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Der Frühsommer spielte Spätherbst. Windstöße und Regenschauer fegten an diesem Samstag die Berliner Straßen von Passanten leer. Auf beiden Seiten den Stadt waren fast nur noch Liebespaare unterwegs, eng aneinandergedrängt, als wollten sie beweisen, daß der Liebe im Lauf der Jahrtausende auch nicht viel Neues mehr eingefallen war. Wenigstens Wetter und Liebesspiel waren noch einheitlich in der zweigeteilten Weltstadt.

Es war nicht die einzige Gemeinsamkeit. Im Osten wie im Westen saß man vor dem Bildschirm und sah meistens das gleiche Programm, aber hier begann bereits wieder der Unterschied: Bei den Werbeeinblendungen wurden die Westberliner vom Überfluß angeödet, während sie den Zuschauern auf der anderen Seite ein Schlaraffenland vorgaukelten. Freilich lag kein Kuchen dazwischen, durch den man sich beißen konnte, sondern die Mauer.

Viel zu schnell jagte eine schwere dunkle Limousine durch die Heinrich-Heine-Straße, die zu einem der Grenzübergänge in der Mauer führte und deshalb mit Sicherheit Tag und Nacht scharf kontrolliert wurde. Ein paar Kilometer Geschwindigkeit zuviel oder auch nur ein Tropfen Alkohol konnten den Führerschein kosten. In diesen Dingen zeigte die Volkspolizei keinerlei Toleranz. Toleranz war ohnedies nicht ihre Stärke. Und – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl – es gab im deutschen Osten doppelt so viele Polizisten wie im Westen.

Westen.

Der eilige Fahrer zwängte sich rücksichtslos an der Schlange Westberliner Fahrzeuge vorbei, die umständlich abgefertigt wurde. Ein Leutnant stellte sich ihm wütend in den Weg. Einen Moment lang sah es aus, als wollte ihn der Wagen mit der Diplomatennummer des Ostberliner Handelsministeriums rammen.

Dann erkannte der Vopo-Offizier den Mann am Steuer. Mitten aus der Bewegung heraus stand er stramm: Der Passierschein dieses Grenzgängers mußte nicht kontrolliert werden. Der Insasse der Nobelkutsche – sowjetisches Fabrikat – stellte selbst Passierscheine aus.

Der Leutnant signalisierte freie Fahrt.

Der Bevorzugte rollte seinen Wagen auf einen reservierten Parkplatz, stellte ihn ab, verschloß ihn sorgfältig, ging um ihn herum und kontrollierte pedantisch noch einmal die rechte Seite.

Fast gleichzeitig, wie zufällig, trat der Spitzenfunktionär vom Staatssicherheitsministerium aus der Wachstube. »Dann wünsche ich einen schönen Abend, Genosse Konopka«, grüßte Gelbrich jovial.

Der späte Grenzgänger war auf die übliche Ost-Anrede wenig erpicht. Genosse kommt von Genuß – und viele der so Titulierten waren wirklich ungenießbar.

»Was ist denn eigentlich heute los? fragte der Prolet vom Dienst im Oberstenrang: »Veranstaltet Ihr im Scheiß-Westen ein Rudelbumsen?«

»Wieso?« fragte Konopka. »Wie kommen Sie darauf?«

»Vor genau zwanzig Minuten ist schon Brosam hier durchgefahren.«

»Was weiß ich«, erwiderte der subversive Diplomat. »Vielleicht hat der Genosse Kammgarn auch noch auf der anderen Seite zu tun.«

»So spät seit ihr noch im Dienst?«

»Sie doch auch, Genosse Gelbrich«, entgegnete Konopka.

»Ich kontrolliere gerade die fortschrittliche Grenze«, stellte der Stasi-Mann fest. »Sondereinsatz außerhalb der üblichen Routine.«

»Und ich passiere sie«, versetzte Konopka. »So ungerecht ist die Welt.« Er lächelte den Oberst an. Was der Mann dachte, lag wie eine abwischbare Schicht auf seinem Gesicht. Spritztour in den Goldenen Westen, was? Einkaufsbummel mit unseren raren Devisen, wie? Und dann raffinierte Kapitalisten-Weiber bumsen, nicht? Mal was anderes als unsere östliche Rohkost, ha?

