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Mein Abflug nach Europa hatte sich verzögert, weil der große Gregory darauf bestand, daß ich mich vor meinem Einsatz noch intensiv mit Barry Wallners letztem Fall befaßte. Ich brütete über seinem Nachlaß, ohne mich lange zu fragen, wie er in die Hände der Agency gelangt war, lernte Namen und Daten auswendig und prägte mir tatsächliche oder vorgebliche Geschehnisse ein.

Vieles war mir bekannt, einiges neu; alles in allem eine Story wie Dynamit. Wie fast alle Themen, die der Enthüllungsjournalist angefaßt hatte. Wie ich unter der Hand erfuhr, hatte die Luftaufsichtsbehörde inzwischen festgestellt, daß der Absturz, dessen Opfer er geworden war, auf einen Motorschaden zurückging. Dieser Sachverhalt stellte bei einem Mann wie Barry das schier unlösbare Rätsel, ob das Debakel auf Fahrlässigkeit, Sabotage oder höhere Gewalt zurückging.

Barry Wallner hatte, wie es für seine Arbeitsweise typisch war, das Thema selbst aufgerissen und den Rahmen seiner Reportage persönlich erstellt, die Kontakte zu den Informanten hergestellt und die notwendigen finanziellen Vereinbarungen getroffen. Er brauchte dabei nicht knauserig zu sein; der New Yorker Verlag Fairway House, an dem er beteiligt war, konnte dank der hohen Auflage seines Top-Schreibers kräftig nachhelfen.

Der Pfadfinder gängiger Politskandale hatte bei einem längeren Europa-Aufenthalt vor einiger Zeit diverse Leute angesprochen, die aus der Fluchthilfe im Osten ein lukratives Gewerbe gemacht hatten. Ins Geschäft gekommen war er in erster Linie mit der Züricher trasco ag, deren Inhaber Mauro Dressler unbegreiflicherweise dazu neigte, mit seinen Erfolgen zu prahlen. Der Eidgenosse war der Typ, der gern mit offenem Hemd herumlief, um seine behaarte Männerbrust vorzuzeigen, dabei aber womöglich auf der Haut ein Toupet trug.

Der Wegwerfheld einer gelangweilten Gesellschaft charakterisierte den Prototyp eines Mannes, der fast immer reich, selten jedoch alt wird, ein Geschäftemacher, der aus Müll noch Goldkörner siebt und nicht selten auch auf der Schutthalde endet. Ein Konkurrent ähnlichen Kalibers, Aramco-Chef Hans Lenzlinger, ebenfalls mit Hauptsitz in Zürich, Ackersteinstraße 116, war vor einiger Zeit unter mysteriösen Umständen ermordet worden. Die Polizei hatte das Verbrechen nicht aufklären können. Als Täter kamen die Stasi-Leute aus Ostberlin genauso in Frage wie geprellte Geschäftspartner oder eifersüchtige Freundinnen. Es gab nicht sehr viel Trauer an seinem Grab, aber zu den Hinterbliebenen gehörten zwei Löwen, unter deren Fell die Geheimdienstmikrofilme mit subversiven Nachrichten gesucht hatten, vergeblich.

Mauro Dressler benahm sich vorsichtiger, obwohl er nicht, wie sein toter Rivale, mit vier Leibwächtern auftrat; aber sein Job war heiß, Gefahr sein Metier. Er galt als verschlagen und verwegen. Im Niemandsland der Legalität operierend, hatte er einen Ruf wie Donnerhall, im Guten wie im Schlimmen. Freilich konnte er auch in verzweifelten Fällen so etwas wie die letzte Hoffnung darstellen. Diese Hoffnung erfüllte sich häufig, doch niemals kostenfrei; er half meistens, immer jedoch nur gegen Gebühr.

Für einen Mann wie Barry Wallner, der eine untrügliche Witterung für Weizen in der Spreu hatte und daraus spannende Polit-Triller fertigte, Millionen-Seller, in Massenzeitungen vorabgedruckt, in viele Sprachen übersetzt, ein programmierter Bucherfolg rund um den Globus, war Mauro Dressler, der mit Informationen nicht geizte, eine Fundgrube und jedenfalls sein Geld wert.

