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Die besten Köpfe braucht das Land

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Bereits am Silvestertag von 1812 erfuhren Halles preußische Patrioten von General Yorcks welthistorischer Tat, der Konvention mit den Russen gegen Napoleon tags zuvor. Es müssen also Chappes Balken-Telegraphen auf der ganzen Linie bis nach Tauroggen hinauf schon fest in patriotischer Hand gewesen sein. Der letzte Abschnitt des Nachrichtenweges bestand aus einem scharfen Ritt über die Grenze und in die östlichste Stadt des Königreiches Westphalen, Halle an der Saale. Jedenfalls konnte Preußens König jetzt nicht mehr lange zögern und erließ am 3. des Februars endlich seinen Aufruf an das Volk zum Widerstand gegen die französischen Besatzer und zur Bildung freiwilliger Jägerkorps. Höchstvermutlich ging das preußische Hauptquartier nun nach Breslau, vielleicht dann bald sogar weiter vor auf Dresden, um neben den Russen auch die Österreicher zu einem Bündnis zu animieren.

»Komm gar nicht erst auf Ideen, Bruderherz«, hatte Meckel im Präpariersaal des Riesenhauses zu mir gesagt und auf die an genau diesem Tag frisch angefangene wunderschöne Doppelmissgeburt gewiesen. Deren Beschreibung widmete er zwei Jahre später Jean Paul. Von da an sollte er auch als Begründer der Missgeburtenlehre gelten. »Das da ist nämlich das Gefechtsfeld für einen so guten preußischen Prosektor wie dich!«

»Meckels Tote sind die lebendigsten«, höre ich nun heute noch wie damals meinen imponierend groß und gerade gewachsenen Freund Ludwig Wucherer scherzen. »Preußen aber braucht jetzt so scharfäugige Büchsenschützen wie unsern Albrecht, der den Feind auch richtig totschießen kann!«

Ludwig Wucherer war, wie immer, noch gar nicht ganz zur Tür herein gewesen und hatte bereits jenen Raum, dem sonst ein Meckel befahl, mit seiner Vorgabe für das anstehende Gesprächsthema beherrscht. Mein Ludwig konnte sich dergleichen Respektlosigkeiten gegenüber Meckel erlauben und ohne vorherige Anmeldung und ohne anzuklopfen sogar den Präpariersaal des Riesenhauses betreten.

»Da hast du aber was falsch verstanden, Ludwig!«, widersprach Meckel, »meine schönsten Monstren faszinieren den Kenner gerade durch ihre Art von ewigem Leben, also dadurch, dass sie nicht tot sind! Sie haben gar nicht erst gelebt. Albrecht hingegen lebt sehr – und wird einmal dementsprechend tot sein. Das Vaterland braucht den da auf seiner besseren, der lebendigen Seite, Ludwig!«

Meckel liebte Halles neben den Salinenbetreibern wichtigsten Fabrikanten seit jenem Tag im Jahre 1803, als wir unseren Vater matzerierten und sein berühmtes Skelett herauspräparierten. Wer konnte schon wissen, dass Ludwig, der damals gerade auch bei Justine Forster, der Tochter unseres polternden Professors Reinhold Forster, des Weltumseglers mit James Cook, sein perfektes Englisch lernte, 1815 bei der Schlacht von Waterloo der wichtigste und tollkühnste Meldereiter zwischen Wellington und Friederikes Patenonkel Blücher sein sollte. Dann hatte er noch die selbst gewählte Aufgabe, die sogenannte Retourkutsche zu befehligen, welche die Quadriga von den Pariser Tuilerien zurückbrachte auf das Brandenburger Tor.

