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Pardonnez, mon chasseur!

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Breslau war im Frühjahr 1813 die aufregendste Stadt in Preußen. Es war nur von Halle aus schwer hinzukommen. Außer zwischen Frankfurt an der Oder und Stagard führte nirgends eine Chaussee in diese Richtung und im kühlfeuchten Frühjahr von 1813 waren alle anderen Wege fast gänzlich im Schlamm versunken.

Am Ende aber erreichte man selbst Breslau. Es war spürbar das wichtigste Handelszentrum des Ostens, in dem doch ein so ganz anderes Leben pulsierte als im stilleren, mehr dem Geist gewidmeten in Halle. Gewöhnlich brauchte man von Halle aus mit der Extrapost sechs Tage und fünf Nächte, aber Ludwig und ich, manchmal getrennt, meist aber zusammen reitend, brauchten nur vier Tage. Ich hatte so meine Schwierigkeiten mit Paul, dem Meckel-Gaul, der nach dem Brief- und Geistesfreund Meckels, dem berühmten Jean Paul, hieß, aber im Gegensatz zu Deutschlands neben Lafontaine und Fouqué beliebtestem Autor auf längere Distanz längst nicht mehr eingeübt war. Meckel hatte das Pferd Paul ohnehin etwas verkorkst durch zwar waghalsiges, aber völlig unsensibles Reiten. Ich musste Paul in Breslau irgendwie loswerden. Das Pferd war nicht mehr so jung, um es noch an mich und die Gepflogenheiten einer Freischar und eines Jägers und Schützen zu gewöhnen.

In Breslau saßen die Vertreter des Warenverkehrs mit Russland und Polen. Hier fanden die berühmten Russenmärkte statt. Hierher kamen die Händler weit aus dem Inneren des Zarenreiches mit ihren Rohstoffen und Naturalien. Sie führten Tuche, Ackergeräte und vor allem Sensen und vielerlei Krämerware wieder aus. Auch jetzt, mitten im Krieg, herrschte im Zentrum der Stadt das abenteuerlichste Gedränge von großen, schwerfälligen Planwagen für Ferntransporte aus aller Herren Länder, abzüglich Englands und der links- wie mancher rechtsrheinischen Gebiete.

Alle versuchten, einen Standplatz an der Ratswaage zu bekommen. Alle fluchten über die schnell ausgeteilten Strafzettel des Magistrats von Breslau für die Verletzung der Stadtverkehrsordnung. Wenn man aber hineinkommen wollte durch das Gassengewirr auf den Markt, so musste man diese Breslauer Stadtverkehrsordnung verletzen. Überall waren Tuchkammern, Leinwandkramen und Wollmärkte eröffnet zur Russenmarktzeit, dazu kamen Brot- und Schuhbänke. Die sogenannte Grüne Röhre war vollgestopft von den Buden der Partkrämer, Einzelhändler und Sensationsdarsteller. Hinzu kam im Frühjahr 1813 die Anwesenheit des preußischen Königshofes und des Hauptquartiers der preußischen Armee. Dort gingen natürlich allerlei Militärs verschiedener schon wirklicher oder auch erst möglicher Verbündeter ein und aus.

Von allen Seiten strömten zudem die Freiwilligen heran und zu den Waffen, außerdem die entsprechenden Gewerke der mobilen Schneidereien und Blechschmiede sowie Pferdemärkte, Waffenschmiede, Sattler und Gürtler, dazu noch all die Marketenderfamilien. Im Gewimmel der verschiedenen Trachten und Uniformen waren schon überall die gelben Mützenbänder und die dicken Balkenkreuze darüber zu sehen, wie sie die Schlesische Landwehr trug. Für schwarz-rot-goldene Lützower im Stadtbild war es noch zu früh.

Wir sahen mitten im Gewühl den abenteuerlustigen russischen General Tettenborn mit seinem merkwürdig bepaspelten und bepuschelten Husarenhut, den ich dann noch öfter im Norden Deutschlands wiedersehen sollte. Wir sahen mitten in einer Menge von Männern Ernst Moritz Arndt. Wir hörten, wie er gerade zu – er war es tatsächlich! – Gneisenau sagte: »Hier haben wir jetzt alles geworben, was an die Wand pissen kann!« Wie sich dieser allerdeutscheste Grimmpatriot da täuschte, denn sie hatten durchaus noch andere Menschen angeworben!