Immerhin 50000 Dollar Vorschuß und eine Honorarbeteiligung von einem Fünftel. Gegenleistung: die exklusive Verwertung aller den Ost-West-Dschungel betreffenden Hintergrundoperationen durch den Verlag Fairway House, Park Avenue, New York, N. Y., soweit es sich – um eine Gefährdung der Beteiligten zu verringern – um bereits abgesschlossene Fälle handelte.

Der Top-Journalist wußte natürlich, daß sein Vertragspartner ein hemmungsloser und letztlich undurchsichtiger Abenteurer war. Er hatte sich deshalb abgesichert und zwei Männer aus der Crew des Menschen-Importeurs herausgepickt, die ihn zusätzlich mit bezahlten Informationen versorgten. Sie gehörten zu den Desperados, die zum Teil seit Jahren für die Trasco auf den Transitstrecken oder irgendwo sonst auf DDR-Territorium ihre Haut zu Markte trugen und dabei ständig Kopf und Kragen riskierten.

Zur Zeit saßen sieben aufgeflogene Dressler-Leute in DDR-Gefängnissen Freiheitsstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslänglich ab; sie wurden längst durch Neuzugänge ersetzt. Vorübergehend für die Trasco arbeitete auch der Tankstellenbesitzer, Bastler und DDR-Hasser Michael Gartenschläger, der 1961 als Siebzehnjähriger von einem ostdeutschen Gericht wegen politischer Brandstiftung zu lebenslanger Haft verurteilt und zehn Jahre später von der Bundesregierung für 45000 DM freigekauft worden war. Dem Verwegenen gelang es zweimal sich vom Westen her der deutsch-deutschen Grenze nähernd, Tötungsmaschinen des Typs SM 70 auszubauen und zur kriminaltechnischen Untersuchung sicherzustellen. Beim dritten Versuch am 30. März 1976 starb der Mann, den die DDR-Presse einen ›Maschinenschlosser, Rias-Hörer, Brandstifter und Vandalen‹ nannte, im Kugelhagel der Kalaschnikow-Schnellfeuer-Gewehre; die Vopos hatten ihn zuvor nicht angerufen.

Dieses Ende mußten die Mitglieder der Dressler-Organisation vor Augen haben, wenn sie auf den Transitwegen versuchten, Menschen aus dem Land der Aufpasser und Anpasser herauszuschmuggeln. Mit Rücksicht darauf waren die Informationen in den Wallner-Unterlagen halbwegs verschlüsselt und die Männer, von denen sie stammten, ohne Namen; dabei war dem cleveren Barry doch eine Indiskretion unterlaufen: Er hatte sie auf einem Zettel mit S. und F. bezeichnet.

Ein Blitzbesuch bei Pythia diesmal dienstlich und nicht privat – zeigte mir an, daß S. für Schwarz und F. für Forbach stehen könnte. Schwarz bedeutete mir wenig, aber der Name Forbach elektrisierte mich, denn das war nach Zürich und Pullach bereits die dritte Hochzeit, auf der dieser Kommunistenfresser tanzte. Diese Feststellung führte automatisch zur Frage, an wieviel Untergrund-Veranstaltungen der Mann noch teilnehmen mochte.

In diesem Stadium des Falls hatte sich Barry Wallner üblicherweise zum Schreiben zurückgezogen und die weiteren Erkundigungen vor Ort an seine Rechercheure delegiert. In einem Brief an Dressler wurde ein gewisser Brian Singer als sein Beauftragter für künftige Gespräche angekündigt, ein neuer Mann und damit ein unbeschriebenes Blatt. Der private Investigator – angeblich ein As – sollte nicht dadurch auffallen, daß er womöglich in einer Sache bereits aufgefallen war.

