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Gegen Mittag riß der Wind den niedrigen Himmel über Berlin auf. Aus der Wolkenwand rieselte das Licht wie Sägemehl aus einer überfahrenen Stoffpuppe. Die Iljuschin aus Moskau landete pünktlich auf die Minute und spuckte ihre Passagiere aus. Einige trugen trotz des Frühlings warme Pelzmützen, aber der Lenz stand an diesem Tag nur auf dem Kalenderpapier. Eine angeheiterte Betriebsgruppe des VEB Leuna schwenkte lärmend Papierfähnchen mit Hammer und Sichel. Der Wodka sorgte für sozialistische Fröhlichkeit.

Aus dem Rudel, das von einer Bodenstewardeß zu dem Omnibus neben der Landetreppe geleitet wurde, scherte ein schlanker Zivilist aus, ein Mann Ende fünfzig, der wesentlich jünger aussah; er ging an den stramm grüßenden Vopos vorbei und auf die dunkle Limousine zu, die – entgegen der Vorschrift – auf dem Flugfeld zwischen den Versorgungsfahrzeugen stand.

Der Vorzugspassagier mit der getönten Brille wirkte wie ein sportiver Bankdirektor oder auch wie ein Grundstücksmakler, dem man vertrauen konnte, aber sein Handelsgut waren Menschen, ihre Schicksale, ihre Verhaftung, ihr Freikauf. Im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war er zuständig für Subversion, Diversion und Desinformation. Hinter diesen Fachausdrücken des Untergrunds verbargen sich die Einschleusung von DDR-Agenten in die Bundesrepublik, die Unterwanderung der dortigen Parteien und Gewerkschaften, die Ausspähung militärischer Einrichtungen der Bundeswehr, der Blick hinter die Bonner Regierungsmaschine, der Schacher mit Menschen, die – unverschuldet oder schuldig – in den Gewahrsam der sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Republik geraten waren, und die systematische Verbreitung von Falschinformationen, mit deren Hilfe die Gegenspieler im Westen düpiert werden sollten.

Keiner der Passagiere hatte den Untergrund-General Alexander Lupus erkannt, auch der schwankende Funktionär nicht, der ihn während des Flugs in seiner Schnapslaune wiederholt und zwecklos zum Mittrinken genötigt hatte. Vom Chef des russischen Geheimdienstes (KGB) in Moskau war dem Besucher der Rückflug zum Ost-Berliner Regierungsflughafen Schönefeld in einer sowjetischen Militärmaschine angeboten worden, aber es entsprach der Auffassung von Sparsamkeit dieses Großverbrauchers an Steuergeldern, unnötige Repräseritationskosten zu vermeiden.

Für den Aufwand gab er nur Geld aus, wenn er ihn aus der eigenen Tasche bezahlte, für englische Zigaretten der Marke Navy Cut zum Beispiel, für Antiquitäten, Orientteppiche, Seidenhemden und Anzüge aus englischem Tuch. Er ließ sie in Londons Saville Row anfertigen, in der der begüterte britische Gentleman schneidern läßt. Dabei erschien er freilich nie zur Anprobe. Bis auf seine Rumpfpuppe war den westlichen Geheimdiensten bis vor kurzem keinerlei Identitätshinweis auf den General Lupus in die Hände gefallen.

Sabotka holte seinen Vorgesetzten ab, aus dessen Gang der Vertraute des Generals sofort schloß, daß der neue Chef des sowjetischen Geheimdienstes – und Lubjanka-Hausherr am Dschersinskiplatz – dem brisanten Vorschlag zugestimmt und damit den Fall Sperber abgesegnet hatte.

»Verdammt kalt in Berlin«, sagte Alexander Lupus, den seine Freunde ›Sascha‹ nannten. »Und in Moskau herrscht schon Frühsommerwetter.« Er reichte seinem persönlichen Referenten im Majorsrang, der auch die Limousine fuhr, die Hand. »Nach Lichtenberg«, setzte er hinzu.

Er hatte eine angenehme Stimme, die nicht lauter wurde, wenn sie Befehle gab, schon weil sie auch so gehört und peinlich genau befolgt wurde. Lupus war als Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der zweitwichtigste Mann im Staatssicherheitsministerium an der Normannenstraße, das die DDR-Bürger die Firma ›Horch und Guck‹ nannten.