Jedenfalls trennten sich am Markt Nummer 3 erst einmal Ludwigs und meine Wege. Nachdem ich mit ihm im Hause Froböß & Comp., dessen Geschäftzweig auf dem Schild neben dem Eingangsportal mit »Spezerey und Röthe« angegeben war, noch einen Café à la Russe genommen hatte, eilte ich schon mal ohne ihn zu den Waffen.

Die beiden Werbestellen für das Lützow’sche Freikorps und für die freiwilligen Jäger lagen nahe beieinander auf der Schmiedebrücke. Zunächst machte ich meine Visite bei den Jägern. Henrik Steffens, der so glückliche Jahre über in Halle nach dem Ableben des Weltumseglers Reinhold Forster die Naturkundeprofessur innehatte, schloss mich seit Jahren wieder einmal in seine Arme. Er sah mich an mit seinen Augen, die waren wie fröhliche Gletscherzungen: »Selbst der größte Anatom aller Zeiten, der einen Freibrief nach dem Jenseits von Krieg und Frieden aus Paris, London, Moskau und aus Wien und Berlin hat, der schickt nun gewissermaßen seinen ihm und mir liebsten Konskriptionsstellvertreter!«

»Ach was, Onkel Henrik!« Ich musste laut lachen. »Ludwig und ich sind ihm einfach nur glücklich entkommen!«

»Nein, wirklich? Wucherer ist auch hier?« Steffens war ganz begeistert. »Und wer stellt dann unsere Uniformen her?«

Der Norweger mit dem inzwischen deutschen Herzen hatte in Breslau als Erster eine bereits berühmte öffentliche Rede zur allgemeinen Mobilisierung gehalten. Sie stand den Reden von Fichte in Berlin in nichts nach. Auf den Konskribierungslisten der freiwilligen Jäger erschien er gleich als die Nummer eins. Hunderte seiner Studenten hatten sich unmittelbar nach ihm dort eingetragen. Jetzt stand er dem Werbe-Bureau vor – wie gleich nebenan Jahn dem der Lützower.

Meckels Schwager Guticke und Reils Sohn waren schon da, ebenfalls meine halleschen Kollegen Krukenberg und Hoffbauer. Im Zentrum des Geschehens aber saß in einer Art Thronsessel der unnatürlich kerzengerade Vorturner Friedrich Ludwig Jahn, von dessen Kopf und Gesicht rötliche Haare weit herunterhingen wie beim Orang-Utang, nur dass der Affe keine derart leberbefleckte Glatze trägt. Orang-Utangs erfinden auch keine Fahnen. Jahn hatte eine erfunden, eine schwarzrote mit goldenen Fransen, angeblich die uralten deutschen Reichsfarben – was ich wissen müsste, halten wir Meckel von Hemsbach doch einen Talar und viele andere Utensilien eines unserer Vorfahren in Ehren, der ein angesehener Richter am Reichsgericht zu Wetzlar gewesen war.

Jedenfalls hatte Jahn seine vom König ausdrücklich verbotene Flagge gehisst, wenn auch nur hinter seinem Lehnstuhl und also »ihm zu Haupten«, wie er das ausdrücken würde.

»Na endlich!«, riefen Guticke und Reil wie aus einem Munde, und alle lachten auf einmal schallend und starrten mich dabei an.

»Unser allertapferster Kamerad ist endlich eingetroffen«, sagte Hoffbauer, den ich nie leiden konnte, weil ich mir immer irgendwie, als Atheist der Meckel’schen Art und Weise, Gott näher vorkommen musste als dieser verdammt unertappliche Theologe. »Meint er getroffen oder eingetroffen«, knurrte ich Hoffbauer an.

Jahn erhob sich und hielt mir feierlich eine Liste und eine von ihm höchstpersönlich eingetunkte Schreibfeder hin. »Sei willkommen«, duzte mich gleich dieser Waldschrat in seinem schwarzen altdeutschen Holzhauerkittel, »und unterschreib hier rieht und strack, also ohne Hudeln und Sudeln – du bist nämlich von nun an die furchtlose Nummer dreizehn von Lützows schwarzer Freischar!«

So bin ich die schwarze Unglückszahl des Freikorps geworden. Mein Ludwig war nach einer Weile auch schon hereingestürmt. Mit dem befehlenden Ausruf »Genau registrieren, wie es hier auf den beiden Schreiben steht!« knallte er die beiden Geldbeutel aus Halle und aus Weißenfels auf den Tisch, und mit dem Zuruf »Keinerlei Sorgen mit irgendwelchem Kapital mehr, mein Albrecht, ich kann jetzt völlig erleichtert davon in den Krieg ziehen!« bekam er unter noch größerem Gelächter seine laufende Nummer, die Achtzehn.

