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Auf der Insel des Lichts war es schon Freitag, 7 Uhr 55 Ortszeit, als ich am Donnerstagnachmittag aus dem Headquarter von Langley – wo ich ein Gäste-Apartment bewohnte – im Bali Hyatt am Strand von Samur an der südlichen Westküste anrief, um Vanessa einen guten Morgen zu wünschen und sie zu bitten, meine Rückkehr abzuwarten, selbst wenn sie sich um ein, zwei Tage verzögern sollte.

Die Verbindung kam nicht so glatt zustande, wie ich es mir wünschte. Ständig war die Vorwahlnummer belegt. Endlich kam ich durch, hörte aber zunächst nur Balis ewige Gamelan-Musik. Das Hyatt, ein internationales Ferienhotel, war in der Saison fast immer voll ausgebucht, aber der Mann, der sich schließlich meldete, vermutlich ein Hausboy bei der Reinigungsarbeit, sprach nur dürftiges Pidgin-Englisch.

Als er endlich begriff, was ich wollte, war die Leitung wieder zusammengebrochen.

Ich begann von neuem mit meinem Geduldsspiel, geriet dabei in Zeitnot, denn in 20 Minuten wollte mich der große Gregory sprechen, und der CIA-Vice haßte Unpünktlichkeit – ich übrigens auch. Schließlich kam ich durch; jetzt war am anderen Ende der Leitung auch der zuständige Rezeptionist auf dem anderen Kontinent: »Good morning, Sir«, sagte er, als ich mich gemeldet und um Verbindung mit Miß Vanessa Miles gebeten hatte. »Just a moment, Sir.«

Ich freute mich schon auf Vanessas Stimme und auf ihre Verblüffung. Ich sah sie ein paar Sekunden lang vor mir, in einem Nichts von weißem Nighty auf ihrer gebräunten Haut, die so appetitlich duftete, daß sie mich verwirrte und überwältigte. Ich spürte wieder ihre Haarspitzen wie kleine, elektrische Schläge an meiner Gesichtshaut. Einen Moment lang wurde ich von einer Art Glücksgefühl überflutet, das mich beinahe eifersüchtig auf mich selbst machte.

Es war, als wollte ich alles, was ich an Gefühlsregungen bei anderen Frauen eingespart hatte, in die Ferien-Gefährtin der Trauminsel ›Morgen der Welt‹ verschwenden.

»I am sorry, Sir«, meldete sich der Hotelbedienstete wieder. »Ich kann Sie nicht verbinden, Miß Miles ist leider schon abgereist.«

»Abgereist?« rief ich mit einer Stimme, über die ich selbst erschrak. »Aber ihre Gruppe fliegt doch erst morgen nach Bangkok weiter.«

»Sorry, Sir«, wiederholte er. »Miß Miles ist vor einer Stunde zum Airport gefahren. Wie war Ihr Name, Sir?«

Ich wiederholte ihn.

»There is a message for you«, entgegnete der Portier.

Ich wußte sofort, daß die Notiz, die Vanessa für mich hinterlassen hatte, eine Hiobsbotschaft war.

»Hören Sie«, fuhr der Mann am Telefon fort, »Miß Miles mußte plötzlich in einer dringenden Familienangelegenheit nach Großbritannien zurückfliegen. Vielleicht können Sie Miß Miles noch am Airport erreichen.«

Ich ließ mir die Telefonnummer vom Flughafen Ngurah Rai geben und Vanessa dort ausrufen. Vergeblich. Ich grübelte erfolglos darüber nach, was vorgefallen sein mochte. Schmerzlich und in Raten begriff ich, daß es für mich, ganz gleich, wie mein Gespräch mit Thomas E. Gregory ausgehen würde, keinen Rückflug auf die Paradiesinsel gäbe. Es war ein Absturz in Raten.

Es gelang mir nicht einmal festzustellen, mit welcher Fluglinie Vanessa abgereist war. Es gab mehrere Möglichkeiten mit verschiedenen Zielorten. Es war wenig sinnvoll zu hadern, daß sie in der Aufregung offensichtlich vergessen hatte, einen Hinweis für mich zu hinterlassen. Irgendwann müßte es ihr einfallen, und dann würde sich Vanessa mit Sicherheit bei mir melden, unter der Deckadresse, die ich ihr für alle Fälle übergeben hatte; die Frage war nur, wo ich mich dann wirklich aufhielt.