»Bis auf Oberst Grewe, der noch in Bulgarien Ferien macht, werden die Genossen um vierzehn Uhr zur Stelle sein«, meldete Sabotka. »Wir hätten noch Zeit, in Niederschönweide vorbeizufahren.«

»Nein, danke, Sabotka«, erwiderte Lupus. »Ich werde meine Frau vom Büro aus anrufen.«

Der in Moskau aufgewachsene Sohn eines deutschen Emigranten, in den Kommunismus so natürlich hineingewachsen wie Nackenhaare in den Hemdkragen, führte ein mustergültiges Familienleben. Seine Passionen waren bescheiden: Er spielte Tennis, ging gern auf die Jagd und schätzte klassische Musik ebenso wie das Fußballspiel. Da er wenig Zeit hatte, war einer seiner Leute beauftragt worden, Video-Aufzeichnungen über die Höhepunkte der gerade in Spanien stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft zu machen.

Der Mann mit den dunkelblonden, leicht angegrauten Haaren beschäftigte 17000 feste Mitarbeiter sowie weitere 100000 ehrenamtliche Spitzel – und nach Schätzung seiner westlichen Gegenspieler 10000 bis 20000 Agenten in der Bundesrepublik.

Die schwere, fast lautlos fahrende Limousine hatte den Ostberliner Stadtteil Lichtenberg erreicht und bog in die Normannenstraße ein; sie wurde von einem riesigen Gebäudekomplex beherrscht. Aus dem früheren und erweiterten Finanzamtsgebäude einem Haus von seniler Stabilität, war ein Untergrund-Silo geworden, eine Agentenzentrale, die innerhalb der DDR über 16 Bezirks- und 220 Kreisverwaltungen verfügte und vier Fünftel aller je festgestellten Spionage-Aktivitäten in der Bundesrepublik betrieb. Auf deutschem Boden hatten die subversiven Zauberlehrlinge ihre sowjetischen Auftraggeber auf der schrägen Fahrbahn längst überholt, waren dabei aber getreue Erfüllungsgehilfen geblieben.

Der Generaloberst, von seinen Männern meist nur im landesüblichen Abkürzungsfimmel ›BvJ‹ (›Boß vons Janze‹) genannt, eilte über den Gang, durchschritt hastig eine Flucht von Vorzimmern, nahm sich aber die Zeit, mit seiner Sekretärin ein paar Worte zu wechseln. Während er dann in sein Büro ging, blieb Major Sabotka bei ihr im Vorzimmer zurück; er wußte, daß der Chef jetzt mit seiner Frau und seinen Söhnen sprechen wollte.

Sobald er aufgelegt hatte, entnahm der Major einem Tresor eine Auswahl von Meldungen, die während der Blitzreise des Untergrund-Generals angefallen waren, und legte sie vor. Während Lupus sie überflog, bat er die Vorzimmergenossin, aus der Kantine ›irgend etwas Eßbares‹ kommen zu lassen, eine für ihn ungewöhnliche Aufforderung, denn ›Bevaujot‹ war ein Feinschmecker, wenn er auch dafür sorgte, daß sich die Leckerbissen nicht an seiner Figur vergingen.

»Sie haben auch das SED-Zentralkomitee verständigt, Sabotka« fragte der General. »Und unsere Leute in den Ministerien?«

»Selbstverständlich, Genosse Lupus«, erwiderte der Major. »Und wie ich höre, ist der Genosse Lemmers bereits im Haus.«

Der ›Gruftspion‹, so nannte man ihn hinter seinem Rücken – war fast jeden Tag in der Spionage-Zwingburg, in wörtlicher Auslegung des alten marxistischen Spruchs: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser‹. Obwohl der Minister, dessen Stellvertreter Lupus war, dem Zentralkomitee selbst angehörte, hatte das Politbüro zusätzlich noch einen internen Sicherheitsrat etabliert. Vom Standpunkt eines totalitären Staates aus gesehen war das üblich, aus der Optik eines Untergrundstrategen jedoch bedenklich: Sicher dachte niemand daran, daß ausgerechnet im Spitzengremium der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) ein Maulwurf sitzen könnte, der für den Westen arbeitete – aber je mehr Mitwisser es gab, desto durchsichtiger und pannengefährdeter wurde die subversive Schlagkraft.