Das Jahn-Bureau hatte als Rekrutierungsort der Lützower Jäger den Vorteil, dass es von vornherein auch ausschankfähig, aus gegebenem Anlass auch ausschankfreudig, war. Auch stand schon im Eingangsschalter, wo Name, Herkunft, Alter und Profession abgefragt und notiert wurden, eine Tabakskiste mit genügend Tonpfeifen zur freien Nutzung bereit. Die Nur-Preußen nebenan bei Henrik Steffens durften und hatten dergleichen nicht. Nach Jahn gehörte ein »mannlicher Trunk« zwar nicht an Klimmel, Pferd und Barren, aber durchaus zur Kriegseinübung. Dieser Mann, das sah ich mit eigenen Augen, trank tatsächlich jeden Schluck für Deutschland. Dabei hatte er große, sogar langfristig überzeugende Momente, dazu selten, dann aber richtig, auch einen trockenen Humor.

Als wir in einem der Nebenräume zu Tische kamen und ich selbstverständlich neben meinem Ludwig saß, flitzten Jahns turnzeuggraue Augen zwischen uns hin und her, dann sagte er wie immer laut und vernehmlich: »Ein Zumwohle auf das Schicksalsjahr 1813! Ein Zumwohle auf euch beide, Achtzehn-Dreizehn!«

Wir hoben die Bierhumpen und alle sahen her zu Ludwig und mir, und mir ging da erst auf, was Jahn gemeint hatte. Ins aufkommende Gelächter und in die begeisterten Pfiffe mit Schulterklopfen hinein sagte mir Ludwig ins Ohr, dass er mit mir nun nicht mehr ausgehen könne. Ich sagte ihm in derselben Weise, dass ein Rübezahl im Turnhemd kein Anlass zur Resignation sein könne.

»Wenn also Wucherer und Meckel gemeinsam auf den Spitznamen Achtzehn-Dreizehn veranlagt worden sind«, grölte der Hautarzt und Ekelprofessor Krukenberg, als ob er wieder zum Korpsstudenten regressiert wäre, »dann braucht jetzt nur einer von ihnen im Kampf fürs Vaterland zu sterben, damit der andere diesen Namen auch wieder los wird!«

»Kann die lahme Nummer zehn mal ihren Rand halten und abwarten«, rief Wucherer, »ob sie von der Schicksalslotterie nicht korrekt gezogen wird, und zwar drei Landsleute vor Meckel und achte vor mir?«

»Auf jeden Fall«, räsonierte Meckels späterer Schwager Guticke laut, »sollten beide für Deutschland sterben und unter einen Deckel kommen, sonst ist dieser Name doch sinnlos!«

Die berühmte 2. Schwadron der Lützower begann in diesen Stunden mit ihrer allen anderen Heeren und Waffengattungen haushoch überlegenen Kampfestechnik – mit dem Schwadronieren.

Dieser erste Tag war auch gleich der schlimmste darin. Wir ließen nämlich Jahn gleich damit drankommen, was uns allen später nie wieder passierte, außer dann natürlich unserm lieben Theodor Körner in seinen düster-grillenhaften Stunden, in denen er immer so aussah, als ob er eine Mitfahrgelegenheit in den reindeutschen Himmel suchte – was ihm dann leider auch, wie du weißt, unter Mitnahme von zwei weiteren Kameraden geglückt ist.

Jahn ist ein begnadeter Deutschredner vor dem germanischen Herrn. Es ist auch nicht so, dass er in Halle und anderswo nichts gelernt hätte. Nur hört sein Wissen, ja sein Interesse überhaupt, gleich hinter dem Prignitzer Elbdeich, wo er geboren ist, auf. Aber er kann gut gewählte Worte setzen, und er weiß, wie weit er damit vor seinen Zuhörern gehen kann. Nur bei uns in Breslau wusste er es noch nicht. Er dachte wohl, wir wären hauptsächlich gekommen, weil wir Spaß daran hätten – und unstillbare Wut dazu –, Franzosen umzubringen. Was er uns des Langen und des Breiten zu erzählen und zu erörtern hatte, verschlug uns damals, einem nach dem anderen, einfach nur den Atem. Jahn hatte unser Schweigen anscheinend als Ehrfurcht davor gedeutet, wie weit man im Krieg à la Jahn denken könne und müsse.