»Kann ich Ihnen von drüben was mitbringen. Gelbrich?« fragte Konopka.

»Nein, danke«, antwortete der Kollege aus dem Kreis um General Lupus und grinste. »Ich bin Selbstversorger.« Er warf seine halbgerauchte Zigarette im hohen Bogen weg, verfolgte gelassen, wie ein junger Volkspolizist herbeiflitzte, sie ausdrückte und in den Abfalleimer legte.

»Oder vielleicht doch, Genosse Konopka,« Obwohl ihnen keiner zuhören konnte – außer sie belauschten sich gegenseitig selbst mit Wanzen –, setzte er leise hinzu: »Den Sperber, tot oder lebendig. Gefesselt und verschnürt. Anruf genügt, und ich schicke Ihnen einen entsprechenden Kofferraum.«

»Nichts leichter als das«, spottete Konopka. »Haben Sie schon mal einen Geist gefangen, Gelbrich?«

»Bisher nur Weingeist«, versetzte der Oberst. »Alsdann: viel Vergnügen, Genosse!« schloß der Stasi-Funktionär das Gespräch und schaute Konopka mit Wolfsaugen nach.

Der Sperber war seit der Geheimbesprechung bei General Lupus ein beliebtes Gesprächsthema im roten Untergrund. Vielleicht handelte es sich nur um ein Gerücht. Womöglich war er aber auch ein Phantom, dem jeder Vorfall untergeschoben wurde, der sich nicht erklären ließ, ähnlich dem ominösen Legationsrat Erster Klasse in Bonn, der, durch die AA-Akten geisternd, sogar befördert worden war, wiewohl es ihn gar nicht gab. Keiner, der das Sperber-Gerücht kolportierte, wußte, daß er General Lupus in die Hände arbeitete, von Gelbrich und Konopka natürlich abgesehen.

Der Wanderer zwischen beiden Welten passierte eine Art Laufgraben. Er trug einen eleganten Maßanzug aus englischem Tuch, garantiert nicht in einem volkseigenen Betrieb gefertigt. Auch der Schnitt war Made in Western Germany. Meistens sah der rote Diplomat älter aus als 45; er konnte aber auch jünger wirken, vor allem, wenn er lächelte. Er hatte ein Plissee-Face mit vielen Falten, die anzeigten, daß er gewohnt war, schnell zu leben: Vier Ehescheidungen, in sieben Jahren ein halbes Dutzend ungewöhnlicher Affären hatten sich wie Keilschriften in sein Gesicht eingetragen. Manche Frauen mochten es, andere taten es als verlebte Fassade ab.

Jedermann kennt seine Liebesabenteuer selbst am besten, aber Konopka gehörte – ebenso wie zum Beispiel Brosam, Gelbrich, Wellershoff, Lemmers, Laqueur, Sabotka, Grewe und Lipsky – zu den wenigen DDR-Bürgern, die ihre im Ministerium für Staatssicherheit geführten Personalakten selbst einsehen konnten.

Irgendwie arbeiten alle Geheimdienste der Welt nach dem gleichen Schema, testen ihre Geheimnisträger auf Sicherheitsrisiken ab.

Eine Tante in Köln oder eine Verflossene in Frankfurt, gelegentlich ein Glas Bier zuviel oder ein zu großer persönlicher Aufwand waren Minuspunkte, aber für die Männer um General Lupus gab es auch einen Malus für Gegebenheiten, die im Westen unerheblich waren. Laqueur zum Beispiel hatte sich anstrengen müssen, seine Hugenotten-Abstammung vergessen zu lassen; auch Brosam entstammte einer großbürgerlichen Familie. Er hatte in Westberlin eine Freundin, bei der er gelegentlich – wie zum Beispiel heute – nächtigte. Daß er in Bettlaune keine Staatsgeheimnisse ausplauderte, wußte man im Osten wie im Westen, denn die Geheimdienste hatten das Schlafzimmer mit Wanzen bestückt und horchten pedantisch mit, wiewohl sie Liebesgestöhn und Orgasmusgekeuche längst langweilten. Es war dem Genossen Kammgarn gleichgültig, denn er galt als unersetzlich; er fürchtete die privaten Nachforschungen seiner gealterten eifersüchtigen Ehefrau mehr als die Wanzen sämtlicher Geheimdienste zusammen.