Als erster, schon fünf Minuten vor der angesetzten Konferenzzeit, war Gelbrich zur Stelle, der bullige, hemdsärmlige Chef von HVA VIII, ein Kommunist alter Schule, der in Spanien und dann in deutschen Gefängnissen seinen Kopf so oft hingehalten hatte, daß er nach Meinung seiner feineren Stasi-Kollegen davon eine weiche Birne bekommen hatte. Gelbrich war ebenso unentbehrlich wie unbeliebt, einer, der dazu neigte, ständig auf ungehobelte Art Stunk zu machen. Der Proletarier vom Dienst stammte noch aus der ersten Führungsgarnitur nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war Leiter der Abteilung, die Sabotageaktionen in Westdeutschland vorbereitete. In seinem Fach war er tüchtig und somit unersetzlich.

Ohnedies duldete der über den Dingen stehende General Lupus höchst unterschiedliche Männer in seiner Umgebung, die nur die eine Gemeinsamkeit aufwiesen, daß sie lupenreine, hochkarätige Kommunisten waren, ob sie es nun stets betonten wie der Genosse Gelbrich oder nie davon sprachen wie Laqueur, ein alter Hugenottensproß, als Ressortleiter von HVH VI für die Einschleusung von Ostagenten in den Westen verantwortlich; er sah aus wie ein gealterter Herrenreiter, der noch gut bei Fuß ist.

Herbert Brosam war der Verbindungsmann zum Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und im grauen DDR-Einerlei ein ebenso buntschillernder Paradiesvogel wie der 45jährige Max Konopka, der als Spitzenmann im DDR-Ministerium für Außenwirtschaft heimlich die Wirtschaftsspionage im Westen dirigierte. Er genoß die besondere Gunst des Generals, und die brauchte er auch, denn sein wildes Privatleben hatte ihm das Etikett ›volkseigener Casanova‹ eingebracht. Irgendwie lebte der Agent ständig zwischen den Ehen, den eigenen wie den fremden.

Sowohl Brosam wie Konopka hatten ihre Laufbahn unter General Lupus begonnen und waren nur Leihgaben an die Ministerien, Funktionäre mit Diplomatenpässen, und das schloß automatisch die Westgenehmigung ein. Brosam, der ›Genosse Kammgarn‹, nach den dunklen Anzügen benannt, die er fast immer trug, richtete in aller Welt DDR-Botschaften ein. Sein Pendant Konopka verhandelte mit westdeutschen Wirtschaftsführern und Vertretern der Bundesbehörden zum Beispiel auch über den zinslosen Warenkredit, ›Swing‹ genannt.

Auf der Tagesordnung der Geheimbesprechung stand nur ein Punkt: die Klärung plötzlicher Einbrüche, die Pullach in einige Außenstellen der ostdeutschen Spionage-Fabrik gelungen war. Schlagartig und unerwartet. Referent war Ludwig Lipsky von HVA I (Politspionage in Westdeutschland), der, gestützt auf außergewöhnliche Vollmachten, im Auftrag des Generals drei peinliche Pannen untersucht hatte. Der Referent war bei der Aufklärung der denkbar geeignetste Mann, weil er zugleich in Personalunion die Abteilung X (Dokumentation) leitete.

»Ich glaube, ich kann euch eine Wiederholung dieser unerfreulichen Vorgänge ersparen, Genossen«, begann er. »Ihr wißt, daß in Sindelfingen bei Stuttgart drei unserer besten, für einen Elektro-Konzern arbeitenden Männer aufgeflogen sind und fast gleichzeitig in Bonn eine unserer erfolgreichsten Quellen, eine Sekretärin im Auswärtigen Ausschuß, entlarvt wurde. Kurz danach ist bei einem Flugzeugkonzern in München einer unserer Perspektiv-Agenten überraschend hochgegangen.«

Ludwig Lipsky, der Berichterstatter, stammte aus Leipzig. Er versuchte fast gewaltsam, seinen heimatlichen Dialekt zu verbergen, die Konsonanten härter und die Vokale weniger breit auszusprechen; es mißlang gründlich, und so sächselte ›Phimoses‹ – wie man ihn hinter seinem Rücken nannte – erst recht drauflos. Im Dienst war er wie eine Maschine; privat hatte Lipsky Hemmungen, da er an einer Vorhautverengung litt, die von Fall zu Fall operativ behandelt werden mußte. Um die Eingriffe hinauszuschieben, wurde der Spezialist der unsichtbaren Front medikamentös behandelt, und zwar mit einer roten Salbe, deren Penetranz mit der Zeit jedes Textilgewebe durchdrang: es hatte dem Leipziger den verhaßten Spitznamen eingebracht.

