, Foggy?«
»Na, Dantes Inferno, Visceral Games von 2010. Hab ich auf PSP.«
»Antworte mir, dann kannst du dich wieder hinlegen zu deinem PC.«
»Dis ist die Eishölle, wo du dich wappnen musst mit großer Stärke.«
»Und wo liegt die?«
Foggy sagte nach einer Weile: »Etwa minus 666. Etage.«