Lipsky war erst in sowjetischer Kriegsgefangenschaft über das Nationalkomitee Freies Deutschland – mehr hungrig als freiwillig – zum Kommunisten herangereift, seitdem aber voll in das sozialistische Lager integriert. Gelbrich hatte den Spitzbart ein paarmal verbal angerempelt, aber Ulbricht war schon vor seinem Ableben tot gewesen, und so verwandelte sich die Rüpelei später für Gelbrich sogar noch in einen Bonus.

Konopka erreichte das Ende des Niemandslandes, und der Volkspolizist auf dem Wachturm ließ ihn aus Blick und Visier. Der späte Besucher schritt zügig auf die Willkommensschilder des Freien Berlin zu. Da er öfter durch die Mauer kam und seinen Gegenspielern das Rätsel aufgab, ob er sich nur die Haare schneiden ließ oder seinen V-Leuten Befehle geben wollte (es war ziemlich eindeutig, daß die Ost-Diplomaten mehr oder weniger für ihre Nachrichtendienste arbeiteten), bot für ihn der Westen noch mehr Attraktion als Sensation.

Auf der Neonseite der Stadt hieß der Übergang Prinzenstraße. Der Kontrollbeamte hatte den späten Besucher bereits erkannt, bevor dieser seinen Paß mit der vorschriftsmäßig aufgeschlagenen Lichtbildseite präsentierte.

Achtung, sagte sich der Uniformierte: Konopka steht auf der Liste der 97, bei denen Maßnahme A (Anruf) auszulösen ist.

Verlegenheit im Ost-West-Verkehr überspielt man am besten mit Höflichkeit: »Guten Abend, Herr Konopka«, begrüßte ihn der Polizist und reichte den Ausweis zurück. »Sie kommen zu Fuß?«

»Wie Sie sehen«, erwiderte der Mann von drüben und setzte dann humorig hinzu: »Bei euch im Westen wird man ja immer zum Trinken genötigt.«

»Dann Prost, Herr Konopka!« ging der Polizeibeamte auf den Ton ein. »Brauchen Sie ein Taxi?«

»Vielen Dank«, versetzte der Besucher. »Ich kenn mich hier aus.«

Der Polizist sah ihm nach, bis die Dunkelheit seine Konturen geschluckt hatte, ging ans Telefon, wählte sechs Ziffern hintereinander. Eine Geheimnummer. Vermutlich eine Außenstelle des Bundesnachrichtendienstes, genau wußte er es selbst nicht. Es war weder üblich, solcherlei Fragen zu stellen, noch sie zu beantworten. Der Anrufer nannte Standort und Namen und setzte dann hinzu: »Max Konopka, er hat um 21 Uhr 58 den Kontrollpunkt passiert.«

»Mit dem Wagen?«

»Nein, zu Fuß«, antwortete der Grenzbeamte.

»Vielen Dank«, schloß die Stimme am anderen Ende und klang nicht mehr schläfrig.

Obwohl Konopka gewohnt war, sich anzupassen, sah er nicht aus wie einer, der nach Kreuzberg gehört. Er ging gemächlich, ein Herr über Zeit und Geld, der offensichtlich im falschen Stadtteil sein Abenteuer pflücken wollte. Er ließ den Taxistand links liegen und schlenderte weiter. Er sicherte vorsichtig nach allen Seiten, aber es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie ihm Schatten anhängten. Sicher hatte der Grenzbeamte inzwischen einen der vielen westlichen Geheimdienste angerufen, die mehr oder weniger nach dem Schema arbeiteten: getrennt marschieren, gemeinsam schlafen.