Man brauchte, so man ihn aus der Fassung bringen wollte, nur auf den roten Punkt an einer pikanten Stelle zu starren; andererseits brachte ihn die bemühte Art, in der seine Kampfgefährten daran vorbeisahen, auch wieder durcheinander. Phimoses flüchtete wegen seiner persönlichen Unbill so ausschließlich in die Dienstgeschäfte, daß er nur noch die BRD-Spionage kannte – und dir rote Salbe! »Das Ziel meiner Untersuchungen, zu der mir alle Möglichkeiten zur Verfügung standen, war, die Fehlerklärung, ob es zwischen ihnen einen Zusammenhang gibt. Ich habe«, zählte der Berichterstatter umständlich auf, »insgesamt siebzehn Zeugen vernommen und mit Hilfe unserer Abteilung Neun und Zehn Meldungseingänge und Befehlsausgänge überprüft.« Er warf einen Blick auf General Lupus und dann auf die Männer am runden Tisch. Er stellte mechanisch fest, daß Brosam, der hektische Nichtraucher, wild an seiner Zigarettenattrappe zog und Lungenzüge imitierte. »Ich konnte keinerlei Unregelmäßigkeiten feststellen. Die Nachrichtenübermittlung ging nach dem gleichen System vor sich, das sich in unzähligen anderen Fällen bewährt hat. Es ist auch seit diesen – sagen wir mal – diesen Unglücksfällen nicht geändert worden und funktioniert reibungslos. In allen drei Fällen waren verschiedene Führungsoffiziere im Einsatz, sie hatten untereinander keinen Kontakt, kannten sich nicht einmal. Auch die Betroffenen wußten nichts voneinander. Im Fall Sindelfingen ist einer unserer Leute durch seinen Übereifer dem Werkschutz aufgefallen. In Bonn dürfte ein Kurier beobachtet worden sein, als er einen toten Briefkasten leerte. Von ihm aus verfolgte der Verfassungsschutz dann die Spur zum Büro; in dem unsere Kundschafterin arbeitete, sie wurde von uns gewarnt und konnte sich im letzten Moment in die DDR absetzen.« Lipsky sprach, als hätte er die Pfeife zwischen den Lippen, deren steter Gebrauch ihm einen schiefen Mund eingebracht hatte. »In München scheint einer der Beteiligten im Suff geschwatzt zu haben, und das ausgerechnet gegenüber einem BND-Mann.«

Brosam fummelte an seiner mustergültig sitzenden Krawatte herum. Lemmers vom Zentralkomitee schien ausschließlich darauf bedacht zu sein, keine Regung auf seinem Gesicht erkennen zu lassen. Konopka, der vielbeschäftigte, kämpfte gegen seine Schläfrigkeit, und Laqueur blieb auch noch beim Zuhören ein Gentleman, der Aufmerksamkeit zeigte, ob es ihn nun anödete oder nicht.

»Selbstverständlich haben wir die Vorkommnisse auch vom Computer analysieren lassen«, fuhr Lipsky fort. »Die elektronische Datenauswertung hat nur bestätigt, daß jeder der Fälle anders gelagert ist und als Panne für sich bewertet werden muß. Keinerlei Hinweis auf eine undichte Stelle. Nicht einmal Fahrlässigkeit konnte festgestellt werden. Und ein Vergleich aller Fakten läßt sogar den Schluß zu, daß selbst menschliches Versagen auszuschließen ist. Ihr kennt ja das Problem, Genossen: Ihr könnt mustergültige Autofahrer sein und am Steuer eines Wagens in tadellosem Zustand, ohne eigene Schuld verunglükken.«

Er sah wieder Lupus an; der General nickte ihm zu.

»Ich möchte noch sagen, daß der Genosse Lipsky einen minutiösen Bericht von fast zweihundert Seiten angefertigt hat, den ich unter Verschluß halte«, erklärte er dann. »Jeder von Ihnen kann ihn in meinem Büro jederzeit einsehen.«

»Habt ihr noch Fragen, Genossen?« übernahm Lipsky wieder seinen Part.