Ich witterte förmlich, wie mich der große Gregory bereits zwischen seinen Klauen festhielt. Ich wehrte mich dagegen, aber ich spürte eine Unruhe – auch was Vanessa betraf – und stemmte mich dagegen. Es war schwer, mich auf den Fall No Name zu konzentrieren, obwohl er es in sich hatte.

Quer durch Deutschland verlief die Ost-West-Teilung und machte mein Geburtsland zu einem Schlachtfeld des Untergrunds. Niemand konnte sagen, wie viele Stasi-Agenten sich im Westen eingeschlichen hatten, mit Sicherheit Tausende, und die meisten von ihnen waren Überzeugungstäter, die mit üblichen Mittel nicht zur Strecke gebracht werden konnten.

Wenn einer Geld nimmt und auf großem Fuß lebt oder einer auf ihn angesetzten Frauen verfällt, durch Spiel- oder Wettschulden in Bedrängnis gerät, so hinterläßt er für die Fahnder deutliche Spuren. Keinen Hinweis auf seine subversive Absicht gibt jedoch ein überzeugter Kommunist, der sich verstellt und womöglich noch auf den Osten schimpft, dem er gestohlene Geheimnisse ausliefert.

So war es bei einem gewissen Maier, einem tüchtigen Mitarbeiter der Forschungsabteilung eines Elektrokonzerns in Sindelfingen. Jeder, der ihn kannte, war der Meinung, er würde innerhalb der Firma sehr rasch Karriere machen. Dann kam ein anonymer Anruf an den Werkschutz: Der Mann heiße gar nicht Maier, sondern Kettenstroh und sammle zugunsten des Ostens Produktionsgeheimnisse, Der Konzern verständigte den Verfassungsschutz, der Meier alias Kettenstroh beschattete und auf zwei weitere Komplizen stieß. Alle drei wurden festgenommen und durch Indizien hinreichend überführt. Von dem Anrufer freilich, der den Wink gegeben hatte, fehlte jede Spur. Vermutlich hatte er durch eine Plastikfolie über der Sprechmuschel seine Stimme unkenntlich gemacht.

Szenenwechsel: Wieder ein Anruf in Bonn. Im Bundeskanzleramt. Wieder eine unkenntliche Stimme, aber diesmal nannte der Anonymus sich Sperber und behauptete, entscheidend zur Aufklärung des Falls Sindelfingen beigetragen zu haben. Es konnte ein Spinner sein oder ein Wichtigtuer, aber tatsächlich führte sein Anruf zur Enttarnung einer Ost-Agentin in einer Schlüsselstellung, die freilich im letzten Moment entkommen konnte.

Und dann hatte sich wieder ein Anrufer gemeldet: in München. Die Flügelschläge des Sperbers verwandelten Pullach in ein Hornissennest.

Es kam freilich immer wieder vor, daß auf der anderen Seite ein Spion absprang, um sich dadurch eine goldene Nase zu verdienen. Aber in allen diesen Fällen waren zuerst Geldforderungen gestellt und dann die Informationen geliefert worden. Wer sich hinter dem Decknamen Sperber auch verbergen mochte, hatte ein neues Verfahren erfunden: die nachträgliche Honorierung.

Im Camp waren inzwischen die drei Fälle verglichen und vom Computer ausgewertet worden. Falls das Ergebnis stimmte, handelte es sich um drei voneinander unabhängig operierende Agentenringe. Untergeordnete Chargen im Staatssicherheitsdienst konnten Kenntnis von einer Organisation haben; wer alle drei kannte, mußte Zugang zu sämtlichen Vorgängen der obersten Geheimhaltungsstufe haben und damit in unmittelbarer Umgebung von General Lupus sitzen.

Das war ein elektrisierender Schluß, so fern er stimmte. Aber die vielen Fragezeichen, die blieben, konnten einem Mann wie Thomas E. Gregory nicht entgangen sein. Wenn er sich trotzdem bereits in diesem Stadium mit Verve auf die Affäre stürzte, mußte er noch Material in der Hinterhand haben, das im Dossier nicht enthalten war.

Es fiel mir schwer, die Operation No Name sachlich zu werten und mich auf Pullach zu konzentrieren, denn Bali stand mir im Moment näher. Ich sah auf die Uhr; es war Zeit, dem CIA-Vice gegenüberzutreten. Ich betrachtete mich im Spiegel und versuchte, mein Gesicht zu ordnen.

