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Lohnauszahlung an den Fabrikdirektor
ОглавлениеEs war damals gar nicht so einfach, als Freischärler in spe die Stadt durch eines ihrer Tore zu verlassen. Polizei und Espionage waren geradezu hysterisch geworden, und zwar zu Recht in einer seit fast hundertfünfzig Jahre lang gut preußischen und sowieso schon immer recht aufklärerischen und also aufmüpfigen Stadt wie Halle an der Saale.
Was wir von hier aus für Breslau brauchten, hatten wir bereits vor der Stadt in Assur Aernstfalls Tabagie »Zur Verzweiflung« deponiert, die zugleich auch eine vor allem von Studenten stark frequentierte und unergründliche Gebrauchtkleiderhandlung war. Mitte März 1813 also – und meinem Bruder Fritz war das bestimmt nicht ganz entgangen – hatte ich meine gerichtsmedizinischen Sägen, Sonden und Darmscheren in ihre groben Tücher und Taschen, aber auch viele meiner Bistouriskalpelle, Lanzettmesser und Trokare unterschiedlichster Anwendungsgebiete in ihre kostbaren Samtbetten zurückverfügt, um eine ganz andere, viel gröbere Klinge zu ergreifen, nämlich einen ganz schlichten sogenannten Blücher-Säbel in seiner zinkblechernen Scheide. Zu dieser Bewaffnung kamen noch meine russischen Pistolen und meine »Indian Pattern«-Muskete mit dem Schwanenhals-Hahn, die ich in der Gegend um Halle, besonders beim Vögelschießen im Gebiet des Süßen Sees, immer recht treffsicher benutzt hatte und mit der ich auch in den Schweizer Bergen jedes noch so kleine Ziel allermeist in jener Art zu treffen pflegte, die dir kleinem Knaben immer solche spitzen Schreie des niedlichsten Entzückens entlockt hatte – eben mit jenem Plunket’schen Gewehranschlag liegend rückwärts. All das und noch mehr hatte also unser verlässlicher Assur Aernstfall in seiner Tabagie »Zur Verzweiflung« gut versteckt, ebenso Ludwigs Ausrüstung.
Ehe wir aber dorthin gingen, musste Ludwig noch das Wagnis eingehen, zu ausgewählten Vertretern seiner Beschäftigten zu sprechen. Er hatte sie auf seinem weitläufigen und ziemlich verwinkelten Fabrikgelände mit den Druckereien, Farbholzkammern, dem Pferdegöpel und so weiter in das Formenmagazin mit den Tausenden erlenhölzernen Druckformen fantastischster Muster gerufen, die vor allem Frauenkleider von Mexiko bis Russland verzieren sollten. Nun ruhte die Produktion fast gänzlich. Statt der etwa zwanzig in das Magazin Bestellten drängten sich anscheinend fast alle in der Fabrik Beschäftigten im Raum, darunter alle 25 Tuchmacher, die Grümpler und Stuhlarbeiter, die Kämmer, Walker und Kontoristen, die Spüler und Hofarbeiter, Papke, der Fräser, Marwitz, der Färber, nebst seinem Farbknecht, sechs von den acht Formenstechern, die Kupfer- und Golgasdrucker, die drei Tippelmädchen und Jadwiga, die Vorrichtefrau. Von den 81 Spinnerinnen war mindestens die Hälfte erschienen.