Barry, der Schlagzeilen-Zauberer, hatte sich auf sein Handwerk nicht minder gut verständen als der große Gregory, der hartnäckig darauf bestand, daß ich als Brian Singer nach Europa abflog. Wie ich ihn kannte, hatte er seine Vorbereitungen dafür längst getroffen; es war auch vom fachlichen Gesichtspunkt nichts mehr dagegen einzuwenden, denn falls auf Wallner tatsächlich ein Attentat verübt worden war, bedrohte auch seinen Assistenten und Rechercheur bald ein Anschlag.

»Allerdings nur wenn er als solcher erkannt wird«, tat es der CIA-Vize ab. Dann können Sie sich wohl vorstellen, wie wir Sie abschirmen, Lefty.« Er löffelte wieder genüßlich seinen Gesundheitsbrei. »Und überhaupt – seit wann sind Sie denn so ängstlich?«

»Ich bin nicht ängstlich, Sir, nur vorsichtig.«

»Und das verlängert das Leben«, lobt er.

»Wie Joghurt und Corn-flakes«, verspottete ich seine frugale Lebensweise.

»Okay, Lefty«, überging er es. »Passen Sie auf sich auf. Ich möchte nicht, daß Amerika einen tüchtigen Nachwuchsdiplomaten in spe verliert.«

Sein Greisengesicht zeigte wieder das Vexierspiel mit Falten und Runzeln. »Ich werde hier in Langley verbreiten lassen, das Sie nach Erstellung eines Gutachtens wieder Holiday in Fernost machen – für alle Fälle.«

Die Schaffung einer neuen Identität dauerte sonst Wochen, wenn nicht gar Monate. Diesmal blieb keine Zeit mehr, gründlich in die Haut eines anderen zu schlüpfen, denn Steve erwartete mich dringend in München, und Brian Singer, der Mann mit dem unbeschriebenen Lebenslauf, machte es mir ohnedies leicht. Wie ich Gregory einschätzte, gab es ihn tatsächlich, und er machte im Gegensatz zu mir an irgendeinem entlegenen Fleckchen der Welt Ferien auf CIA-Kosten, während ich unter seinem Namen und mit einem darauf amtlich ausgestellten, wenngleich falschen Paß in die Ost-West-Schlammschlacht zog.

Mit einem Umweg über New York, damit die Verlagsangestellten wenigstens antworten konnten, falls sie nach dem Aussehen ihres brandneuen Mitarbeiters Brian Singer gefragt würden. Es war nur ein Minimum an Tarnung, aber das ist immer noch mehr als gar keine.

Ich saß in der Maschine nach New York, die nach Boston weiterflog. Als der Flugkapitän bei der Begrüßung dies seinen Passagieren mitteilte, spürte ich einen Stich in einer vernarbten Wunde. In Boston hatte Vanessa gelebt, aus der auf einmal Madge geworden war. Ich fragte mich ziemlich töricht, welcher der beiden Namen ihrer Persönlichkeit mehr entspräche. Es war müßig und auch unwichtig, darüber nachzudenken, denn ich konnte die selbstgestellte Frage ohne weitere Nachforschungen nicht beantworten – und ich würde mich natürlich an die Absprache mit Gregory halten und jeden Kontaktversuch vor Erledigung meines Auftrags unterlassen. Zudem wußte ich auch gar nicht, wo sie sich aufhielt und ob ich diesen Einsatz überleben würde. Vielleicht riskierte der große Gregory, mich noch kurz vor Torschluß zu verheizen, weil er es einfach nicht ertragen konnte, einen bisher nicht enttarnten Agenten ›unblutig‹ an das US-State-Department zu verlieren.

Ich versuchte, Vanessa zu verdrängen, aber sie geisterte wie ein Irrwisch durch mein Bewußtsein. Ich redete mir ein, daß Liebesträume nichts anderes seien als eine Infektionskrankheit der Psyche, aber gegen diese Ansteckung gab es vorderhand noch keine Antibiotika, und selbst das Training der Jahre, das Verlangen einfach abzustellen wie Wasser oder Strom, war vergebliche Anti-Liebesmühe.

Ich dachte nicht an das Verlangen nach Vanessa: Es dachte an mich.