»Ich habe von unserm Reil gehört«, sagte Meckel, »dass man euch Partisans schön weit weg vom Feind rekrutieren will, in Breslau. Gefällt mir nicht. Kennt ihr nicht jemanden, der unserem Reil mal so eben den Kopf von Napoleon bringt? Stellt euch mal vor, jetzt hat Reil sogar darüber was geschrieben! Traut sich damit zurück von Berlin in sein Haus nach Halle, wenn auch nur seine üblichen zwei, drei Wochen, und kommt so vielleicht doch noch vors westphälische oder französische Standgericht! Und dann dürfen Gall und Spurzheim in Paris, oder dort vielleicht sogar mein verehrter Freund Cuvier?, seinen sturen Friesenschädel mit ihren Messern durchsuchen!« Meckels Auge hatte da auf einmal geblitzt wie noch nie und er rieb sich die Hände.

Ich kannte mein Bruderherz ein bisschen und wusste, dass manch einer seiner Witze in reinsten Ernst umschlagen konnte. Ludwig Wucherer bat ihn auch gleich, sich und Reils gut patriotische Idee doch näher zu erklären. Du wirst es nicht glauben, mein Sohn, Meckel zog ein bereits zerlesen wirkendes Papier unter seiner wie alle seine Arbeitskleidungsstücke schwarzen Weste hervor. Dabei weißt auch du, mein Heinrich, wie penibel getrennt er sein schreibendes von seinem schneidenden Arbeitsfeld zu halten pflegt.

Er ging gleich lesend zur Sache, übrigens mit grimmigem, wenn nicht auf Meckel’sche Weise sogar patriotischem Vergnügen: »Schon um die Zeit des Jahres 1795, als ich die Organisation der Nerven untersuchte, habe ich mich auch mit dem Bau des Gehirns beschäftigt und einige Resultate meiner Untersuchungen im ersten Bande von Gren’s neuem Journal für die Physik abdrucken lassen«, las, nein deklamierte Meckel den Brief von Reil. »Allein, ich musste damals eine Arbeit aus Mangel an Muße liegen lassen, die ich jetzt aus Mangel an Geschäften wieder hervorsuche, den ein unseeliger Krieg, welcher mich aus dem Kreise meiner Zuhörer riss, über mich verhängt hat. Doch auch Disteln haben ihre Honigkelche. Eben dieser Krieg hat mich an seine Quellen geführt und mich zur Untersuchung des Organs hingedrängt, in welchem er und fast alles Missgeschick des Menschengeschlechts, alles Große und Edle, wie alles Kleine und Schlechte, was unter dem Monde geschieht, seine Wurzeln hat ... Denn wenn auch den Toren, an deren Schädel ganz andere Fächer angeschrieben sind, als in welche sie der Zufall geworfen hat, die Gall’sche Schädellehre ein Ärgerniß sein mag; so muss sie doch die Masse in ihr Interesse ziehen, die täglich die Erfahrung macht, wie viel darauf ankomme, die Köpfe zu kennen, deren einer zureicht, eine Generation des halben Erdballs glücklich oder unglücklich zu machen. Möchte es mir gelungen sein, zur Ergründung dieses geheimnißvollen Organs, das die Bedingung, aber zugleich auch die Schranke aller empirischen Idealität und das einzige Problem der Philosophie ist, auch nur etwas beigetragen zu haben; so wäre nie ein Krieg in seinen Folgen heilsamer als dieser gewesen.«

Meckel sah Ludwig und mich wechselweise triumphierend an. »So muss ein Freischärler handeln, wenn er zugleich Anatom ist! Bringe Reil und mir doch einer von euch mit dem Säbel anatomierenden Partisans oder Brigands mal den Kopf von Napoleon!«, rief er grimmig vergnügt in die imaginäre Richtung des deutschen Vaterlandes.