»Eggerding«, sagte Ludwig knapp, »von allen hier Anwesenden habe ich nicht einmal ein Fünftel herbestellt. Es wäre auch das noch gefährlich gewesen.«
»Nicht meine Schuld, Herr Directeur«, maulte Eggerding wie immer, »wenn die trotzdem kommen. Die trauen sich eben in diesen Tagen.«
»Na denn, guten Tag miteinander, wenn Sie nun mal alle gekommen sind«, sagte Ludwig Wucherer und ließ das erwidernde Gemurmel nicht lange verebben. »Ich danke euch allen, ihr wisst selber, wofür. Ihr wisst auch, dass ich fast pleite mit dieser Fabrik bin. Und ihr kennt mich, ich mache euch auch nicht vor, dass es irgendwann hier mal weitergehen wird. Höchstwahrscheinlich nämlich nicht. Ich habe mich jetzt für eine Zeit, die ich selber noch nicht überblicken kann, zu einer anderen Tätigkeit entschlossen. Ich werde dazu Halle verlassen und, wie immer, den krummen und sauertöpfischen Eggerding hier den Schlamassel ausbaden lassen. Ich kann euch nur eins versprechen – wenn ich je wieder ein verlässlicher Fabrikant sein sollte, werde ich keinen von euch ignorieren, der um Arbeit bei mir anklopft, ob ich nun selber was habe für ihn oder ob ich demjenigen anderweitig weiterhelfen muss. Tut mir leid, aber ich konnte diese Fabrik nicht halten. Selbst meine selige Mutter hätte es nicht mehr gekonnt. Ich wünsche euch und euren Familien nun alles Gute, bleibt tapfer und aufrecht, wir sehen uns wieder, und ich nehme mal an, das wird in Preußen sein!«
Da erhob sich mit Stimmen und Händeklatschen der Beifall. Ludwig schnitt mit beiden Händen beschwichtigend durch die Luft. »Seid ihr alle verrückt geworden? Da könnt ihr doch gleich auch noch ›Heil dir im Siegerkranz‹ grölen!«
Da war es stiller als zuvor geworden, und man hörte Geld klimpern in einem Beutel, den eine der Spinnerinnen vor sich streckte. Ludwig runzelte seine Stirn. »Ich war noch nicht fertig mit meinen Worten! Ein Satz noch: Ich bin nun doch froh, dass ihr alle gekommen seid! Ich bedaure, dass ein paar von euch heute fehlen. Ich hätte jetzt eben mal verdammte Lust, alle die hier beisammen zu sehen, zu denen ich ja auch gehöre, oder etwa nicht.«
Wir wollten uns schon zum Gehen wenden, um sogleich die Stadt zu verlassen, da klimperte das geschüttelte Geldsäckchen noch lauter, und die Frau knickste vor ihrem Brotherrn ohne Brot. »Ich soll, Herr Direktor, Ihnen dies hier, Herr Direktor, nun nehmen Sie mal, Herr Direktor.« Ludwig nahm völlig verdutzt das Geldsäckchen.
»Ist das hier etwa ein Lohn dafür, dass ich euch keine Arbeit mehr gebe?«
»Die Fahnenstickerinnen von Weißenfels haben es gesammelt, Herr Direktor, ich bin doch eine von Weißenfels, Herr Direktor. Sie sollen es mitnehmen nach Breslau für die Freiwilligen, Herr Direktor.«
»Hör endlich mit dem Geknickse auf, Minchen«, maulte Eggerding, »und seit wann drängelst du dich vor! Hier, Herr Wucherer, das nun ist von uns allen! Wuchern Sie damit man schön in Breslau, damit da auch mancher seine Flinte und seinen Säbel kriegt!«
Nun hielt Ludwig wirklich ganz verdutzt einen noch erheblicheren Geldbeutel in der anderen Hand. Damit man seine nunmehr nassen Augen nicht bemerken sollte, wandte er seinen Leuten ohne weitere Worte seinen breiten Rücken zu, drückte mir den Geldbeutel Minchens und der Weißenfelser Fahnenstickerinnen in die Hand und sagte beim Abgehen so laut zu mir, dass es jeder im Formenmagazin vom mexikanischen bis in den russischen Winkel hören konnte: »So viel zu der Geschichte, mein lieber Albrecht, mit dem Titel ›Als wir klammheimlich unsere Heimatstadt verließen, um sie zu befreien‹.«
In der Tat war Halle damals ein besonders patriotisches Pflaster, zumal diese Stadt so viel mehr von Krieg, Besatzung und Kontributionen ausgelaugt worden war als jede andere Stadt im Königreich Westphalen. Dazu kamen die Repressalien durch Espionage, Spitzelei und amtliche Bevormundungen skurrilster Art – zum Beispiel hatte der Departements-Registrator Leist schon gleich nach des Preußenkönigs Aufruf an sein Volk nicht nur das Tragen von Waffen, sondern auch das Tragen unbekannter Abzeichen und sogar das Tabakrauchen aus mit deutschen Motiven bemalten Pfeifenköpfen verboten. Der aus Sevilla gebürtige Präfekt zu Halle, der Chevalier Piautaz, ließ gar per Anschlag an der Alten Ritterakademie Kinnbärte verbieten!
