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2 Charlatanburg
ОглавлениеIch arbeite als Detektiv, überführe aber nicht, denn das macht ohnehin nur die Polizei. Ich ermittle noch nicht einmal vollständig. Ich vermittle am liebsten wie in meinen meisten Fällen Anfang der neunziger Jahre, vorausgesetzt natürlich, die Gesuchten sind noch am Leben. Freilich habe ich auch Fälle, es sind inzwischen sogar die meisten, wo ich eher nur ein Schnüffler bin und zu berichten habe, was diese oder jener so alles macht. Am meisten hasse ich die Shoppen-und-Ficken-Jobs, wo ich meist jüngere Frauen beobachten und, wenn es sein muss, auch steuern oder von was abhalten soll. Dergleichen würde ich eigentlich ablehnen, aber leider nicht, wenn es in New York ist.
Adele jedenfalls hat sich ziemlich gut und schnell auf meine anfangs für sie noch sehr seltsamen Klienten eingestellt. Dann hatte es schon in den Neunzigern nachgelassen mit diesen seltsamen Ossis in Amerika, und zwar in dem Maß, wie die Aufträge für das Arbeitsfeld Shoppen & Ficken zugenommen hatten. Aber der größte Brocken aller Zeiten aus meinem Arbeitsfeld »Ossis in Amerika« sollte erst noch kommen.
Es war bereits am späten Nachmittag des Tages nach dem Besuch der lackierten Mohrrübe. Als ich den seltsamsten Fahrstuhl der Welt klickernd kommen und dann das leise Beben seines Stopps spürte, freute ich mich nicht gerade. Ein eher düsteres Vorgefühl kam in mir auf. Ich erwartete feste, regelmäßige Schritte. Aber Generalmajor a. D. Boris Untied trat auf leisen Sohlen ein, sah mich und stutzte, aber sogleich wurde seine Mimik wieder nichtssagend. Er trug eine graue und gewiss nicht billige Lederjacke. Sie sah fast so aus wie meine. Ich konnte den Kerl schon jetzt nicht leiden. »Barriess Untieed!«, brummte er wie der russische Bär persönlich, quetschte meine Hand und zog mich dabei dicht an seinen Wanst heran. Ich kannte dergleichen Penetranz noch irgendwoher von früher.
»Ah!«, rief er und wies auf meine vollgestopfte Bücherwand. »Das ist wohl Ihre Fachliteratur?«
»Könnte man so sehen«, sagte ich.
»Da hat er doch tatsächlich auch den kompletten Leo Tolstoi vom Verlag Rütten & Loening in der DDR!«, nickte er anerkennend.
Dieser Mann war vielleicht doch kein Zyniker durch und durch. Vielleicht träumte er immer noch einen Traum des Kampfes gegen die Ungerechtigkeit? Überzeugungstäter waren mir unheimlich. Ich fand sie eher krank als böse und wollte von jeher als Nichtmediziner solche Nüsse nicht zu knacken haben. Untied hatte jedenfalls noch einen Glutkern von früher dabei, spürte ich, wie er gerade jetzt da und dort gebraucht werden mochte, sei es beim FSB, sei es bei der CIA oder sonstwo. Wenn ich den also näher an mich heranließe, könnten meine guten Karten in den USA bald die allerschlechtesten werden.
»Sind Sie sich im Klaren darüber«, fragte ich so scherzhaft und ahnungslos wie möglich, »dass Sie mir, falls wir uns wirklich mit Ihrer Angelegenheit beschäftigen sollten, alle Fäden übergeben müssten, die Sie da in Ihren verschränkten Händen versteckt halten?«
Untied stand auf und streckte mir seine offenen Hände hin.