In diesem Augenblick kam Meckels Filipo, das gelehrige Saju-Äffchen, das wir vor zwei Jahren in Neapel von einer Drehorgel weg gekauft hatten, herbeigesprungen und reichte Meckel das Fläschchen mit Kloschwitzer Kirschgeist, mit dem Meckel sein werdendes Präparat schon einmal ringsherum bekannt gemacht hatte. Filipo war eine Person für Meckel, wie du weißt, und er pflegte immer auf den Saju des Brasilienforschers und Prinzen Wied zu Wied hinzuweisen, der schon Eingang in die Personenverzeichnisse mehrerer Bücher gefunden hatte. »Danke, Don Filipo«, sagte Meckel also mit allem ihm gebotenen Ernst, behielt das Fläschchen in der Hand und ließ das Äffchen auf seine Schulter. Dann durchdrangen mich beide mit ihren Blicken, und ich bemerkte erstmals, dass Meckel inzwischen ebenso häufig mit seinen Augendeckeln plinkerte wie sein kleiner neapolitanischer Assistent.

»Aber mach’s, wenn du der erfolgreiche Jäger des Kopfes von Napoleon sein solltest, mit einem Blattschuss!«, sagte Meckel. »Reil breche dann das Hirn nach seiner Methode. Und ich als sein Freund und sein Hirnanatomieassistent darf wohl dabei sein!«

»Unser lieber Onkel Reil!«, wunderte sich Ludwig. »Bei dir hingegen, Onkel Fritz, verblüfft mich dergleichen gar nicht. Wer von euch kam bloß auf die Idee mit dem Napoleons-Kopf?«

»Das geht bei uns doch Hand in Hand«, hatte Meckel da gesagt. »Es ging ein Wort von Napoleon um, das ich meinem Reil weitersagte. Es lautet: ›Meine eiserne Hand befindet sich nicht am Ende meines Armes, sie ist unmittelbar mit dem Kopf verbunden.‹ So. Mich interessieren nun vorrangig solche beeindruckenden Missgeburten, unsern Reil eher deren Hirn. Aber Scherz beiseite. Bringe mir ein Objekt dieser Art, Bruderherz, und ich gebe dir Urlaub für so viele Schlägereien und Raubzüge, wie du möchtest!«

Es gibt ernste Wahrheiten, mein Sohn, die zunächst als launige Scherze auftreten. Daran, dass wir 1814 nach Neapel mussten, mag vor allem das Skelett deines Großvaters schuld sein. Aber daran, dass wir dann dort im Königspalast ein und aus gehen konnten und deinem Onkel deshalb zum Beispiel überhaupt erst richtig bewusst werden sollte, wie sehr er deine Tante doch liebte – das hat auf jeden Fall mit diesem Meckel’schen Scherz begonnen, den ich doch tiefer mir ins Herz eingelassen hatte, als ich damals ahnte und als es mir dann lieb sein sollte ...

»Aber du, Ludwig«, versuchte Meckel weiter, uns vom Partisanenleben abzuhalten, »bist du nicht für an die zweihundert Leute hier in der Stadt und für an die tausend Weber oben auf dem Harzgebirge verantwortlich? Schicke an deiner Stelle doch zehn deiner Männer, die du sowieso gern entlassen würdest, zu dieser ganzen patriotischen Strauchdieberei nach Breslau!«