Der große Gregory saß an seinem Schreibtisch und löffelte einen Natur-Joghurt mit dem Behagen, das ein normaler Mensch beim Verzehr eines saftigen Steaks empfindet. »Sit down, Lefty«, forderte er mich gutgelaunt auf.

Ich ließ mich nieder und schob ihm in einem verschlossenen Umschlag das Dossier des Falls No Name zu.

»An appetizer, is’nt it?« fragte der große Gregory, für seine Verhältnisse fast vergnügt.

»Sure, Sir«, erwiderte ich.

Ich wollte ihm nicht gleich sagen, daß mir seine Delikatessen auf den Magen geschlagen waren. Er sah es mir vermutlich an. Wiederum hatte ich – wie schon bei der Lektüre der Materialsammlung – das unbestimmte Gefühl, in eine Art Verschwörung geraten zu sein. Bevor ich mich mit der Qualität der Unterlagen befaßte, hatte ich bereits festgestellt, daß das Kuckucksei im Pullacher Nest schon vor meinem Abflug in die Ferien ausgebrütet worden sein mußte.

»Schießen Sie schon los, Lefty«, forderte mich mein zweifelhafter Gönner auf und sah mich an wie ein Chirurg den Patienten, den er gleich unter das Messer nehmen wird. »Sie haben natürlich anhand der Eingangsstempel sofort gesehen, daß uns die ersten Hinweise bereits vor Wochen erreicht haben«, versuchte er mein Grimm zu entmannen.

»Richtig, Sir«, bestätigte ich. »Und ich frage mich, warum Sie mich jetzt partout an diesen Fall setzen wollen, nachdem Sie mich damals nicht hinzugezogen hatten.«

»Aus zwei Gründen«, antwortete der Vice, ungewöhnlich geduldig. »Erstens erreichte uns der wichtigste Teil der Informationen erst, als Sie bereits in Ihr schlitzäugiges Abenteuer aufgebrochen waren, und dann wurden Sie inzwischen von einem unserer besten Männer angefordert – Sie persönlich, Lefty!«

»Ich werde mir die Blumen ins Knopfloch stecken«, spottete ich.

»Cassidy«, nannte Gregory den Namen in der Manier des großen Magiers, der die nackte Jungfrau aus dem Kasten zaubert. »Sind Sie nicht sein Freund?«

»Hoffentlich bleibe ich es auch«, entgegnete ich. »Was hat Steve eigentlich mit dem Camp im Isartal zu tun?«

»Eine ganze Menge«, erwiderte Gregory. »Wir haben ihn vorübergehend als unseren Sonderbevollmächtigten in die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes entsandt.«

Er sah mich mit seinen kleinen starren Augen an, die wie hineingedrückt in tiefen Höhlen steckten. »Ich garantiere Ihnen, daß ich nichts damit zu tun habe, wenn Ihr Freund zu der Auffassung gelangt ist, daß er Sie unbedingt braucht, Lefty.«

Er konnte sagen, was er wollte. Gregory wußte ziemlich genau, daß ich kaum eine Möglichkeit hatte, eine Anforderung Steves auszuschlagen. Es gab eine stattliche Reihe von CIA-Leuten, mit denen ich recht gut auskam – und mindestens genauso viele, die ich nicht ausstehen konnte. Aber Steve war mein einziger Freund, und das nicht grundlos. Er hatte mich bereits zweimal aus der Klemme geholt und mir dabei einmal mit Sicherheit das Leben gerettet. Cassidy würde sich eher die Zunge abbeißen, als mich daran zu erinnern, daß noch eine Dankesschuld bestand. Er brauchte es auch nicht, denn das besorgte schließlich der Vice Director von Langley.

»Kommen wir endlich zur Sache«, forderte mich der große Gregory zu einer Analyse auf, die ebensogut er wie jeder andere Deutschland-Spezialist im Hause erstellen konnte. »Was halten Sie von diesen Vorgängen?«

»Es ist noch zu früh, um etwas davon zu halten«, erwiderte ich. »In diesem Stadium stehen noch viele Möglichkeiten offen. Zunächst einmal sieht es aus wie die ein wenig unübliche Eröffnung eines gewöhnlichen Geheimdienstspiels, in einer allerdings beträchtlichen Größenordnung. Es ist unübersehbar, daß Pullach in der Tat in rascher Folge drei ungewöhnliche Einbrüche in SSD-Agentenringe gelungen sind, vermutlich durch Hinweise von der anderen Seite, womöglich in allen drei Fällen dieselbe Quelle. Sie liegt im dunkeln. Wer der Informant auch sein mag, er hat keinen Namen, kein Gesicht, keine Dienststelle – und was noch weit mehr zählt, vorderhand auch kein Motiv.«