»Bitte bedienen Sie sich. Sie dürfen alle Fäden nehmen. Ich habe aber, gestehe ich, auch noch einige davon zu Hause gelassen.«
»Also, was wollen Sie, Herr Untied?«
»Micah & Adele ist in meiner Angelegenheit die beste aller Detekteien. Wundert Sie das? Ich suche jemanden.«
»Wie kommen Sie nur darauf, dass wir das besser könnten als Sie?«
Dieser Mann da war quasi ein Kampftaucher und, wie ich längst recherchiert hatte, nicht nur einst Chef einer geheimen Abteilung bei den Grenztruppen der DDR gewesen, die die Amerikaner »Iron Curtain Cleaners« getauft haben, sondern soll auch später eine bis heute sehr undurchsichtige Rolle als Verbindungsmann zum KGB der Sowjetunion und ganz persönlich zu Juri Andropow gespielt haben, durch den der Aufstieg von Gorbatschow erst ermöglicht wurde.
»Ich weiß, ich werde nur Schwierigkeiten bekommen mit Ihnen, Micah Macrobius!«, lachte Untied mit dem Charme eines Schwertransporters aus dem Ural. »Über Geld müssen Sie aber mit mir gar nicht reden. Stellen Sie einfach, sagen wir mal, kluge Rechnungen und ich zahle sofort! Natürlich auch im Voraus. Wissen Sie, warum ich Ihnen so vertraue? Sie haben armenisches Blut in sich, und Sie haben gleich nach der Wende einem Major der DDR-Grenztruppen und einem Panzerhauptmann der NVA geholfen.«
»Von meiner armenischen Verwandtschaft mal abgesehen, können Sie das eigentlich gar nicht wissen.«
»Ich finde auch Ihren Kompagnon und Cousin Foggy Gellhorn in Iowa gut.« Spätestens jetzt musste er meine Verblüffung spüren.
»Wollen Sie mich mit etwas beauftragen oder mich zur Strecke bringen?«, fragte ich. »Ich bearbeite durchweg harmlose, rein menschliche Fälle und habe leider nur noch fünf Minuten für Sie, Herr Untied.«
»In fünf Minuten«, sprach der Haifisch so ganz nebenbei, »bin ich mit Sicherheit noch da.« Er packte eine Mappe aus und legte sie auf meinen Tisch. »Weil ich Ihnen viel mehr bezahlen werde als bereits angekündigt, sollten Sie etwas weniger harmlos als sonst arbeiten. Aber nur keine Bedenken, Micah Macrobius! Ich werde darauf achten, dass Sie sich möglichst immer auf den üblichen Bahnen des Privatdetektivs bewegen können!«
Wieder sah er mich so seltsam wie anfangs an, als ob wir uns schon einmal irgendwo begegnet wären. Außerdem schien der Stasi-Generalmajor a.D. Boris Untied wirklich in der Bredouille zu stecken.
»Ich muss Sie nochmals fragen: Was wollen Sie, Herr Untied?«
»Meinen Sohn finden«, sagte Untied, kaum dass ich meine Frage beendet hatte.
»Warum?«
»Rein persönlich. Andere Gründe spielen keine Rolle.«
»Sind aber vorhanden?«
»Falls ja«, sagte Untied, »klären Sie mich auf.«
»Wie heißt er?«
»Jan Untied«, sagte er irgendwie bedeutungsvoll und sah mir in die Augen.
»Warum wollen ausgerechnet Sie das und kein anderer aus der Familie?«
Boris Untied hielt meinem Blick nicht richtig stand. Und auch ich konnte seinen Blicken nicht folgen. Buschige Leonid-Breshnew-Augenbrauen hatten sich darüber gewölbt. Die verbargen, wenn mich meine Gefühle nicht trogen, einen Vater voller Kummer.
»Ich bin neben Jan noch der Einzige in der Familie. Er scheint schwerkrank zu sein. Es gab immer Streit zwischen uns, bis er mit mir gebrochen hat, aber der Jan bleibt nun mal mein Sohn. Er mag vielleicht doch ein guter Dichter sein, aber ich passe besser ins Leben.«
»Okay. Wo in den USA sollte ich Ihrer Meinung nach Jan Untied am besten oder zuerst suchen?«
»Es passierte da, wo auch die CIA zu Hause ist, in Virginia. Dort ist meinem Sohn einiges geschehen. Bis er schließlich verschwinden musste.«
»Wegen der CIA?«
»Oder wegen dem Heimatschutzgesetz der USA? Lesen Sie das Ding da auf dem Tisch und stellen Sie mir erst danach Ihre Fragen!«
Ich blickte hin zu Boris Untieds Mappe.