Um drei Uhr p. m. landete die Maschine aus Washington pünktlich auf dem La-Guardia-Flughafen in New York, und da ich nicht zu den Passagieren gehörte, die nach Boston weiterfliegen durften, stieg ich aus, nahm ein Taxi und fuhr nach Manhattan. Wenn ich meine Vorstellung in Barry Wallners Verlagshaus schnell über die Runden brächte, könnte ich die Nachtmaschine nach Frankfurt noch erreichen und hätte dort sofort Anschluß nach München.

Das Fairway House lag gegenüber dem PanAm Building. Das Portal war mit Marmor ausgeschlagen, und am Empfang saß eine Blondine, die aussah wie Brigitte Bardot in ihren besten Jahren, in ihren allerbesten.

Sie fragte mit polierter Arroganz nach meinem Begehren.

Als ich meinen Namen nannte, schloß ich aus ihrem Verhalten, daß Gregorys langer Arm natürlich auch nach New York reichte.

Ich wurde ohne Umwege und Vorzimmer in das Office des Managing Direktor geführt, mit dem der CIA-Vize den Zweck meines Besuches abgesprochen haben mußte. Der Mann reichte mir die Hand, stellte keine Fragen, bot mir eine Tasse Kaffee an und trommelte dann seine wichtigeren Mitarbeiter zusammen.

»Ich halte Sie nicht lange auf«, sagte er zu ihnen. »Ich möchte Ihnen nur Brian Singer vorstellen, von dem Barry so viel hält. Mister Singer wird am nächsten Barry-Wallner-Buch mitarbeiten.«

Sie lächelten mir zu, wünschten mir gewohnheitsmäßig alles Gute. Keiner von ihnen wußte, daß mein angeblicher Chef abgestürzt war. Es war mir bekannt, daß in der Regel der Wert eines Autors sinkt, wenn er nicht mehr am Leben ist, deshalb versucht mancher Verlag ein halbfertiges Manuskript von einem Ghostwriter fertigstellen zu lassen und zu verschweigen, wer diese Ergänzungen besorgt hat. Daß man aber auch den Tod des Verfassers verheimlicht, war wohl neu in der Branche.

Die taxierenden Blicke der weiblichen Mitarbeiter erinnerten mich daran, daß der Verblichene von seinen engsten Mitarbeitern wohl mehr erwartet hatte als erstklassiges Researching, aber im Verlagsmillieu war man mit Exoten aller Art vertraut. Nur eine rothaarige, kesse Lektorin mach die Probe aufs Exempel und fragte mich, ob ich heute abend mit ihr ausgehen wolle.

»Da sitze ich leider schon im Flugzeug«, erwiderte ich und setzte hinzu: »Vielleicht ein andermal, wenn ich wieder nach New York komme.«

»Vielleicht«, entgegnete sie schnippisch und tauschte besserwisserische Blicke mit ihren Kolleginnen.«

Eine halbe Stunde später war die Prozedur überstanden; ich fuhr zum Kennedy Airport, rief von dort Steve Cassidy an und teilte meine Ankunftszeit in München mit. Die 747 war nur halb besetzt; es war angenehm, auch wenn man nicht First Class Passenger war.

Ich dachte über meinen Einstieg in Germany nach: Wir hatten zwei verschiedene Enden des Falls Sperber in der Hand. Steve saß an dem einen in Pullach und beteiligte sich im Camp an dem Katz-und-Maus-Spiel um den noch unbekannten Überläufer aus der Umgebung des Stasi-Generals Lupus. Ich würde bei der Trasco da fortfahren, wo Barry Wallner aufgehört hatte, und das hieß, Dressler und die beiden anderen Informanten kontaktieren und observieren. Ich konnte mich dabei ebenso auf Steves wie auf Barrys Vorarbeiten stützen und, ohne persönliche in Erscheinung zu treten, im Bedarfsfall durch Telefonanruf nach Nennung eines Codewortes die europäischen CIA-Filialen für Hilfsdienste in Anspruch nehmen, in München, Zürich, Westberlin ebenso wie Ostberlin (da natürlich nicht über den Fernsprecher).