»Stimmt«, erwiderte mein Gegenüber »aber wenn er das Spiel fortsetzen will – wenn er es nicht wollte, hätte er es mit Sicherheit nicht eingeleitet –, mußte er umgehend und irgendwie aus dem Dunkel heraustreten und uns eine Gegenleistung abverlangen, und dann erfahren wir auch das Motiv und können uns mit ihm beschäftigen.«

Gregory hatte natürlich recht, und ich mußte ihm zustimmen. »Es gibt gewisse Hinweise, die eine Mutmaßung rechtfertigen, der große Unbekannte säße in unmittelbarer Nähe des Stasi-Generals Lupus«, sagte ich, »und damit beginnt bereits die Schweinerei: Die Hinweise können konstruiert sein, Leimruten, auf die wir kriechen sollen.« Ich suchte die Augen des großen Gregory. »Entweder haben Sie mir in dem Dossier Material vorenthalten, Sir, oder Sie setzen neuerdings in einer Art Wunschdenken auf gewaltige Spekulationen.«

»Bleiben Sie nur kritisch, Lefty«, fing er meine Spitze ab. »Sie wissen ja, wie sehr mir voreiliger Überschwang zuwider ist.«

»Gut«, erwiderte ich. »These Nummer eins: Es kann sich bei den Enttarnungen um ein zufälliges Zusammentreffen von Abwehrerfolgen handeln.«

»Möglich, doch unglaubhaft,«

»Das ist es eben, Sir. Wir sind so sehr in unsere Kabalen verstrickt, daß uns die Banalitäten und Eventualitäten des täglichen Lebens entgehen. Sie wissen, was ich meine, Sir?«

»Nein«, entgegnete Gregory. »Das sollten Sie mir schon genauer erklären.«

»Ein Arzt wittert überall Bazillen, ein Pfarrer Sünden, ein Bankdirektor Pleiten, eine Nutte Freier, und wir – wir sehen in jeder Zufälligkeit einen Fallstrick der Gegenseite.«

»Und Ihre These Nummer zwei?« überging der CIA-Gewaltige meine saloppe Ausdrucksweise.

»Ich will nur noch sagen: Wenn es wirklich Zufälle waren – das Gegenteil ist noch nicht bewiesen und vielleicht auch nie beweisbar –, droht die Gefahr, daß wir mit Kanonen auf Spatzen schießen. Vielleicht wäre es das beste, die Akten zu schließen, Sir, und auf weitere Glücksfälle zu warten.«

»Und bis sie eintreten, soll ich Sie wieder auf Ihre Paradies-Insel zurückschicken.«

»Ich hätte nichts dagegen, Sir«, antwortete ich. »These Nummer zwei: General Lupus hat meines Erachtens sofort eine Untersuchung der Pannen angeordnet. Selbstverständlich muß er annehmen, daß Verrat im Spiel ist. Der Ausgang seiner Fahndung ist klar: Entweder gibt es keinen Maulwurf in seinem Lager, oder er läuft schleunigst über, oder er wird – oder ist bereits – liquidiert.«

»Nicht von der Hand zu weisen«, erwiderte Gregory. »Aber vielleicht dreht es sich gar nicht um einen Untergeordneten, sondern es handelt sich um General Lupus persönlich. Sie wissen doch, Lefty, daß er uns seit einiger Zeit besondere Rätsel aufgibt.«

Drahtzieher der unsichtbaren Front sind im allgemeinen auch bei ihren eigenen Leuten mehr gehaßt als beliebt. Der Chef der Hauptverwaltung Aufklärung war eine Ausnahme. Er wurde von seinen Mitarbeitern vergöttert; selbst Überläufer, die dem verlassenen Arbeitgeber selten etwas Gutes nachsagen, bezeichneten ihn als hochintelligent und faszinierend im persönlichen Umgang. Sie rühmten seine Schlagfertigkeit und Führungsqualität ebenso wie sein Eintreten für die sozialen Belange seiner Mitarbeiter, die er selbst bei Versäumnissen nicht ohne weiteres fallen ließ. Solcherlei Berichte stimmten überein, was aber noch kein Beweis war, daß sie auch zutrafen.