»Dreimal also dasselbe, und das innerhalb von vierzehn Tagen«, entgegnete Konopka, der seine Schläfrigkeit abgeschüttelt hatte. »Da ist ja wohl ziemlich häufig höhere Gewalt, oder?«

»Stimmt«, antwortete Phimoses, »aber an den Tatsachen ist nun nicht zu rütteln.«

»Lauter Zufälle«, stellte Lemmers, der Apparatschik, fest und erlaubte sich eine Art Witz: »Ich nehme an, daß wir selbst am besten wissen, wie man Zufälle herstellt.«

»Bleiben wir bei der Sache«, erwiderte Lipsky leicht ungehalten. »Ich habe von Generaloberst Lupus die Order erhalten, die Tatsachen zu untersuchen, nicht jedoch Folgerungen aus ihnen zu ziehen.« Da er saß, konnte niemand auf den roten Punkt starren, und so wirkte Phimoses sicherer als sonst. »Um solche zu erörtern, sind wir ja schließlich hier zusammengekommen.«

»Ich verstehe nicht, was dieser ganze Quatsch soll, Genossen!« polterte Gelbrich los. »Der Fall ist doch wohl klar wie eine Regenpfütze und läßt nur zwei Auslegungen zu: Entweder hat der Genosse Lipsky einen Bock geschossen – reg dich nicht auf, Ludwig, jeder von uns hier weiß doch, wie gründlich du arbeitest«, besänftigte er Phimoses, bevor der Referent hochschießen konnte. »Oder wir müssen den Mann suchen, und zwar hier im Haus, der den Zusammenhang zwischen den drei Pleiten im Westen …«

»Hier im Haus?« unterbrach ihn Brosam gereizt. »Das ist doch wohl gewaltig weit hergeholt, Gelbrich.«

»Ich geh’ sogar weiter«, stieß Gelbrich noch brutaler zu. »Jeder von uns hier im Raum könnte, zumindest theoretisch, die undichte Stelle sein.« Es sah ihm ähnlich, als einziger auszusprechen, was jeder von ihnen sich längst gedacht hatte, aber daß Gelbrich die Verdächtigung bis ins Dienstzimmer von General Lupus vortrieb und die alten Genossen und Kampfgefährten des Verrats bezichtigte, machte sie selbst gegenüber einem Berufsproleten zornig. Sogar der höfliche Laqueur schüttelte den Kopf, Konopka grinste bissig, der Blutdruck steigerte sich sichtbar in Brosams Gesicht; es sah aus, als müßte der anschwellende Kopf des Genossen Kammgarn gleich platzen. Auch der farblose Lemmers, der Gruftspion, wirkte einen Moment entsetzt, über die kommunistische Majestätsbeleidigung. Wellershoff, der Besonnene, schlug mit der Faust auf den Tisch und erhob sich: »Das geht mir nun wirklich zu weit, Genosse Gelbrich«, konterte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese ungeheure Pauschalverdächtigung uns irgendwie weiterbringen …«

»Ich bitte um Ruhe«, beendete General Lupus die ortsunübliche Turbulenz. »Ich danke Ihnen, Genosse Lipsky, für Ihre vorzügliche Arbeit. Ich sehe keinen Grund, an Ihrer peniblen Exaktheit zu zweifeln.« Er sah zu dem Mann von gestern auf dem Stuhl von heute hin, dem Scharfmacher im Haus, dem alles viel zu langsam vorankam und der die bourgeoisen Sitten haßte, die selbst hier im Ministerium bereits eingerissen waren. »Und Ihnen, Genosse Gelbrich, danke ich für Ihre sozialistische Wachsamkeit«, fuhr er ohne Spott oder Vorwurf fort. »Ich weiß zum Glück, daß Ihr Verdacht unbegründet ist; trotzdem trafen Ihre Worte ins Schwarze. Sie haben nur ausgesprochen, was unsere Gegenspieler in Pullach zur Zeit annehmen: ein Verräter in der Normannenstraße! Und wenn diese Schlafmützen aus dem Camp im Isartal schon aufgewacht sind, dann sollten wir ihre Munterkeit nutzen und ihnen mit beiden Händen servieren, was sie haben möchten.« Um seinen knappen Mund spielte ein böses, schmallippiges Lächeln und war schon weggewischt, bevor es deutlich wurde. »Was ich Ihnen jetzt sage, Genossen, ist keine Vermutung: Seit den mißlichen Ereignissen der letzten Wochen träumt man im Pullacher Camp von einer späten Rache für Guillaume. Das verräterische Phantom, das bei uns herumgeistern soll, trägt in der unmittelbaren Umgebung des BND-Präsidenten bereits den Codenamen der Sperber« Lupus griff sich eine ›Navy Cut‹; der neben ihm sitzende Konopka gab ihm Feuer. »Wenn wir konsequent und schlüssig nachstoßen, können wir diesen Sperber als unseren Jagdfalken dressieren.«