»Ich muss sowieso nach Breslau, zungenscharfer Meckel«, lachte Ludwig. »Dort bei Froböß und Companie habe ich ja, falls du dich erinnerst, sowohl Kaufmann als auch das Bankenwesen erlernt. Es gibt dort außerdem die sogenannten Russenmärkte. Nun das Folgende: Meine Gorgas-, Serge- und Kasimirproduktion hier in Halle ist jetzt sowieso fast am Ende, schon weil für mich durch die Kontinentalsperre England und Übersee verloren sind. Ich kann also keine neuengländischen Farmer und keine mexikanischen Mestizenbräute mehr bekleiden. Und jetzt auch noch die westdeutsche Konkurrenz – von der durch den sächsischen Zeugdruck gleich nebenan ganz zu schweigen! Dazu kommt, dass ich zwar vor zwei Jahren meinen aus der Fabrik requirierten Farbhölzervorrat zurückbekommen habe, aber das nur durch die Erlegung der Eingangssteuer. All mein Rohmaterial ist in solcher oder ähnlich ruinöser Art belastet. Für einen Meckel und seine eingeweckten Missgeburten, wie wir sie hier ringsum sehen, steht wenigstens immer auch der Staat mit ein – egal welcher gerade! Kurzum, ich bin jetzt knapp vierundzwanzig Jahre alt und als Fabrikant eigentlich schon wieder am Ende. Ich habe das so deutlich noch keinem in Halle gesagt. Meine Lieblingsschwestern sind tot, jüngst starb Mutter, und eine Liaison im siebenten Himmel ist bei mir auch gerade unter die Erde gekommen. Also, lieber Meckel, ich muss nach Breslau. Als Freischärler sowieso, aber weil ich so hartnäckig bin, auch noch als Fabrikant. Vielleicht kleide ich demnächst vor allem Polen, Russen, Griechen und Perser ein?«

»Und deutsche Partisanen!«, rief da Meckel. »Die man dann gegenüber spanischen, russischen und Tiroler Partisanen daran erkennen wird, dass natürlich auch sie deutsche Uniformen tragen!«

»Grundfarbe schwarz«, lachte Ludwig bestätigend. »Man kann alles schwarz färben! Es ist die Billigstvariante und ist mein an Gneisenau übermittelter Vorschlag für die Uniform der freiwilligen Jäger. Ob er bereits angenommen wurde, werden wir in Breslau sehen.«

»Oder in Dresden«, schloss ich an, um meinen Kompromissvorschlag an mein Bruderherz Meckel vorzubereiten.

»Bleibe ausgerechnet ich dann quasi der einzige Fabrikant von Bedeutung hier in Halle?«, knurrte Meckel. »Ich habe die größte, vielleicht sogar die beste fabrica aliena der Welt, noch vor den beiden in London und Paris, nur dass selbst die Natur nicht so viele Monstrosae hecken könnte wie deine Fabrik Kleidungsstücke für dieselben, liebster Ludwig! So. August Albrecht Meckel von Hemsbach bleibt jedenfalls hier! Ohne meinen Bruder geht auch mein Laden nicht. Es ist mit meinem Albrecht hier so wie für dich mit deinem Eggerding!«

»Mein liebster Albrecht geht mit mir«, sagte Ludwig Wucherer unverblümt.

Das war der Zeitpunkt für mich und meinen Kompromißvorschlag gewesen.

Ich muss ihn dir hier näher erläutern. Er hatte mit einem der ungeheuerlichsten Druckwerke der Anatomie-, Medizin- und, so behaupte ich, Kunstgeschichte zu tun, nämlich mit William Hunters Hauptwerk, den 34 grandiosen Tafeln der »Anatomia uteri humani gravidi« von 1774, die tote Mutterleiber und ihre Leibesfrüchte in allen ihren Entwicklungsstadien streng nach der Wirklichkeit abkonterfeit haben, ganz im Gegensatz zu den überirdisch schönen »Icones embryonum humanorum« Samuel Thomas Soemmerrings von 1799 – übrigens jenes dem Hause Meckel stets als Freund verbundenen Soemmerrings, mein lieber Heinrich, dem ich meine Anstellung hier in Bern zu verdanken habe!

Von der zeichnerischen Grundauffassung her gibt es keine gegensätzlicheren Werke, wenn beide auch durch das Thema und durch die series, also die Abfolge von incrementum und metamorphosis des menschlichen Körpers engstens miteinander korrespondieren. Sie sind sogar identisch durch das eher seltene Großformat von 43 mal 60 Centimetres.