Lupus war im Schwäbischen geboren und als Sohn eines deutschen Arztes und Bühnenschriftstellers in Moskau aufgewachsen. Das bekannteste Drama seines Vaters trug den Titel Zyankali, und genauso giftig wie HCN waren auch die subversiven Ränke, die der Sohn für den zweiten deutschen Staat betrieb. Immer wieder gelang es ihm, Bonner Regierungsstellen zu unterwandern und schließlich einen Agenten sogar im Vorzimmer des Bundeskanzlers zu plazieren. Ein Jahrzehnt lang saß er in der BND Zentrale mit am Tisch: Der Regierungsrat Heinz Felfe und zwei weitere frühere SS-Männer hatten über 300 Minox-Filme mit 15661 Aufnahmen sowie 20 Tonbänder und zahllose Funkmeldungen an den Osten geliefert. Ein Jahrzehnt war das Camp durchsichtig gewesen wie ein Glashaus. Dieser Zustand war zwar beendet, aber eine Wiederholungsgefahr ist immer gegeben.

General Alexander Lupus, der Westdeutschland zu einem Tummelplatz seiner Agenten gemacht hatte, war in Untergrundkreisen legendär. In Ostdeutschland selbst kannte ihn keiner. Sein Name wurde nie erwähnt, sein Foto nie gezeigt. Man wußte nur, daß er eine Nickelbrille trug, Geheimratsecken mit angegrauten Haaren hatte und dem Minister für Staatssicherheit, der es vom Polizistenmörder der Jahres 31 zum allmächtigen DDR-Polizeichef gebracht hatte, loyal ergeben war.

Im März 1982 war sein Bild plötzlich im Neuen Deutschland zu sehen gewesen. Sein Bruder Konrad Lupus, der Präsident der Ostberliner Akademie der Künste, war gestorben, und der Untergrundstratege stand mit seinen Angehörigen am offenen Grab und ließ sich auch von zahlreichen westlichen Fotografen ablichten. Bei aller Trauer – man wußte, daß er seinem an Krebs verstorbenen Bruder sehr zugetan war – hätte er die Veröffentlichung verhindern können, in der DDR-Presse ohnedies und im Westen durch Aussperrung der ausländischen Fotografen von der Bestattung.

Seitdem rätselten alle westlichen Geheimdienste darüber, was diese bewußte Zurschaustellung bedeutete: Sollte Lupus der Nachfolger seines 75 Jahre alten Ministers Mielke werden oder – wie nicht selten und vielleicht auch nicht unbegründet behauptet wurde – beim SED-Zetka in Ungnade gefallen sein und bald abgelöst werden?

»Wenn an diesen Gerüchten etwas ist, Sir«, sagte ich zum großen Gregory, »dann bestünde die Möglichkeit, daß Lupus versucht, durch einen halsbrecherischen Alleingang seinen alten Glanz wieder aufzupolieren.«

Der Vice zeigte sein mumifiziertes Lächeln.

»Ich halte es jedoch für viel wahrscheinlicher, daß er der Nachfolger seines Ministers wird. Dann kommt sein Bild ohnedies in alle Zeitungen; er bleibt in seinem Fach, ist aber weitgehend der Schußlinie entzogen. Vielleicht möchte er vor seiner Beförderung noch ein besonderes Kabinettstückchen liefern.«

»Zum Beispiel?«

»Den Fall Sperber«, entgegnete ich, »abgesprochen mit Zetka und KGB, eine selbst arrangierte Durchstecherei, Agenten, die den Gegenspielern geopfert werden wie bei einem Schachspiel Bauern zugunsten der Offiziere. Ich traue Lupus trotz seiner menschenfreundlichen Fassade alles zu. Wir haben ja schließlich unsere Erfahrungen mit ihm. Wir wissen, daß er alle Möglichkeiten der Dreckslinie rücksichtslos ausnutzt und dabei gegebenenfalls seine Leute nicht schont.« Ich sah ihn an, bevor ich zuschlug: »Jeder Geheimdienst schlachtet gelegentlich seine Opfertiere.«

»Kümmerliche Kaninchen«, schnaubte der Vice, »kein preisgekröntes Zuchtvieh. Bedenken Sie doch, Lefty: Die drei Agenten von Sindelfingen sind als Wirtschaftsspione für den Osten unersetzlich.«

»Ein Spieler riskiert mitunter den Höchsteinsatz, um den Spitzengewinn zu erraffen«, erwiderte ich.