Organiserte Fluchthilfe aus dem einen Teil Deutschland in den anderen gab es seit Berlins schwarzem Sonntag, dem 13. August 1961. In den Morgenstunden hatten von Vopos abgeschirmte Arbeiter begonnen, eine 45 Kilometer lange, drei Meter hohe und mit Stacheldraht bestückte Mauer zwischen Schönefeld und Rosenthal quer durch Berlin zu ziehen wie eine häßliche Narbe. Am Montagmorgen fehlten bereits 75000 Pendler an ihren Westberliner Arbeitsplätzen. Zwar war am schwarzen Sonntag noch einmal 15000 Menschen die Flucht gelungen, die ›Volksabstimmung mit den Füßen‹, aber der Fahrpreis in die Freiheit, der bislang für ein S-Bahn-Billett für zwei Groschen erhältlich gewesen war, konnte nunmehr das Leben sein.

Die Mauer erhielt bald ihre Bluttaufe. Als erste starb eine 66jährige Frau, die in der Bernauerstraße – sie verlief direkt an der Sektorengrenze in einer Länge von zwei Kilometern – aus dem Fenster in den freien Teil Berlins gesprungen und dabei unglücklich aufgekommen war. Kurze Zeit später blieben drei weitere Flüchtlinge zerschmettert an der Mauer liegen. Die Fenster der Bernauerstraße, die nach Westen gingen – die Hauseingänge lagen im Osten –, mußten zugemauert werden.

Weitere Fluchtversuche endeten unter den MP-Feuerstößen der Vopos und Grepos.

Zählt man Bayern und Baden-Württemberg zusammen, dann hat man den ungefähren Umfang des DDR-Territoriums; urdeutsches Gebiet in dieser Größe hatte sich in ein Zuchthaus für 17 Millionen Menschen verwandelt. Für viele Westberliner war es eine Ehrensache, ihren Bekannten und Freunden – oder auch nur Landsleuten – das Entkommen aus dem Osten zu ermöglichen. Sie erwiesen sich als selbstlose Fluchthelfer der ersten Stunde und trieben vom Westen aus Tunnel auf die andere Seite vor. Auf diesem unterirdischen Weg gelang in Frohnau am 17. Mai 1962 unbemerkt 28 Ostberlinern der Ausbruch. Dann wurde der Notausgang durch Verrat versperrt.

Kurze Zeit später erschoß in der Jerusalemer Straße bei einer Massenflucht versehentlich ein Vopo einen anderen. In einer Fluchtröhre an der Heinrich-Heine-Straße kam dann ein 23jähriger ums Leben, zwei weitere blieben schwerverletzt liegen, 13 mußten vor Gericht. Einen Fluchtstollen an der Kiefholzstraße verriet eine Denunziantin; zwei Beteiligte erhielten lebenslänglich, drei bis zu 12 Jahre. Von nun an wurden die in oft monatelanger Arbeit ausgehobenen Notausgänge immer wieder zu einem Tummelplatz von Gewalt, Mißgunst, Verrat, Bestechung, Selbstlosigkeit, Mut und Mord.

Die Volkspolizei verbesserte ihre Methoden, so daß es etwa seit dem Jahr 1965 für Amateure – von wenigen geglückten Ausnahmefällen abgesehen – praktisch unmöglich wurde, für die Menschen, die ausbrechen wollten, etwas zu unternehmen.

In dieser Zeit entstand die organisierte, gewerbsmäßige Fluchthilfe gegen Vorauskasse. Im dunkeln operierende Fluchtfirmen traten an die Stelle idealistischer Helfer. Professionelle unterschiedlicher Qualität lösten die ehrenamtlichen Amateure ab.

Die neuen Operateure lagen im Osten im Visier der Volkspolizei und im Westen im Kreuzfeuer der Vorwürfe, aber wer ihnen in den Arm fiel, versperrte DDR-Bürgern die oft einzige Chance, die Mauer hinter sich zu lassen, und damit den Kindern den Weg zu ihren Eltern, den Frauen ein Zusammenleben mit ihren Männern.