Er hörte den Omnibus heranrollen, drehte sich nicht nach ihm um, ging langsam weiter und ließ durch nichts erkennen, daß er im letzten Moment noch aufspringen würde. Das zweistöckige Ungetüm war schon im Anfahren. Der Fahrer öffnete noch einmal die Tür, und der garantiert letzte Fahrgast mogelte sich hinein. Die erste Station war geschafft – die primitivsten Methoden sind in diesem Metier häufig die besten.

Er fuhr vier Haltestellen weit in die Gegenrichtung seines Ziels. Scheinbar zerstreut, wie er eingestiegen war, verließ er wieder den Bus. So konnte er sicher sein, daß nach ihm auch kein Fahrgast ausgestiegen war.

Es war ein erstaunlicher Aufwand für einen Mann, der ernsthaft weder westliche noch östliche Verfolger zu fürchten hatte. Konopka, Nutznießer eines Diplomatenpasses war einfach gewohnt, seine Wege zu verschlüsseln. Erstens haßte er Pfusch, und verschlungene Pfade reizten ihn ohnedies; er empfand dabei die diebische Freude des Ehemanns, der Frau und Freundin zugleich hintergeht.

Wenn ihn trotz aller Vorsicht volksdemokratische oder kapitalistische Schnüffler bis zum Blauen Haus verfolgen sollten, gäbe es keine plausiblere Erklärung für einen Besuch in Westberlin als diese Grunewaldvilla. Für wenige Eingeweihte war es ein Klub, der an Diskretion, Exklusivität und Frivolität nicht zu schlagen war. Hier gab es keine Erotik als Eintagsmenü, sondern Sex à la carte. Keinen Hausfrauenstrich und keine Schülerinnenkuppelei. Man zahlte mit Verschwiegenheit und brachte gewissermaßen sich selbst als Eintrittsgeld mit. Die Erotik wurde im Blauen Haus wieder auf ihren Ursprung zurückgebracht und verfeinert. Für alle Teilnehmer der gewagten Spiele war sie wieder Selbstzweck und nicht Geschäftsbasis – eine Nostalgie der Sinnlichkeit.

Im Osten wie im Westen galt Konopka als Ausnahmeerscheinung. Seine Manieren machten seinen BRD-Gegenspielern den Umgang mit ihm leicht, noch dazu, da der Spitzenmann des DDR-Ministeriums für Außenwirtschaft und ›volkseigene Casanova‹ eine Schlüsselfigur war, die bei Laune gehalten werden sollte. Mit Sicherheit kam bei den Verhandlungen um den Freikauf kein Häftling in DDR-Gewahrsam auf die Transferliste, wenn es der stets im Hintergrund agierende Konopka nicht wollte.

Der Osten ließ seinem Paradiesvogel ziemliche Ungewöhnlichkeiten durchgehen, da er schließlich die Ost-Mark durch westliche Devisen aufwertete und einer der wenigen war, die hinter die Kulissen der BRD-Industrie sehen konnten. Man wußte, daß er sich unter vier Augen mit General Lupus duzte. Es war aber auch bekannt geworden – und ungerügt geblieben –, daß der Spionage- und Handelsspezialist im Gespräch mit einem Hamburger Journalisten über den Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus gewitzelt hatte: »Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus – im Sozialismus ist es genau umgekehrt.«

Konopka hatte lachend, der Reporter verblüfft reagiert. Und dann war der rote Diplomat zur nächsten Klassifizierung gekommen: »Der Kapitalismus macht soziale Fehler und der Sozialismus kapitale.«

»Und warum kommen Sie dann nicht zu uns in den Westen, Herr Konopka?« hatte der Journalist erwidert und die Antwort erhalten: »Weil ich diese Fehler abstellen möchte.«

In Raten, auf Umwegen erreichte Konopka den Kudamm, gegen 22 Uhr 37. Auf Höhe des Hotels Kempinski stand ein grauer VW-Käfer, dessen rechte Türe unverschlossen war. Der Mann aus Ostberlin stieg ein, rutschte nach links, schaltete Zündung und Scheinwerfer ein, löste die Handbremse. Er fädelte sich in den Verkehrsstrom, reihte sich kurz vor der nächsten Ampel links ein und wählte mit Richtung Gedächtniskirche den denkbar längsten Weg zum Grunewald.