»Die Sekretärin des Auswärtigen Ausschusses ermöglichte der SED-Regierung Einblicke bereits in die Konzepte der Bonner Ostpolitik – und das nun schon seit vielen Jahren.«

»Die Agentin wurde gewarnt und ist in die DDR entkommen«, konstatierte ich.

»Das stimmt zwar«, entgegnete der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches, »aber eine ungemein wertvolle Nachrichtenquelle ist dadurch für immer versiegt.«

»Vielleicht gibt es längst eine zweite, die die erste entbehrlich macht«, versetzte ich.

»Als Kassandra sind Sie große Klasse«, erwiderte Gregory gereizt und lenkte sofort wieder ein. »Ein Jammer, daß so ein gewitzter Mann wie Sie uns verlassen will«, sagte er elegisch und setzte dann penetrant hinzu: »Zum Glück erst in drei Wochen. Keine Angst, Lefty, unser Abkommen über Ihren Wechsel in den Auswärtigen Dienst gilt noch immer, aber es wäre mir lieb, wenn Sie uns bis dahin helfen würden, das Dunkel um diese verdammt undurchsichtige Affäre zu lichten.«

»Das würde ich gern tun«, antwortete ich betont freundlich, »aber ich darf Sie daran erinnern, daß ich bis zu meinem Ausscheiden Ende des Monats noch Urlaub habe und ab ersten Juli meinen Dienst bei der US-Botschaft in Mehlen bei Bonn antreten muß.«

Der große Gregory stieg aus seiner guten Laune wie Frau Potiphar aus ihrem geblümten Morgenmantel, aber er wurde nicht attraktiver dabei. »Nun hören Sie mir einmal gut zu, Sie Möchtegern-Aussteiger«, wies er mich zurecht. »Ich habe Ihrer Versetzung keinen Stein in den Weg gelegt, weil Sie Verdienste um unsere Organisation haben und weil ich der Meinung bin, daß Sie uns auch weiterhin von Nutzung sein können. Es ist Ihnen doch wohl klar, daß wir einen Mann wie Sie nicht einfach ziehenlassen. Ich setze als selbstverständlich voraus, daß Sie uns insoweit noch erhalten bleiben, als man Sie bei den US-Auslandsmissionen als Abwehr-Mann verwenden wird.«

In seinem Gesicht mit der pergamentfarbenen Haut konturierte sich ein mageres Lächeln. »Es ist nur ein halbes good bye, das wir Ihnen gewähren.« Er stieß zu wie ein Turmfalke: »Und das auch erst in drei Wochen; Mit dem Außenminister werde ich eine spezielle Urlaubslösung für Sie persönlich besprechen.« Er stand auf, nahm das Dossier und verschloß es sorgfältig in seinem Office-Tresor. »Ich gebe zu, daß ich Sie ein bißchen plötzlich aus Ihren Träumen gerissen habe; die Zeitverschiebung, der Klimawechsel und nunmehr Deutschland-West, statt Fernost. Was sein muß, muß sein. Ich will Sie nicht drangsalieren, Lefty.« Er sprach ohne Bedauern und ohne Wärme. »Auch wenn es Sie momentan hart trifft, wird es Sie bald trösten.« Über sein von den Jahren angefressenes Gesicht lief ein Lächeln wie Salzsäure. »Ich kann Ihnen bestätigen, daß Sie bei Ihrem Ferienabenteuer in Indonesien nicht viel versäumt haben – trotz der bemerkenswert zarten Pfirsichhaut von Miß Miles.«

Es war ein Knockout, und mir wurde schwindlig.

Vanessa mußte mich genauso hereingelegt haben wie dieser abgefeimte Puppenspieler. Meine Gefühle machten bankrott, und ich konnte momentan nicht mehr tun als zu verbergen, wie heftig der Schock war: Diese dunkelblauen Augen, klar und rein wie ein Bergsee, diese scheue, zurückhaltende Art, dieser grazile Körper, für den man die Empfindungen aufsparte, bevor man ihn berührte – ich wehrte mich gegen den Gedanken, daß die Frauen aus uns Esel machten – sofern wir uns nicht wie Schweine benahmen.