Ein Verbrechen ›Republikflucht‹ kennt der Westen nicht. Wer Beihilfe leistet, kann sich somit auch nicht schuldig machen, es sei denn durch die Verwendung gefälschter Pässe. Da aber nicht selten Geheimdienste im Staatsauftrag solche selbst ausstellen, herrschte bald eine beispiellose Rechtsunsicherheit. Typisch dafür ist, daß im Fall Gartenschläger die Staatsanwaltschaft Lübeck gegen die Helfer des Getöteten ein Strafverfahren wegen ›Diebstahls einer einem Dritten gehörenden Sache‹ einleiteten: Der ›Dritte‹ war die DDR, die ›Sache‹ eine demontierte Selbstschußanlage, wie sie einst im Auftrag von KZ-Kommandanten entwickelt worden war. Um die dubiosen Firmen, die unter Lebensgefahr gegen horrende Summen Menschenschmuggel betrieben, lag und liegt ein Dunstkreis von Duldung, Heuchelei, Zweckdenken, Drohung und Opportunismus.

Fluchtfirmen werden beargwöhnt, ausgenutzt, finanziert, verachtet und benötigt.

Es gab bessere und schlechtere, erfolgreichere und nutzlose, und mit den Jahren wurden die Trasco sozusagen eine seriöse Adresse in einem unseriösen Gewerbe, ein Markenartikel des Untergrundes. Während man im Schnitt einem von professionellen Fluchthelfern arrangierten Versuch, den Staat der Werktätigen zu verlassen, eine Chance von 60 Prozent einräumte, wie Dresslers Erfolgsbilanz – trotz einiger Pannen – eine Quote von mehr als 90 Prozent auf. Die Trasco arbeitete gründlicher und raffinierter als ihre Rivalen, nahm doppelt soviel Geld und verbürgte sich für ein entsprechend besseres Resultat; sie verwendete modernste Hilfsmittel, und Dressler half keinem weiter, den seine Leute nicht zuvor auf DDR-Gebiet beobachtet und angesprochen hatten. Er setzte sogar Flugzeuge an, die im Grenzgebiet den Radarschirm unterflogen, und er war schlagartig bekannt geworden, als er in einem Omnibus 35 Schweizer Touristen auf einer Sightseeingtour durch die Tschechoslowakei karrte.

Auf einmal rollte ein zweiter Bus an, wiederum mit einem Schweizer Kennzeichen versehen. Er übernahm die eidgenössischen Touristen zur Weiterfahrt nach Prag; das erste Gefährt fuhr mit 35 DDR-Flüchtlingen, ausgestattet mit falschen Pässen, ungehindert in die Freiheit.

Solcherlei Husarenstücke riskierte Dressler immer wieder. Bis vor zwei Jahren hatte er an den gefährlichen Ausflügen in den roten Machtbereich sogar noch selbst teilgenommen. Seitdem organisierte er die Durchbrüche von Westberlin aus. Die Trasco unterhielt Zweigsitze in München, Frankfurt und Berlin, und sie übernahmen selbst Fälle, die andere Fluchthelfer abgelehnt hatten, freilich nur gegen Kasse.

Mauro Dressler trat gern als Vorkämpfer gegen den Zwangsstaat im Osten auf, aber seine Gesinnung war weder rot noch schwarz und seine politische Heimat weder der Westen noch der Osten – sein Vaterland war das Geld, und je höher sich die Summe addierte, desto patriotischer wurde er.

Die Stasi-Männer von General Lupus hatten sehr bald ihre Chance erkannt, ihre Gegenspieler auszuhorchen und zu unterwandern. Sie schleusten Spitzel in die Fluchthelferfirmen ein und ließen kleine Fische davonschwimmen, um die großen zu fangen. Schon in der Tunnelzeit war es ihnen gelungen, erstklassige Agenten unter verzweifelte Flüchtlinge zu schmuggeln. Unverdächtiger als ein Mensch in Not, der im Osten alles zurückläßt und unter Lebensgefahr im Feuerhagel durch die Fluchtröhre hetzt, kann wohl keiner wirken, so bot man ihm im Westen bereitwillig die Hand – und brachte ihn an seinen Zielort.