Offensichtlich begriff Laqueur, der Schnelldenker, als erster, daß der General daran dachte, aus drei Einzelpannen eine Elefantenfalle zu errichten, und er lächelte geringschätzig, weil er diese Dickhäuter auf der anderen Seite nur zu gut kannte. Da ihm aber auch die Methoden des HVA-Chefs vertraut waren, begann sich Laqueur zu fragen, ob die Schlappen von Sindelfingen, Bonn und München nicht bereits zur Inszenierung des Generals Lupus gehört und ob nicht womöglich – als Start eines bedachten, wenn auch bedenkenlosen Vabanquespiels – Verrat auf Geheiß vorlag.

»Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie also für die Gegenseite einen falschen Maulwurf in kolossaler Größe aufbauen, Genosse Lupus«, gab Konopka dem Untergrund-General ein Stichwort.

»Erraten, Konopka«, erwiderte er. »Zunächst einmal: Das Politbüro der SED ist bereits verständigt. Unsere sowjetischen Freunde in Moskau sind – wie ich bei meinem Besuch soeben feststellen konnte – mit einer solchen Operation nicht nur einverstanden, sie drängen mich geradezu, sie voranzutreiben. Außer den schon Informierten und den hier Anwesenden wird niemand von dem Plan erfahren. Ich möchte noch einmal betonen: Der Fall Sperber hat sich von selbst entwickelt. Ohne unser Zutun. Inzwischen erhielten die Amerikaner bereits Wind von der Sache, sie setzen Pullach unter Druck, um beteiligt zu werden. Wie ich die Yankees einschätze, bleibt es nicht dabei; sie werden die ganze Affäre an sich ziehen. Damit steigt der Fall Sperber aus dem nationalen Bereich zu internationaler Dimension auf. Wenn wir den richtigen Köderfisch an den Haken hängen«, konstatierte der subversive General, in seiner Freizeit auch ein leidenschaftlicher Angler, »werden sie daran ersticken – wir können Pullach und die CIA gleichzeitig in einer noch gar nicht übersehbaren Größenordnung fertigmachen. Nun möchte ich mit Ihnen im einzelnen durchsprechen, welche Szenen wir unseren Gegnern in das Drehbuch schreiben.«

Major Sobotka, der jederzeit Zutritt auch zu Geheimgesprächen hatte – als Nachahmer des Generals von den anderen mit dem Spottnamen Lupusculus bedacht –, saß im Nebenraum und stellte fest, daß die Signallampe aufleuchtete, die mit den Tonbandgeräten gleichgeschaltet war. Diese direkte Nachrichtenverbindung über eine Magnetaufzeichnung gab es nur für Informationen aus dem DDR-Raum; falls sie mitgehört würden, wäre der Adressat in der Normannenstraße zugleich Lauscher. Der Referent des Generals wartete, bis das Kontrollämpchen erloschy dann spulte er das Band zurück und tippte den Text mit zwei Fingern selbst in die Schreibmaschine: Klabautermann.

So nannte der Anrufer sein Codewort. Seine Stimme lief über Verzerrer, der jede Möglichkeit ausschloß, sie zu identifizieren. Es war nicht einmal der Rückschluß möglich, ob der Informant alt oder jung, männlich oder weiblich war; eine Kunststimme ohne Charakter.