Jedenfalls steckte hinter Vanessas plötzlicher Familienangelegenheit nichts anderes als meine zweifelhafte Firma – Romeo und Julia nach CIA-Art.

»Sie haben also Vanessa auf mich angesetzt?« fragte ich mit einer Stimme, die auf Sandkörner biß.

»Seien Sie doch nicht kindisch«, wies mich Gregory zurecht. »Glauben Sie, ich lasse einen Mann wie Sie völlig unbeaufsichtigt durch Fernost globetrotten?«

»Sie halten es für nötig, Sir, mich noch drei Wochen vor meinem Ausscheiden bespitzeln zu lassen?«

»Was ist das für eine Ausdrucksweise?« stauchte er mich zurecht. »Ich habe Sie nicht bespitzeln, sondern abschirmen lassen. Außerdem: Tests sind immer nötig. Ein Auto muß ja auch immer wieder zur Inspektion.«

»Nun bin ich ein Mensch und kein Fahrzeug«, erwiderte ich.

»Richtig«, sagte er, »und ein tüchtiger Experte dazu. Ich bin mir darüber im klaren, daß Sie die Gegenseite nicht hereingelegt hätte, denn Sie haben sich an unsere Residentur in Djakarta sogar noch vor der von uns als normal angesetzten Verzögerungszeit mit der Bitte um Auskunft über Miß Miles gewandt.«

»Wie schön, daß ich nicht aufgefallen bin«, ironisierte ich. »Gelernt ist gelernt, nach elf Jahren, isn’t it, Sir?«

Der Vice reagierte nicht.

»Aber es war kein Fair play. Ihr Mann in Djakarta hat mich nach allen Regeln seiner schäbigen Kunst durch eine Falschaussage getäuscht.«

»Werden Sie nicht albern, Lefty«, wies mich die Mumie zurecht. »Der Mann hat in meinem Auftrag gehandelt. Auf Befehl, Lefty.« Er fixierte mich. »Und Sie würden doch auch meinen Befehl ausführen, ob es Ihnen paßt oder nicht.«

»Noch drei Wochen lang, Sir«, entgegnete ich.

Selbst meine Stimme zeigte Genugtuung.

»Außerdem war es ein Doppeltest«, fuhr der große Gregory schamlos fort. »Auch Ihre Bewacherin hatte sich in den folgenden Tagen einer Probe zu stellen.»Er nickte mir zu. »Die Dame hat ebenfalls bestanden, mit Auszeichnung. Das war für mich nicht unwichtig, denn sie ist eine Debütantin.«

Sollte er sagen, was er wollte, wer ihm glaubte, war selbst daran schuld.

Ich sah auf die Uhr und dachte an den Kalender.

Drei Wochen würde ich noch durchstehen, dann wären solcherlei Mätzchen vorbei, erledigt, ausgestanden, und das bedeutete, daß künftig und erstmals eine Frau für mich eine Frau sein würde und kein Objekt, das zuerst mich testen sollte, bevor ich ahnungslos zur Gegenprobe schritt und dadurch zur Unterhaltung des alten Gregory beitrug.

Menschen, ihre Träume, Hoffnungen und Gefühle zählen einen Dreck im Untergrund, es sei denn als Waffe oder Daumenschraube, Und das war noch die humanste Art, einen Mann auf den Marschstraßen des Hinterhalts in der vorgeschriebenen Bahn zu halten, kontrolliert und manipuliert, herumzuschieben. Und darum wünschte ich ja diesen Satansjob zur Hölle.

Ich dachte an Vanessa, und mir wurde übel. Eine Debütantin? Vielleicht. Womöglich aber auch ein besserer Profi als ich. Hereingefallen waren wir wohl beide, aber mich traf es wahrscheinlich härter, denn ich hatte Gefühl gezeigt und wehrte mich noch immer dagegen, nur den Irrtum einzugestehen.

Im Untergrund trägt man kein Herz.

Es zählt nur beim Gegner – als Zielansprache.

»Sie müssen müde sein, Lefty«, erinnerte sich Gregory endlich. »Der Schock und die Strapazen. Schlafen Sie sich gründlich aus. Wir sehen uns morgen früh um neun Uhr wieder, hier in meinem Office.« Er setzte hinzu: »Und es wird interessant für Sie werden.« Ich wußte, daß ich am nächsten Tag Nachträge zu diesem Fall zu sehen bekäme, die er mir bislang unterschlagen hatte.

Die Nacht der Schakale

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