Als die ersten Fälle bekannt wurden, begünstigte ein weiterer Nebeneffekt die Menschenjäger der Normannenstraße: DDR-Bürger auf der Flucht mußten sich jetzt auch noch dem Verdacht aussetzen, Sendlinge aus dem Osten zu sein.

Tücke und Infamie gehören zu den Spielregeln des deutschdeutschen Kriegs im Frieden. Beide Seiten kochten mit dem gleichen Schmutzwasser, an einem Tag erfolgreich, am nächsten schon wieder hereingelegt. Wenn eine Fluchtfirma auf die Dauer besser abschnitt als die Konkurrenz, geriet sie automatisch in Verdacht, vom DDR-Staatssicherheitsdienst protegiert zu sein. So betrachtet, war die trasco ag schon seit langem suspekt, aber Mauro Dressler konnte nachweisen, daß er mit professionellen Männern, mit üppigeren Mitteln, mit größerer Sorgfalt, mit raffinierteren Einfällen und mit erheblich größerem technischen Aufwand arbeitete als seine Konkurrenz.

Es erklärte vieles, aber nicht alles.

Zwar war Dressler ein Prahlhans, aber wie kam er – ein Mann, für dessen Winkelzüge Verschwiegenheit so notwendig war wie für einen Fisch das Wasser – dazu, gewissermaßen seinen geheimen Geschäftsbericht an einen amerikanischen Journalisten zu verkaufen? Arbeitete Erwin Forbach, der den ersten Hinweis auf die Affäre Sperber gegeben hatte, mit oder ohne Wissen Dresslers auch für die BND-Zentrale in Pullach? Hatte Dresslers Geschiedene, mit der er geschäftlich nach wie vor liiert war, bei einem Tête-à-tête in Berlins Blauem Haus vom Genossen Konopka tatsächlich subversives Material übernommen und weitergegeben? Falls ja: Wußte Dressler von diesen Machenschaften Madeleines, oder kochte sie ihre eigene Giftsuppe?

Die 747 hatte den Atlantik überquert und näherte sich dem Kanal. Der Flug von Westen nach Osten hatte mich wieder einmal um sechs Stunden Schlaf gebracht, aber das wäre das wenigste. Die Stewardeß brachte das Frühstück; ich sah auf die Uhr.

»Wir werden voraussichtlich pünktlich auf dem Rhein-Main–Flughafen landen«, sagte sie mit einem Lächeln für jedermann.

Sie behielt recht; ich stieg in eine Lufthansa-Maschine zum Weiterflug um und landete wiederum flugplanmäßig in München-Riem.

Ein Mann, den ich nicht kannte, nahm mich in Empfang und schleuste mich an Zoll und Einreisekontrolle vorbei zu einem Lieferwagen; er sah sich um, öffnete höflich die Tür, und ich stieg zu.

Der Mann, der hier auf mich wartete, war mir wohlbekannt: Steve.

»Schöner Urlaub, was?« begrüßte er mich mit einem Grinsen.

»Müde?«

»Nicht die Bohne«, erwiderte ich.

»Um so besser«, sagte er und lächelte, mehr mit den Schneidezähnen.

In Stichworten gab mit Steve schon während der Fahrt einen Zwischenbericht über den Stand der Ermittlungen, sachlich, exakt, kein Wort zuviel, kein Fact zu wenig. »Am besten fliegst du gleich nach Zürich«, sagte er am Schluß, »und siehst dir Madeleine Dressler an, bevor ihr Ex-Mann zurückkommt.«

»Wo ist er zur Zeit?«

»Unter Kontrolle«, erwiderte Steve. »Wir haben einen V-Mann auf ihn angesetzt.«

Wie ich Freund Cassidy kannte, war dieser V-Mann eine V-Frau.

Die Nacht der Schakale

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