»Was ist das?«
»Lesen Sie’s später, dann werden Sie es schon merken«, sagte Boris Untied und erhob sich zu seiner mich erneut überraschenden Untersetztheit.
»Rufen Sie mich an, wenn Sie damit fertig sind!«, befahl er. »Aber bitte Beeilung, Maestro!«
»Untied! Ich bin nur ein kleiner Detektiv mit Aufträgen aus der Alltagswelt der Leute. Setzen Sie sich doch noch mal kurz hin. Wieso eigentlich machen Sie diesen Job nicht gleich selbst? Außerdem haben Sie doch sicherlich Freunde vom FSB oder von sonstwem in Langley, Virginia, wie auch vor allem in Berlin, Moskau und Kabul?«
»Junge«, knurrte mich der Stasibär leise an. Er war natürlich stehengeblieben. »Das fehlte noch! Hast du denn rein gar nichts geschnallt?«
»Doch. Ich hab nur ein Problem. Ich kann einfach nicht für einen wie Sie arbeiten!« Und tschüss, Mietenzahlung, dachte ich noch.
»Das hab ich doch schon mal gehört«, überlegte Untied. »Ach ja, das war von dem, den wir beide suchen wollen. Apropos Kabul: Ich war vor einiger Zeit mal da. Ich sag Ihnen jetzt mal was wegen früher und heute, so viel Zeit muss sein: Kennen Sie diesen – von und zu, na den, der bis vor Kurzem noch ein Ranghoher bei den Grünen gewesen ist? Ich hab den in meine Hotellobby in Kabul hereinkommen sehen. Er hatte gleich sieben Leibwächter mit, die sich augenblicklich nach allen Seiten verdrückten. Einer davon blinzelte mir erstaunt zu. Ich kannte den nämlich! Er war einst bei der rumänischen Securitate. Die verkaufen sich ja auch nur im Pack, diese Kollegen. Die ehemaligen Leute von der Securitate sind heute noch heiß begehrt auf dem Markt – ponimaj? Was – Micah – sagt Ihnen das?«
»Na schön, Untied. Es sagt mir, dass wie üblich die Rotfedern und die Karpfen aufgefressen werden, aber die Haifische weiterhin ungehudelt herumschwimmen. Das kann man übrigens noch halbwegs verstehen. Natur eben. Rotfedern und Karpfen wachsen halt nach. Und die Haifische sind Fachleute und werden gerade heute anscheinend dringender gebraucht als Suppenfische. Wie ist es jedoch mit Folgendem? Gleich nach der Wende wollte ich mal einen Job in einer westdeutsch geführten Firma antreten«, erzählte ich, um gerade nicht vor Untied als Kerzen schwenkender Idealist und Menschenliebhaber dazustehen. »Die Personalchefin war freundlich und offen. Sie sagte, dass sie einen, der schon vor der Wende unter Honecker auch innerbetrieblich aufgemuckt hätte, lieber doch nicht einstellen würden.«
Da lachte der Haifisch: »Das war doch aber richtig, nicht wahr? Genau das meinte ich auch mit meiner Geschichte! Also von welcher Wende sprechen Sie eigentlich?«
Jetzt wurde ich richtig sauer.