Dabei waren die meisten Hallenser beileibe keine Anti-Gallikaner. Die neuen französischen Gesetze brachten ja auch Riesenfortschritte, nur konnten sich diese kaum als wirksam erweisen in einem so harten Alltag wie dem halleschen. Außerdem hörte man in der Stadt, die stolz war auf ihre libertären Errungenschaften, vor allem von Berlin her, wo jetzt die meisten großen Geister der halleschen Universität wirkten, viel deutlicher als anderswo, dass Preußen auf seine Weise und noch viel besser nachholen würde, was die Franzosen an Zivilität und Gesetzeskraft für alle trotz Krieg und Kaisertum erreicht hatten. Dies war hier damals noch ein Patriotismus ohne Gewese und Hurra. Weil aber die hallesche die große moderne deutsche Arbeitsuniversität gewesen ist bis zur französischen Besetzung, die dann ihre besten Kräfte wie Schleiermacher und Reil in die wachsende Berliner Universität gab, war es kein Wunder, dass hier die schwarz-rot-goldenen Gedanken am intensivsten und verbreitetsten gedacht wurden – und zwar die sehr lichten wie auch die finsteren, wie sie vom sogenannten Turnvater Jahn durchaus mit großer Wortkraft vorgetragen wurden.
Man sah es dann schon an den Lützowern selber, deren eigentlicher Kern die Legenden bildenden reitenden Jäger waren. Man konnte sogar sagen, dass die 2. Schwadron ein genaues Spiegelbild von Deutschlands Geisteselite abgegeben hat. Auffällig war der übermäßig hohe Anteil hallescher Studenten und Professoren. Ich habe noch Reils Abschiedsrede am 8. September 1810 vor der Studentenschaft Halles im Ohr, als er etwa sagte, dass es eine liebliche Gruppe sei, zu der uns der Zufall an diesem Ort zusammengeführt habe: Westfalen, Sachsen und Preußen in einem Kreise verschlungen, und dass diese Gruppe uns darauf hinweisen sollte, dass wir alle Kinder eines Volkes seien, dass Eintracht die Wurzel der Stärke und Gemeingeist die Seele des öffentlichen Lebens sei.
Selbst Jahn war mal ein hallescher Student gewesen und hatte sich, weil ihn schon damals nur wenige leiden konnten, eine Zeit lang in einer Höhle am Saaleufer versteckt halten müssen. Dort hatte er auch das erste böse Pamphlet deutscher Überheblichkeit verfasst.
Andere wiederum, nimm gleich mich, mein Sohn, und meinen Freund Ludwig Wucherer, waren zwar eher Europäer und überhaupt Leute von Welt, die sich in der Mitte des Kontinents einfach ein freies Land der Bürger namens Deutschland erträumt haben. Aber auch, dass beispielsweise der Potchamber wieder zum Nachttopf werden und die Mairie von Halle wieder Bürgermeisteramt von Halle heißen möge. Oder, um es an deinem Onkel Meckel zu zeigen, den Alexander von Humboldt als »deutschen Cuvier« bezeichnet. Cuvier ist ein unvergleichlicher Gigant der Wissenschaften und Freund deines Onkels, mein Heinrich, da kann man den Spieß nicht umdrehen, aber man könnte doch seinen Konkurrenten in Paris, Geoffroy Saint-Hilaire, der Meckel vielleicht vom Arbeitsprofil her am ähnlichsten ist, als den »französischen Meckel« bezeichnen! Aber keiner kommt auf die Idee. Jedenfalls jetzt noch nicht. Denn dafür müsste es etwas geben, das seit Karl dem Großen quasi jahrhundertelang in der Luft gelegen hatte: Deutschland.
Kannst du dir vorstellen, dass sich einer wegen solcher Ideen bewaffnet und ein Pferd besteigt, um dergleichen in der Wildnis von 1813, wo es auch Deppen mit Bart wie den Jahn gibt, auszufechten? Ja? Dann bist du bereits ein Lützower.
Wie du schon allein am Gespann Meckel–Jahn erahnen kannst, war die einigste, legendärste und poetischste Reiterei der Deutschen so einig nun auch wieder nicht. War man von Geburt oder Staatstitel her ein Preuße, kämpfte man meist auch für Preußen, wenn auch für ein stark zu erneuerndes, und sah ein einiges Deutschland eher vage, wenn auch wohlwollend. War man es nicht, kämpfte man vor allem für Deutschland und stand den Preußen oft skeptisch gegenüber. Allen anderen deutschen Landen natürlich auch. Aber mit diesen Konflikten hatte man schon an den Universitäten gelebt. Das meiste davon wurde eher scherzhaft ausgetragen, was natürlich mit einem klimmziehenden Deutschlandkeucher wie Jahn gar nicht ging.