Er fuhr langsam, hatte das Autoradio eingeschaltet. Die in den Fond brodelnde Musik konnte das Richtmikrofon nicht stören, aber unerwünschte Zuhörer ausschließen, während der Mann aus dem Osten die Minispüle besprach:

»Achtung!« begann er. »geheimhaltestufe i. anweisung ausser der reihe.« Während Konopka sprach, fuhr er langsam. Das Mikrofon war nicht zu sehen. Er hatte beide Hände am Steuer, den Blick auf der Straße. Falls er wirklich von außen beobachtet würde, wirkte er wie ein Mann, der vor sich hinfluchte oder Selbstgespräche führte. Nach knapp zwei Minuten hatte er das Miniband mit Befehlen munitioniert. Während der Fahrt schob er die Kassette in die Jackentasche. Tote Briefkästen gab es in Berlin wie Sand am Meer, aber in diesem Sonderfall zog Konopka ausnahmsweise einen lebenden vor.

Das Band würde sich automatisch löschen, wenn es Unbefugten in die Hände fiel. Der Aufwand war nicht übertrieben. Es stand einiges auf dem Spiel, und zwar für den Osten wie für den Westen. Nur aus diesem Grund hatte Konopka heute Europas längste Mauer hinter sich gelassen. Er mußte die Geheimanweisungert im Kopf über den Kontrollpunkt schmuggeln, um sie nicht den Zufälligkeiten des Grenzübertritts auszusetzen.

Konopka ließ den VW-Käfer stehen. Er war sicher, daß ihn sein Eigentümer bald finden würde. Bis zum Blauen Haus mußte er nur noch zweimal um die Ecke. Die letzte Strecke gingen die meisten Besucher des Privatklubs zu Fuß. Es war verpönt, in seiner Nähe den Wagen abzustellen.

Sein Ziel lag im verträumten Ende eines leicht verwahrlosten Parks. Das Gebäude war mit wildem Wein bewachsen; man konnte nicht feststellen, ob es ursprünglich blau gewesen war. Konopka drückte die Klingel und nannte einen Namen.

Das Schloß sprang elektrisch auf; er trat in einen Vorraum. Erst als er die Türe geschlossen hatte, wurde er hell ausgeleuchtet. Vermutlich erschien er jetzt, von einer automatischen Kamera erfaßt, auf einem Bildschirm irgendwo im Haus, wo der Klubmanager prüfte, ob Name und Gesicht übereinstimmten.

Erst in diesem Fall sprang die nächste Türe auf – wie in diesem Moment.

Als Spitzenmann des Ostens mußte Konopka an diesem Ort exotischer wirken als die farbigen Diplomatentöchter nebst ihren Freundinnen, nur wußte es niemand. Das bedeutete, daß seine Bürgschaft ein ganz hoher Pate übernommen hatte.

Die Musik war angenehm gedämpft, das Licht weich moduliert. Die Halle wirkte groß, sparsam, doch nicht spärlich möbliert. Offensichtlich hatte hier Geld dem Geschmack geholfen; statt ihn zu bestimmen. Nebenan gab es kleinere Gesellschaftsräume, im Souterrain ein Hallenschwimmbad.

Konopka trat an die kleine Bar in der Ecke, sagte »Guten Abend« und wurde dadurch teilnahmeberechtigt an den Zufälligkeiten des Abends. Das weite Oval war zur Hälfte besetzt, Herren in knapper Überzahl. Die Damen sahen ungewöhnlich gut aus, nicht weil das Licht ihnen schmeichelte. Auch die Herren konnten sich sehen lassen. Der Mann aus dem Osten kannte niemanden, weder persönlich noch von dem Foto in seinem Dossier.