Hunters Schwangerenanatomie gehörte quasi zu Meckels Reichsinsignien. Unser Vater hatte das Werk 1778 während seines mehrjährigen Aufenthaltes bei seinen beiden Freunden, den Brüdern John und William Hunter, in London überreicht bekommen, natürlich mit einer ganz besonderen Widmung vom Verfasser William Hunter. Sie endete mit seinem Wunsch, dessen Erfüllung allein noch der preußische König mit seinen lukrativen Angeboten an unseren Vater hatte verhindern können: »in amicitiam Philippi Theodori Meckeli Londonensis«.

Dieses kostbare Werk nun hatte Meckel im Jahr 1812 nach anfangs schwersten Bedenken seinem Anatomen-Freund Rosenmüller in Leipzig auf eine nicht zu lange Frist hin ausgeliehen. Dabei hatte er dem bereits im Jahre 1808 einmal auf seine direkte Art gesagt, dass er noch nicht mal einen sächsischen Esel kämmen möchte mit einem, dessen Universität bereit sei, Bonapartes Nachtgeschirr zu leeren, und zwar in den eigenen Magen, und dazu noch mit der Zunge zu schnalzen. 1808 hatte nämlich der Senat der Leipziger Universität ernsthaft vorgeschlagen, den Gürtel des Orion in Napoleonsterne umzubenennen.

Rosenmüller hatte sich allerdings der Stimme enthalten. So bekam er also 1812 leihweise doch noch Meckels kostbare Schwangerenanatomie von William Hunter, die er dann aber nicht zurückgeben konnte. Die Franzosen hatten sie zusammen mit anderen Wertsachen requiriert wegen despektierlicher Äußerungen Rosenmüllers zu seinem damals bei ihm einquartierten französischen Capitaines der reitenden Artillerie.

Nimm zum Vergleich deinen liebsten Patenonkel, den Orientwissenschaftler und halleschen Universitätsbibliothekar Johann Severin Vater, der beinahe bloß deswegen erschossen worden wäre im October von 1806, weil er sich auch während der Eroberung Halles durch Bernadottes Löffelgarde seine zweitägliche Flasche Branntwein nebst seinem Tütchen Oronocko-Knaster in Dromedars Boutique am Markt holen wollte. Er war deshalb gerade vom Pferd gestiegen, hatte die Zügel einem der verdutzten Eroberer in der imponierenden Gestalt eines Caporal de Chasseurs in die Hand gedrückt und gesagt: »Hier, halt mal kurz, garçon!« Sein Leben hat er knapp behalten, aber sein Pferd hat dein Patenonkel nie wiedergesehen.

Der Professor Rosenmüller hat am Ende alles Requirierte doch noch wiederbekommen, nur eben die kostbaren Tafeln von William Hunter nicht. Man soll dann einige Zeit später übrigens die Tabula XXII, auf der sich auch Schaamhaar kräuselt und der Zeichner scheinbar sogar bis auf die Oberschenkelmitte heruntergelassene Strümpfe angedeutet hat, in einem Abtritt und augenscheinlich durch einen erregten Mann besudelt wiedergefunden haben. So wird wohl auch das Blatt mit Meckeli Londonensis in einer Leipziger Kloake ausgelöscht worden sein.

Jedenfalls wusste ich damals als Meckels Prosektor, wie sehr gerade jetzt diese Meckel’sche Reichsinsignie hier fehlte. Sie war auch gar nicht durch Frorieps deutsche Übertragung von 1802 im Weimarer Industrie-Comptoir zu ersetzen, denn erstens erschien dort Hunters Werk nur in halb so großem Format, zweitens waren nur etwas mehr als die Hälfte der Kupfertafeln dort mit abgedruckt und dies auch noch drittens in ziemlich schlechter Qualität.