»Von folgender Wende«, sagte ich in einem Ton, den ich erst recht nicht bei mir ausstehen konnte – ich dozierte: »Früher hat meine Mutter Arbeit gesucht, kriegte aber in der DDR keine, nur Scheißjobs oder Billigjobs oder dann Kneipe. Wir wohnten in einer Scheißbude. Meine Mutter und ich fuhren manchmal mit dem Fahrstuhl in einem Hochhaus der Leipziger Straße bis nach ganz oben, um nach Westberlin rüberzublicken. Tief im Grün da drüben, sagte meine Mutter jedes Mal, fängt Charlottenburg an. So heißt nämlich heutzutage das Paradies, Micky Mäuschen, hat sie gesagt. Und jetzt? Ich habe ein Büro in Charlottenburg. Ist Ihnen das Wende genug? Ich denke, unser Büro wird Ihre Sache nicht übernehmen können, Herr Untied!«
Ich erhob mich, Untied griff nach der Mappe, aber eine andere Hand legte sich darauf, um den Zugriff zu verhindern. Es war meine. Auch der Körperverstand kann sich mal irren. Oder auch nicht.
»Rufen Sie mich nach dem Lesen an, am besten gleich morgen früh, und kommen Sie dann gleich zu mir«, sagte Untied in der Tür und sah mich noch einmal aus einem ganz anderen Augenwinkel an. »Mir geht es übrigens auch so, dass ich mich an die allermeisten Mädels und Jungs aus der Parallelklasse nie erinnern kann.«
Ich drückte mir die Daumen, dass er schnell runter ging. Er benutzte natürlich den Fahrstuhl. Ich horchte ihm wohl eine Ewigkeit nach.
Jan Untied. Ich war also, wahrscheinlich sogar mehrmals, dem Sohn eines Stasigenerals begegnet. Natürlich! Man vergaß doch keinen, der so einen Vater hat!
Ich habe eher zufällig neben ihm bei der Vorlesung in Pankow gesessen, und jetzt, ganz jäh, hörte ich die schrille Stimme wieder, noch viel länger her war das als die Vorlesung mit dem Buchenwaldopfer, eine Stimme auf dem Schulhof. Wahrscheinlich haben wir Jungs damals gerade den Film »Der elektrische Reiter« mit Robert Redford im Kino gesehen. Der mit der schrillen Stimme machte gerade einen großen Fehler, denn er versuchte, das noch zu toppen, und erzählte, dass er in Wandlitz schon oft auf dem elektrischen Pferd von Erich Mielke geritten sei.
Jan Untied hatte es vermutlich nie in eine Clique geschafft.
Nun aber war mir etwas geschehen. Ich ahnte, dass es vor allem etwas war, das ich damals noch gar nicht begreifen konnte, und mit Jans Vater hatte es auch nicht viel zu tun. Ein wahres Verhängnis nenne ich etwas, das nicht kommt, sondern zu dem man hingeht, hingehen muss. Man benutzt dazu Wege, die auf keiner Karte stehen, und so ergibt sich durchaus eine gar nicht folgerichtige Geschichte. Denn erst, wenn man überhaupt die Chance hat, diese Geschichte halbwegs zu überblicken, sind wirklich zusammengehörige Muster zu erkennen. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil wir selber es so wollen.
Ich konnte nun nicht mehr vor mir selber verleugnen, dass mich diese Sache sehr zu interessieren angefangen hatte.
»Kommt der Lederrusse etwa wieder?«, hatte Adele geschimpft.
Sie stand hinter der Türschwelle und wollte sie anscheinend keinesfalls überschreiten. Das tat sie sonst immer, wenn ich an meinem Mac saß, schon um vielleicht herauszubekommen, welche meiner Favoriten ich diesmal auf dem PC durchklickte: Botoxmonster, Outfit des Grauens oder Zombie Boy und seine Kollegen. Mein größter Liebling war immer die Mutti von Silvester Stallone.
»Nein«, sagte ich, »kommt er nicht, aber ich könnte morgen hingehen und danach gleich zur Bank.«
»Ich hoffe, deine Seele ist wenigstens fünfstellig!«, rief Adele beim Davonstöckeln. Sie ließ meine Tür weit auf.