Der Blickfang nannte sich Bianca, offensichtlich eine Südamerikanerin. Sie trug ein gehäkeltes Wollkleid auf der bloßen Haut; es heizte den Umsitzenden beiderlei Geschlechts offensichtlich ein, daß man nicht sah, was man doch sehen müßte..

Es gab keinen Keeper an der Bar, entweder es übernahm einer der Gäste dieses Amt freiwillig, oder man bediente sich selbst. Da in diesem Haus – so wenig Bordell wie Kloster – laute Töne verpönt waren, benutzte man Alkohol ohnedies nur, um seine Sinnlichkeit leicht anzufeuchten. Erlaubt war, was gefiel, und es gefiel das Unerlaubte.

Man kam hierher, um etwas zu erleben oder um sich zu versagen. Der Klub lebte davon, daß sich Fantasie und Wirklichkeit überschnitten. Die Konversation an der Bar war dreisprachig. Man unterhielt sich mit der bekannten Star-Architektin über den neuesten Golfschläger, ganz fachlich, und malte sich dabei aus, daß die Dame mit dem präzisen Französisch in wenigen Minuten schon irgendwo nebenan zu einer fleischfressenden Pflanze werden könnte, die noch dazu Zoten ausspuckte, um eine Stunde später den Sündenpfuhl ladylike wieder zu verlassen.

Gelegenheit macht Liebe. Der Privatklub bot sie reichlich. Es war wie eine Diplomatenjagd in einem Wildpark. Männliche und weibliche Teilnehmer waren gleichberechtigt; jeder hatte sein Gewehr – keiner die Gewähr –, und jede Kugel trifft ja nicht, auch wenn man mit Schrot schießt.

Kurz vor 23 Uhr stieß Konopka auf das Wild, das vielleicht ihn jagen würde:

An der Bar, schräg gegenüber, saß eine Dreißigerin mit grüngrauen Augen und weichen Lippen, die männliche Aufmerksamkeit provozierte und mißachteté, Männer durchblickend, als wären sie aus Glas. Eingeweihte wußten, daß sie längst nicht so unnahbar war, wie sie sich gab, was nichts daran änderte, daß ihnen etwas einfallen mußte, wenn sie sich ihr nähern wollten.

Konopka sah aus wie ein Mann, der sich gerade das Angriffskonzept zurechtlegte.

»Verehrtester«, raunte ihm ein geschniegelter Bursche belustigt zu, der neben ihm saß und von allen Emil genannt wurde. »Bei dieser Dame werden auch Sie sich eine Abfuhr holen.«

»Möglich«, erwiderte der urbane Spitzenfunktionär und nahm mit den Augen Maß.

Dann wechselte er den Platz, setzte sich neben die Dreißigerin und nahm das alte Spiel auf: Adams Begehren – Evas Verwehren.

»Sie gefallen mir«, sagte Konopka.

»Danke«, erwiderte sie mit einem leichten französichen Akzent. »Zum Glück gefalle ich nicht nur Ihnen.«

Die Umsitzenden lachten.

»Sind Sie Französin?« versuchte er das Gespräch in Gang zu halten.

»Keine Fragen«, entgegnete sie. »Nicht an diesem Ort.«

»Ich würde Ihnen gerne Berlin zeigen«, sagte Konopka. »Ich bin nur leider sehr in Zeitdruck.«

»Ich heiße Madeleine«, erwiderte sie, »und ich hasse Männer, die es eilig haben. Hast ist mir überhaupt zuwider. Aber falls Ihnen etwas Neues einfällt«, sie lächelte spöttisch, »bon, ich gebe Ihnen fünf Minuten Zeit, Monsieur.«

Konopka stand auf.

Madeleine zögerte, nahm dann vorsichtig ihre übereinandergeschlagenen Beine vom Hocker, hängte sich bei ihm ein. Unter beifälligen und eifersüchtigen Blicken gingen beide die freitragende Treppe hinauf, die zu den intimeren Räumen führte.