Nun war aber doch die Zeit nicht mehr fern, dass Meckel das herrliche Präparat der Doppelmissgeburt und zugleich auch die Beschreibung »De duplicitate monstrosa« fertiggestellt haben würde – und dann würde es an das ihm vielleicht Liebste gehen – an die anatomischen Zeichnungen dieses Präparats. Meckel ist im Gegensatz zu Hunter und zu Soemmerring auch ein begnadeter anatomischer Zeichenkünstler. Um aber auf diesem Gebiet etwas Meisterliches leisten zu können, das die Vorteile beider Zeichenstile vereinigt, musste Meckel die beiden Originalwerke von Soemmerring und Hunter einfach zur Hand haben.

»Ich gehe mit meinem Ludwig, Fritz«, hatte ich also zu Meckel gesagt. »Aber ich bringe dir, egal, wohin mich ein Befehl dann führen wird, zuerst aus dem Dresdner Kupferstichkabinett, wo man bereits Bescheid weiß, den William Hunter!«

Meckel sah, statt mich!, nun Ludwig groß an. »Habt ihr also doch schon was sehr Bestechliches in die Wege geleitet!« Meckel wurde sehr zornig, also blass im Gesicht – doch das wohl eher durch den erinnerten Leipziger Casus mit den Hunter-Tafeln. Mein Kompromissvorschlag nahm jetzt eine erfolgreichere Gestalt an, als ich zu hoffen gewagt hatte. Meckel pfiff plötzlich so schrill durch die Zähne, dass Filipo Reißaus nahm bis in die hintere Ecke mit den Flaschen, Mensuren und Kruken zur Nasspräparierung.

»Gut!«, rief er mit jetzt quasi patriotischem Schwung und mit der manchmal so blitzschnellen Entschlusskraft, die wir alle an ihm bewunderten und zuweilen auch fürchteten: »Ich gebe dir Urlaub, Albrecht – allerdings nur, wenn dir auch die Partisans Urlaub geben, wenn ich dich rufe! Besorge dir schon mal gleich deinen stellvertretenden Mitkonscribierten auf diesen sicheren Fall hin! Mein kaum beschäftigtes Pferd Paul kann auch gleich mit in den Krieg. Pferde lieben so etwas noch viel mehr als ihr Menschen.«

Wir wollten Meckel umarmen, der stieß uns aber gleich von sich weg. »Jetzt soll’s wohl etwa gleich schon hier anfangen, das süße Räuberleben! Denkt ja nicht, Kinder, dass ich mich euch auch noch anschließe! Ich erwarte die Tafeln bis spätestens Mitte April, verstanden?«

»Zu Befehl also!«, konnte ich daraufhin nur noch antworten – und hatte dann gleich in sehr verwunderte und zugleich wehmütig nasse Augen geblickt.

Friederike war erschienen in jenem Augenblick, als die Partisanen Ludwig und Albrecht gerade abtreten wollten. Selbst die schwarze Meckel’sche Anatomentracht stand ihr noch gut. Sie war Meckel im Jahre 1811 nicht nur in den Ehehafen, sondern dort auch noch bis an das Kai der Toten gefolgt. Allerdings werden in der Unterwelt und im Reich der Toten keine Kinder gezeugt. Friederike bekam von Meckel auch keine, nur später eben den Filipo, das Saju-Äffchen. Selbst das gerüchtesüchtige Halle schwieg an dieser Stelle recht beklommen.

Kein Kindbett konnte sie hindern, an den Werken ihres Gatten teilzunehmen. Aber nicht immer war sie direkt dabei, schließlich gab es auch immense Schreib- und Bureau-Arbeiten zu tun. Da Meckel praktisch immer arbeitete, konnte er kaum der Gattenpflicht nachkommen, sein schönes Gespons angenehm zu unterhalten, sich mit ihm zu vergnügen oder wenigstens regelmäßig mit ihm zu speisen.