Martin Keil hat soeben aus Bonn eine strengvertrauliche Mitteilung über den Rahmen der bevorstehenden Swing-Verhandlungen erhalten. Demnach ist die BRD-Regierung entschlossen, trotz Protestes der Opposition – selbst bei bisheriger Hohe des Pflichtumtausches bei der Einreise von BRD-Bürgern – den zinslosen Warenkredit der DDR weiterhin zu gewähren. Aus kosmetischen Gründen soll der Betrag, künftig jährlich kündbar, vorübergehend von 850 auf 600 Millionen verringert werden. Bonns Unterhändler haben Anweisung erhalten, den DDR-Behörden gegenüber äußerst unnachgiebig und energisch aufzutreten. Sollten sie dabei keinen Erfolg haben, ist mit dem Abschluß eines neuerlichen Swing-Abkommens auf der neuen Basis in etwa 14 Tagen zu rechnen.

Sabotka nahm das Blatt aus der Schreibmaschine, überlegte kurz. Die Nachricht erschien ihm wichtig genug, sie General Lupus in die Geheimbesprechung hineinzureichen, zumal Brosam und Konopka daran teilnahmen, deren Dienstbereich die Information betraf.

Er öffnete die Tür, blieb stehen. Lupus sah zu ihm hin, nickte ihm zu. »Was gibt’s?« fragte er seinen persönlichen Referenten.

Der Major reichte ihm die Meldung. Lupus las sie aufmerksam durch und beugte sich zu dem neben ihm sitzenden Konopka: »Ich brauche Sie anschließend noch.« Dann drehte er sich zu Brosam um: »Sie bitte auch.«

Er schob die Meldung in die Tasche. »Wir werden also den Sperber hier im Haus genau nach den Vorstellungen, Wünschen und Träumen unserer Gegenspieler aufbauen«, erklärte er dann. »So wie die Pullacher und Amerikaner ihn sich wünschen, sollen sie ihn auch haben, und …«

»Und wer soll das sein, Genosse Lupus?« fiel ihm Gelbrich ins Wort.

»Einer von uns«, erwiderte der General. »Ich sehe keine andere Lösung, wenn wir Nägel mit Köpfen machen wollen.«

»Einer der hier Anwesenden?« fragte der empfindliche Gelbrich betroffen.

»Warum nicht – wenn es uns weiterhilft.«

»Und an wen denken Sie dabei, Genosse Lupus?« fragte Gelbrich weiter.

»Wir haben noch Zeit, uns auf einen geeigneten Pappkameraden zu einigen«, besänftigte Lupus den Proleten vom Dienst. »Sie jedenfalls nicht, Gelbricht. Aber einer der anderen Genossen hier im Raum muß in den sauren Apfel beißen und vorübergehend diese Dreckarbeit übernehmen.« Er lächelte schief. »Es ist eine Laiendarstellung mit einer Stargage.«

»Es wird nicht so einfach sein«, erinnerte Laqueur. »Ein solcher Mann wirkt im Westen erst dann glaubhaft, wenn er einen glaubhaften Beweggrund vorzeigen kann, und wir hier sind ja wohl alle bewährte und überzeugte Genossen.«

Beweggründe, die DDR zu verlassen, gab es viele, und 3,1 Millionen Menschen hatten sie genutzt, als es noch möglich war, um in den Westen zu entschlüpfen. Aber die Vorstellung, einer der führenden Männer der Spionagefabrik, die sich seit Jahren an der Frontlinie des Untergrunds mit ihren Gegenspielern herumschlug, könnte sich an einer Volksabstimmung mit den Füßen‹ beteiligen, schien absurd und abwegig.

»Ganz recht, Genösse Laqueur«, erwiderte der General. »Wir müssen ihnen ein überzeugendes Motiv bieten, und das haben wir auch.« Einen Moment lang war sein intelligentes Gesicht in Spott getaucht. »Wir nehmen ihren Höchstwert: Geld. Geld schlechthin. Vom Geld verstehen diese Kapitalisten etwas«, sagte er mit spitzen Lippen. »Um Geld dreht sich doch alles bei ihnen, und je gieriger desto glaubhafter wird ein Judas mit dem SED-Abzeichen sein. Fangen wir an mit einer halben Million Dollar. Sicher wollen die Pullacher und Amerikaner einige Vorleistungen haben. Dafür wird der Sperber sorgen und den Preis erhöhen und erhöhen und die Übergabe immer gewichtigeren Materials in Aussicht stellen.«

»Und das nehmen die uns ohne weiteres ab?« fragte Gelbrich weiter.