Eine Tür stand offen; der Mann aus dem Osten bewertete es offensichtlich als Einladung. Er schaltete das Radio ein, wiewohl es sicher in diesem Haus so wenig Zuhörer gab wie Zuschauer. Auch in verfänglicher Situation blieb er der blendende Vertreter eines miesen Gewerbes. Er spielte die Szene durch wie vor vollem Haus, stand einen Moment verlegen vor der frivolschönen Madeleine, betrachtete die Couch.

Sie war breit und weich, nah und einladend.

»Sie gefallen mir«, sagte Konopka.

»Erste Wiederholung«, spottete sie. »Geht alles ab von Ihrer Zeit. Bin nur gespannt, wie Sie das in vier Minuten schaffen wollen.«

Seine Hände schossen vor; er riß sie an sich.

»Nicht mit Brutalität«, girrte sie.

Er streichelte Madeleines Schläfen, seine Lippen suchten ihren Mund.

»Und nicht auf die Pennälertour«, fuhr sie fort, als er sie wieder losließ.

Konopka wurde wütend und schlitzte das geschlitzte Kleid noch weiter auf.

»Und nackt ist’s ein Proleten-Sport«, konterte Madeleine. »Sie haben noch zwei Minuten, Bester.«

»Verzichte«, erwiderte Konopka in der typischen Reaktion des Mannes, dem der Abend verdorben worden war.

Aber der lebende Briefkasten hatte das Tonband und würde es genauso perfekt weiterbefördern, wie er es übernommen hatte.

Konopka nahm die Blamage auf sich, allein die Treppe herunterzukommen, und übersah die grinsenden Gesichter. Er ging auf den Ausgang zu, und Allerwelts-Emil, ein Mann vom Bundesnachrichtendienst, registrierte, daß der Diplomat von drüben nur sechs Minuten mit der pikanten Dame allein gewesen war.

Bevor er noch ausgetrunken hatte, kam auch Madeleine zurück, offensichtlich nicht darauf erpicht, den Abend hier zu verlängern. Sie zeigte schnippische Lippen und zornige Augen, wohl verärgert, einem Tölpel aufgesessen zu sein. Wenn man genau hinsah, konnte man selbst im Dämmerlicht erkennen, daß sich ein Banause an ihrem schicken Kleid vergriffen haben mußte.

Madeleine ging nach draußen und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie kletterte in einen VW-Golf und fuhr nach Charlottenburg. Sie sah sich um, ohne zu bemerken, daß Everybody’s Darling, der Mann, den alle Emil nannten, ihr in einem Opel folgte.

Die Frau mit dem französischen Akzent ließ den Wagen am Kudamm stehen und ging zum Kempinski weiter. Emil wartete, bis sie das Hotel betreten hatte. Dann ging er zum Portier, blinzelte ihm zu, nahm ihn zur Seite und schob ihm einen Zwanzigmarkschein zu: »Schicke Gäste wohnen in Ihrem Haus«, bemerkte er. »Die Dame, zum Beispiel, die gerade …«

»Eine Schweizerin«, erwiderte der Mann mit den gekreuzten Schlüsseln am Kragenspiegel. »Madeleine Dressler, Zimmer 37. Sie ist zum erstenmal bei uns abgestiegen.«

»Allein?« fragte Emil reichlich plump.

»Solche Fragen stellt man nicht, mein Herr«, entgegnete der Portier und wirkte wie ein Mann, den weiteres Trinkgeld nicht ansprechbar machen würde.

34 Minuten später wählte ein Grenzpolizist am Checkpoint Charly eine sechsstellige Nummer und meldete, daß Max Konopka um null Uhr 59 zu Fuß nach Ostberlin, in den Arbeiterund Bauernstaat, zurückgekehrt sei, in dem es – wie die Bewohner spötteln – die höchsten Bäume der Welt gibt, da sie alle in den Himmel wachsen.

Die Nacht der Schakale

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