»Gibt’s eigentlich ein Zweitexemplar bei Teufelspakten?«, rief sie aus ihrem Büro. »Und zieh dich an! In fünf Minuten gehen wir rüber ins Bogota!«
»Ich wohl lieber doch nicht?!«
»Und wehe, du nimmst diese Stasiakte da auf deinem Tisch zum Lesen mit!«
»Adele! Ich bleib hier bei der Stasiakte!«
»Dann kuckste eben ein bisschen rein, wenn wir Mädels was besprechen!«
»Okay, Nervensäge!« Ich steckte die Akte ein.
»Aber du kommst sowieso nicht dazu, Micah!«
»Also gut, dann noch ein Spritzerchen von Adeles Herrenwasser«, murmelte ich. Eulenohr Adele hörte es dennoch.
»Mach’s lieber nicht! Meine Kandida ist, wie ich dir schon erzählt habe, eine gefährliche Dame!«
»Dieses Zeug von Penhaligon’s schützt mich ja auch davor«, log ich.
»Übrigens – wieviel?«, sagte sie und hakte sich bei mir unter.
»Wenigstens fünfstellig. Ach ja. Einen Vertrag gibt es noch nicht. Bei der Blutentnahme durch den Teufel rollen meine Adern doch immer erst mal weg.«
»Bei dir klappt es doch generell nicht bei der Blutentnahme«, sagte Adele.
Ein größerer Vertrag wie der womöglich anstehende war allerdings notwendig geworden, denn die nicht gerade niedrige Miete und eine beträchtliche Steuernachzahlung standen ziemlich dramatisch an. Es wäre also sehr gut, wenn das schon einen Tag später hätte erledigt werden können. Aber ich wollte diesen Klienten noch nicht wirklich, und Adele merkte mir das an.
So war das eben manchmal, wenn man völlig zu Recht in der wunderbaren Knesebeckstraße in Berlin-Charlottenburg sein Kanzlei-Wigwam errichtet hatte. Adele und ich waren in unserer Firma zugleich der Boss, die Tippse und die Putze. Auf diese Weise überlebt man vielleicht in Wladiwostok, aber nicht in Charlottenburg. Deshalb mussten wir bei sich bietender Gelegenheit wie schwindelfreie Mohawks diesen oder jenen Stahlträger oben in die Berliner Luft einziehen. Berlin hat zumindest eine virtuelle Skyline, aber weil sich alle beteiligten Bauherren und Mohawks meist auch ohne Absprachen ständig von Neuem irgendwie auf die relative Höhe der Vorhaben und Träume einigen, ist diese Skywalkerszene halbwegs real, was die dabei herausspringenden Summen betrifft – auch für den Beruf des Sittenschnüfflers.
Es gibt rein gar nichts Abwertendes über Adele und ihre Arbeit zu sagen, und was die Sitten betrifft, so hat gerade Adele sie ja nicht in Berlin oder anderswo eingeführt. Ich war nur sehr selten mal bei ihr zu Hause gewesen, meist bloß, wenn ich sie abholte. Von ihren Beziehungen zu Männern weiß ich so gut wie nichts, weil sie davon allenfalls karge Andeutungen macht und schnell eingeschnappt ist, wenn ich nachbohre. Allerdings war sie einmal bei mir gewesen – ooops! »But it was a wrong time for somebody new«. Seitdem vermeiden wir meine Höhle. Ich glaube, dass Adele im Gegensatz zu mir so etwas wie neulich nur sehr selten passiert. Bis an einen gewissen Rand aber geht sie schon. Sie hat das Zeug und die Lust dazu.
Einmal, als ich sie vom Coiffeur Savan am Savignyplatz abholen sollte, sah ich sie von draußen durch die Schaufensterscheibe ausgerechnet mit der bunten vorm Gesicht. Für heute ist Schluss mit Arbeiten, hatte ich im Laden zu ihr gesagt und wollte die Zeitschrift aus ihren Händen entsorgen, aber Adele hielt sie fest und ich musste mit ansehen, wie sie den Artikel zu Ende las mit einer sehr süßen Zornesfalte auf ihrer Stirn. Adele Nachtfalter ist oft auch noch bis tief nachts unterwegs, manchmal bin ich auch dabei und staune immer wieder, wie viele Leute sie kennt.