»Nicht ohne weiteres, aber wenn wir die Mischung richtig dosieren, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Gewöhnliches Spielmaterial tut’s in diesem Fall natürlich nicht. Hier brauchen wir Ungewöhnliches, und das heißt, daß wir schon mal ans Eingemachte heranmüssen. Bei der Zusammenstellung bin ich auf Ihre Mithilfe angewiesen, Genossen.«

Laqueur hatte erkannt, daß der General den neuralgischen Punkt seines Plans erreicht hatte: Mit Speck fängt man Mäuse, aber die Mäuse hatten viel dazugelernt. Sie waren ziemlich resistent geworden und unterschieden längst zwischen Delikatesse und Gift. Man mußte ihnen schon eine besondere Nahrung zuführen, wenn sie sich zu Tode fressen sollten, und das hieß: mehr oder weniger eigene Leute ans Messer liefern, Agenten im Einsatz, die bisher unergiebig gewesen waren und die man deshalb abdrehen konnte. Die übliche Tour: Dem Gegner Geheimnisse enthüllen, die er bereits kannte oder ahnte, würde versagen. Hier hieß es opfern, nicht spenden.

Laqueur überlegte bereits, welche seiner Leute verzichtbar wären, und die anderen würden es wohl ebenfalls tun. Befehl ist Befehl, und der Zweck heiligt die Mittel, auch bei den kommunistischen Jesuiten. Die Hexenjagd nach der Laus im eigenen Pelz, die BND und CIA mit Sicherheit bald vorgespielt werden würde, hätte noch den Nebeneffekt, die größte Spionagefabrik Mitteleuropas, die Resultate wie vom Fließband lieferte, auf Pannenquellen und säumige Mitarbeiter abzutasten und noch sicherer zu machen, als sie es bereits war.

Sie erwärmten sich langsam, dann aber bis zum Siedepunkt. Brosam machte an seiner Zigarettenattrappe gesundheitsneutrale Lungenzüge. Der besonnene Konopka pflückte bereits Vorschußlorbeeren. Der Optimismus Laqueurs, des Herrenreiters, ritt Galopp. Gelbrich nörgelte nicht mehr herum, sondern wirkte wie der Bauer, der sein Huhn im Topf hat. Nur Phimoses, der Berichterstatter, war traurig wie der Mann, der ein letztes Mal seinen Hund spazierenführt, bevor er ihn zum Einschläfern bringen muß.

Nach einer Stunde endete die Geheimbesprechung in Sachen Sperber. Die Teilnehmer hatten sich auf den Mann geeinigt, der die Rolle des Maulwurfs übernehmen sollte. Alle waren zufrieden, und Gelbrich, der Prolet vom Dienst, klopfte den roten Gentlemen Brosam und Konopka auf die Schulter, obwohl er sonst ihre feine Art nicht ausstehen konnte. Selbst Phimoses hatte in der Aufregung vorübergehend den verräterischen Rotpunkt vergessen. Lemmers, der Gruftspion, trug schwer an seiner Wichtigkeit, er hatte es eilig.

Lupus hatte für jeden ein Lächeln und einen Händedruck. Er mußte müde sein, aber der Fall Sperber hielt ihn auf Trab.

»Sehen Sie sich das an«, sagte er zu Konopka und reichte ihm die Tonbandabschrift. »Was halten Sie davon?«

»So ähnlich habe ich es mir vorgestellt«, erwiderte der rote Gigolo. »Manchmal wundere ich mich wirklich, was unsere Gegenspieler für Einfaltspinsel sind.«

»Häufig«, schränkte der subversive Militär ein.

»Und die Nachricht ist zuverlässig, Sascha?« fragte Konopka.

»Wie immer«, bestätigte der General.

Bevaujots Günstling fragte nicht nach der Herkunft der Mitteilung. Sie war nicht die erste und würde nicht die letzte sein, die aus der gleichen Quelle stammte.

Einem Fachmann wie ihm war von vornherein klar, daß sie nur vom Bonner Außenministerium oder aus der inoffiziellen Botschaft der Bundesrepublik in Ostberlin kommen konnte.

Konopka setzte auf die Hannoversche Straße – nicht erst seit heute.

Die Nacht der Schakale

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