Da nun sprang ich ein, als folgte ich einem unausgesprochenen Vertrage. So konnte es einem eingeweihteren Betrachter erscheinen, als sei Friederike von Meckel, geborene von Kleist, mit zwei Männern verheiratet. Aber wer sollte dieser Betrachter sein? Wenn es ihn gäbe, müsste es ihm so scheinen, als ob die größere Liebe, das tiefere Einverständnis zwischen Friederike und mir bestünde. Zeitweise, wenn es mir wohl not tat, war ich selber davon überzeugt gewesen.

Zuvor auf der Hochzeit war neben dem Onkel Friederikes, dem später so bedeutenden General Kleist von Nollendorf, auch schon der beste Kriegskamerad und Freund des Obersten von Kleist, nämlich der Husarengeneral und spätere Marschall »Vorwärts« Gebhardt Leberecht von Blücher in Halle erschienen. Der hat sein »Riekchen« ohnehin von Anfang an fast genauso geliebt wie seine eigene Tochter Friederike, die er zur Unterscheidung von »Riekchen« stets nur »Fritzlein« nennt.

Wer einen Blücher als Schutzgeist hat, dem kann das Schicksal weit weniger Schläge als anderen erteilen. Dieser großartigste Braut- und Großvater aller Preußen hatte Friederike ein Hamburger Hass-Clavichord zur Hochzeit mitgebracht, das einen bunt gemalten Husarenritt auf der Deckelinnenseite zeigte, ein kluges Geschenk, war dieses Clavichord doch bald Friederikes Instrument zur besten Regulierung ihrer Gemütszustände und Herzensangelegenheiten. Man konnte nahezu eifersüchtig darauf werden, was ihre Fingerkuppen diesem – und nicht mir oder meinem Bruder – mitzuteilen hatten und zu entlocken vermochten.

Zweieinhalb Jahre nach Riekchens und Onkel Fritzens Hochzeit sandte ihr der Brautvater ein Billet, das mir eine stolz errötete Friederike zwar nur einmal kurz gezeigt hatte, dessen Worte und seltsame Orthographie sich meinem Anatomengedächtnis aber für immer eingeprägt haben: »Leberecht wol, mein Riekchen – ein Glük das dich mein klavikord zu deine Hochzeit noch so gefält und du so gewand darauf klenge zaubern gelernt hast – so wandele zum Becircen noch ein bissken inn Keller zu dein Leichen-Marschall Mekel – hab ich zu dir nicht gesprochen es gipt auch im Jenseits Husaren! Und spil mir in einiche tage das Lied von dem Siegercranze doch – wenn ich den Napolium ausgekloppt habe!«

Aber nicht zierliches Fingerkuppenspiel über silbern-heiter klingende Tasten hin machte Friederikes eigentliche Kunst aus, sondern was sie tatsächlich in den Jahren auch mit dem Skalpell zu leisten vermochte. Gerade das nun öfter gemeinsame Hantieren mit den schärfsten Messern ließ Fritz und Friederike schon damals vor meinen Augen als nahezu unzertrennlich erscheinen. Trotzdem habe ich, wie gesagt, bis heute das Gefühl, als ob Friederike eigentlich mich, Meckels Halbbruder, geheiratet habe. Selbst dir, meinem Sohn, und sogar mir selber mag ich gar nicht weiter beschreiben, wie tiefgehend und stetig meine Gefühle für sie, meine Friederike, sind.

Friederike küsste mich vor ihrem Mann und vor meinem Kameraden Ludwig damals sehr, sehr lange – wie ich zumindest meinte – auf den Mund und drum herum, vielleicht ja auch deshalb so lange, weil ich mich vor Überraschung wie tot verhielt. Aber in mir strömte das lebendigste, wärmste Blut.

»Bleib nicht so lange weg«, flüsterte sie, »und schon gar nicht für immer – versprochen?«

»Keine Angst, liebste Fritzie«, hatte da Meckel wie aus dem hellhörigen, aber wohlwollenden Jenseits gesagt, »der hat, was das betrifft, bereits klare Befehle von mir!«

Meckels Messerzüge

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