Adele ist trotzdem keine Sittenschnüfflerin. Sie hat allerdings eine feine Witterung und die filigrane Nase dazu – ältere Herrschaften haben sie schon für Uta von Naumburg gehalten, und wenn sie dazu noch gebildet waren, auch für Reglindis vom Naumburger Dom. Beides ist wohl nicht ganz unrichtig. Adeles Erscheinung am nächsten kam jener Mann, der sie mal angeschwärmt hatte als Uta mit dem Lächeln von Reglindis, aber dies mit echt Berliner Grübchen. Auch an ihrer Kleidung wollen die meist Neureichen in Halbseide eher eine wohlhabende Stifterin erkennen, aber Adele entstammt den Mietskasernen und schneidert selber. Nur für ihren Schmuck verausgabt sie sich ein bisschen. Er ist ihr eigentliches Markenzeichen, und die schrägen Silberbroschenfrösche, Möwenringe, Schlangenarmreife und Colliers aus Holzfischen, schönsten Silberknoten oder Spiralen stammen allesamt von Dorothea Prühl. Das ist erste Liga, und wenigstens ein Stück von der ist immer an ihr zu erblicken.
Die Kundschaft dreht sich jedenfalls oft vor der Erscheinung Adele von Strauch wie vor einem Spiegel. Sie adelt noch die allerschmuddeligste Angelegenheit und lädt sie mit Bedeutung auf. Jeder Drecklappen findet sich bei Adele hochkultiviert und hip. Wie sie doch ihre Urberliner Schnauze, wenn es sein muss, durch eine kultivierte Stimme ersetzen kann. Eine multiple Persönlichkeit könnte das nicht besser.
Ohne Adele im Gespann hätte ich längst einen anderen Beruf, und sie auch, denn wir beide sind vielleicht ja eher Künstler und Geisterbeschwörer, als dass wir Detektive sind. Aber eben das macht zuweilen unseren Erfolg aus.
Anfangs hatte sie mich noch Winnetou genannt wegen meiner Fahrstuhl-Abenteuer. Außerdem hat sie wie ich in der Jugendzeit Karl May verschlungen. Als die Spottdrossel, die sie gern ist, meint sie mit Winnetou, wenn sie mich so nennt, immer jenen unkenntlichen Indianer im achten Kapitel von »Krüger Bei«. Sie hat mir einmal, um mich auf den Arm zu nehmen, daraus vorgelesen, nämlich die Stelle, wo sich Old Shatterhand zurückverwandelt in einen biederen Sachsen der Liedertafel. Dann tauchte schließlich Winnetou auf – im Anzug! Er hatte einen Zylinder auf, in den er alle seine Häuptlingshaare gestopft hatte. Auf seinen Spazierstock gestützt, begann er bald zu schluchzen, weil das deutsche Lied erklang. Winnetou hatte seine berühmte Silberbüchse, seinen Federschmuck und den Tomahawk im Dresdner Hauptbahnhof bei der Gepäckaufbewahrung abgegeben.
Zu den wenigen, die Adeles Witze dieser Art schätzen können, gehört ihre beste Freundin Kandida Goytia, die ich bisher immer verpasst habe, wenn sie aus Kolumbien kommend natürlich im »Bogota« abgestiegen ist.
Kandida ist der einzige Mensch, von dem Adele nicht »in Ausdrücken«, sondern schwärmerisch und auf hochdeutsch redet. Das geschieht zwar nicht oft, aber es fällt mir auf, weil Adele, außer dass sie sich eher selten unnachahmlich schräg über ihre Kundschaft äußern kann, von den Leuten nie denunzierend, aber auch nicht gerade warmherzig redet.
Wenn wir aber mal auf meine immerhin fünfundzwanzigprozentige armenische Abstammung kommen, dann berlinert sie stärker als sonst und ihre Witze werden gröber, aber sie kommen ihr aus dem Herzen.