Um es kurz zu machen: Jahn erzählte, um zu zeigen, wie weit ein wahrer Patriotismus reichen solle, wie er und von ihm animierte Leute Anfang des Jahres 1813 etliche der aus Russland noch bis nach Berlin gewankten französischen und somit auch deutschverbündeten Elendsgestalten mit ihren bereits erlangten Quartierbillets so lange bewusst in die Irre geschickt hatten, bis die armen Hunde irgendwo gleich auf der Straße krepiert waren. Nach seiner ausführlich gemeinen Erzählung begann Todvater Jahn leise und mit Hochgenuss das Lied »Mit Mann und Ross und Wagen« in seinen unheimlichen rötlichen Bart zu singen. Zu diesen schlagfertigen Worten wollte er selbst einen seiner turnenden Primaner animiert haben. Das Lied konnte damals wirklich jeder mitsingen – und er staunte schließlich, dass nun keiner von uns mitsang.

»Fremden zeigt man den Weg«, sagte schließlich der hallesche Philosophieprofessor und Theologe Hoffbauer, seinen Rücken ausdrücklich Jahn zugewandt, »aber die Anzahl der Leute nimmt zu, die noch nicht einmal dieses dreitausend Jahre alte Gesetz von Delphi kennen.«

»Ich kenne hingegen die Gesetze von Sparta!«, rief Jahn voller Hoffnung, doch noch verstanden zu werden, aber wie mit einem Schlag wandten sich nun wirklich alle von ihm ab und ihren Bieren und anderen Gesprächen zu. »Trommler ohne Trommelstock«, sang Jahn noch einmal laut, »Kürassier im Weiberrock, Ritter ohne Schwert, Reiter ohne Pferd. Mit Mann und Ross und Wagen, so hat sie Gott geschlagen!«

Einige standen auf, um zu gehen, darunter ich, die Dreizehn. Achtzehn musste noch bleiben wegen der Uniformfarben und anderer Effektenprobleme. Aber ich brauchte jetzt frische Luft, und das nicht etwa deshalb, weil ich anscheinend der einzige Lützower war, der nicht ständig eine salbentopfgroße Tabakspfeifenfüllung am Qualmen hielt.

Es könnte sein, mein lieber, lieber Heinrich, dass ich, Achtzehn-Dreizehn mit meinem Ludwig, mich an jenem meinem Schicksalstag regelrecht habe ins Freie stürzen wollen. Anders kann ich mir diesen beinahe heftigen Zusammenstoß im Eingangstürstock zum Werbungs-Bureau der Lützower Jäger auf der Schmiedebrücke zu Breslau nicht erklären. Fünf federnde, aber feste Finger bohrten sich in mein Brustbein, sonst hätte ich den anscheinend blutjungen Jäger zu Fuß glatt umgerannt. Dieser nun schien schon voll zugerüstet zu sein. Er war überhaupt der erste Lützower Jäger, den ich in Uniform gesehen habe – schwarze Litewka mit acht goldenen Knöpfen. Aber aus dem hohen Kragen mit blutroten Stößen und Rändern ragte ein in unseren Breiten so von mir noch nicht gesehener edler Griechenkopf. Die goldblonden Haare waren nicht lang genug, um seine kleinen, festgefügten Ohrmuscheln zu bedecken. Er sah mich so freudig erschreckt an, wie wohl ehedem der Jäger Aktaeon die Göttin Diana, als er sie versehentlich beim Baden erwischt hatte.

»Pardonnez, mon chasseur«, konnte ich nur noch murmeln. Da tat der den Mund auf zu einem fast kindlich strahlenden Lächeln mit kleinen, ebenmäßigen, etwas nach innen gebogenen Zähnen.

»Pardong wird aber nich jegeben!«, sagte der anscheinend jüngste Jäger zu Fuß weit und breit mit hell tönender, aber zugleich wie eigens für den Krieg aufgerauter Stimme. Schon war er wie an mir vorbeigezaubert und in der lärmenden Räucherhöhle der Lützower Freischar verschwunden.

Meckels Messerzüge

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