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ОглавлениеEin kurzes Zwischenhoch lockte sonnenhungrige Großstädter in das Naherholungsgebiet. Seit dem frühen Morgen wurde das malerische Isartal von Ausflüglern aus München überschwemmt. In Rudeln durchzogen sie die sattgrüne Landschaft, in der einst die ›alten Rittersleut‹ zu ihren Raubzügen aufgebrochen sein sollen; sie waren blicklos für das abgesperrte, streng bewachte 60000 Quadratmeter große Areal hinter einer eineinhalb Kilometer langen Mauer zehn Kilometer südlich von München. Hier, im hausintern so benannten ›Camp Nikolaus‹, hatte sich die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes eingenistet, und so blühten, mitten im Grünen, die Geheimnisse im Verborgenen.
Dem Hoheitsadler, der den Eingang bewachte, war von der ersten Nachkriegsbesatzung – amerikanischen Postzensoren – das Hakenkreuz aus den Klauen geschlagen worden, und er gemahnte so noch lange als Pleitegeier an Tatsachen, die mancher Insasse des Camps – inzwischen zum Erfüllungsgehilfen der amerikanischen Besatzungsmacht aufgerückt – nur zu gern verdrängt hätte. Daß es nicht ganz geschähe, dafür hatte zu Zeiten der Organisation Gehlen (ORG) eine Crew von etwa 50 US-Kontrolloffizieren gesorgt, die täglich ins Camp eingerückt war, um ihren umgefärbten ›Camel‹-und ›Candy‹-Spionen auf die Finger zu sehen.
Nunmehr hielten sich nur noch einige CIA-Leute in der BND-Zentrale auf, als Gäste, nicht als Fronvögte, aber nach wie vor bestand zwischen Pullach und dem Wald von Langley eine direkte Nachrichtenbrücke, die dafür sorgen sollte, daß Verbündete auch Informierte blieben, selbst wenn das Bestreben – zumindest in einem gewissen Stadium –, Geheimnisse voreinander zu bewahren, legitim und beiderseitig ist.
Ein Fallstrick, in dem sich Nachrichtendienste immer wieder verfangen. Um den Kreis der Mitwisser klein zu halten, erhält man wichtige und nötige Informationen selbst als Partner normalerweise meistens nur dann, wenn das Kind im Brunnen liegt oder wenn die Geheimaktion bereits ruchbar geworden ist.
Innerhalb des Nachrichtenkrieges stehen nicht nur Westen kontra Osten, sondern tragen die Nato-Länder gelegentlich auch unter sich einen Grabenkampf auf sozusagen nationaler Ebene aus. Aber noch nicht einmal da endet das Fiasko: Selbst im eigenen Land konkurrieren subversive Organisationen, und das heißt, daß sie oft mehr gegeneinander als miteinander arbeiten, zumal die Kompetenzen meistens nur ungenau geregelt sind. Zum Beispiel der Verfassungsschutz gegen den Bundesnachrichtendienst in Deutschland oder in den Staaten das FBI gegen die CIA, von den militärischen Abschirmdiensten, die es hüben und drüben gibt, gar nicht zu reden.
Steve E. Cassidy, eine in Pullach zunächst freundlich beargwöhnte CIA-Leihgabe für die Dauer des Falls Sperber, erwies sich sehr bald als eine mehr angenehme Überraschung. Der mittelgroße untersetzte Mann mit dem breiten Gesicht, den schütteren Haaren und der Hakennase konnte zuhören, ohne zu unterbrechen. Er äußerte keine Befehle, sondern Bitten, gab keine unerwünschten Ratschläge, stellte keine überflüssigen Fragen und bewies durch Randbemerkungen, daß er im subversiven Fach eine Koryphäe war.
Er saß bei den Besprechungen einfach mit am Tisch, in der Art eines Ehrenpräsidenten, der still und aufmerksam die Tätigkeit des amtierenden Clubvorstandes verfolgt. Der Verein war staatlich geschützt, immens groß und so kostspielig, daß die Gelder, die er fraß, im Bonner Etat nur verschleiert ausgewiesen wurden, etwa eine halbe Milliarde Mark pro Jahr, vielleicht auch noch viel mehr.
Außer dem Amerikaner, dem ständig hier stationierten CIA-Beauftragten und dem BND-Präsidenten waren nur noch drei hochrangige Experten des Hauses mit allen Einzelheiten des im großen Stil sich anbahnenden Ost-West-Duells im Untergrund vertraut: die Ressortchefs der Auswertung, der Gegenspionage und der Zentralkontrolle, der die Abriegelung nach außen und die Verschlüsselung nach innen oblag. Daneben gab es noch eine Reihe von Zulieferanten, die jedoch nur Detailkenntnisse haben konnten, selbst die auf DDR-Gebiet Operierenden.
Pullach hatte natürlich auch hinter der 134 km langen Grenzlinie zum anderen Deutschland seine Leute, als V-Männer, Tipper und Forscher, eingeteilt in Penetrierungsquellen, Überprüfungsquellen, Reisequellen und Transitquellen. Hinter diesem Untergrundvokabular verbarg sich die simple Tatsache, daß der Gegner genauso unterwandert war wie man selbst. Spionage und Gegenspionage sind eineiige Zwillinge. Selbst extreme Wachsamkeit half da wenig.
Auch der gepflegteste Rassehund wird immer wieder von Flöhen befallen.
»Sie können sich nicht vorstellen, Steve, was sich zur Zeit auf der anderen Seite abspielt«, sagte Ritter, der Chef der Auswertungsabteilung bei der zwanglosen Morgenbesprechung: »Es sieht so aus, als würden wegen Sindelfingen die Köpfe rollen. Man sprich im DDR-Staatssicherheitsministerium von Strafversetzungen, Degradierungen und Untersuchungsverfahren. General Lupus soll von seinem Minister zusammengestaucht worden sein. Selbst bewährte Spitzengenossen müssen sich demütigende Kontrollen gefallen lassen.«
Cassidy, der Dauergast, zeigte wenig Schadenfreude.
»Skeptisch, Steve?«
»Sagen wir mal mißtrauisch«, erwiderte der Amerikaner. »Die ganze Hexenjagd kann eine Theateraufführung sein, um uns an der Nase herumzuführen.«
Ritter nickte.
»Oder die hektische Verfolgung ist echt, dann könnte sie einem wirklichen Sperber an den Kragen gehen, bevor er uns noch richtig von Nutzen wäre.«
Der CIA-Spezialist lenkte das Gespräch auf das Intermezzo im Blauen Haus.
»Wir hätten natürlich ohne große Schwierigkeiten das Material an uns bringen können, das ihr vermutlich von Konopka übergeben worden ist«, sagte der Ressortchef ›Auswertung‹. Aber erstens bestand die Gefahr, daß es sich selbst zerstört, und dann erschien es uns wichtiger, nichts zu überstürzen und von nun ab Madeleine Dressler zu beobachten.«
»Die geschiedene Frau des Trasco-Chefs?«
»Ja«, erwiderte Ritter, ein Eierkopf, der auch pragmatisch handeln konnte und sich mitunter Zynismus erlaubte. »Da bestehen keine Zweifel; die Identität dieser Westschweizerin – sie stammt aus der Gegend von Lausanne – ist geklärt und bestätigt.«
»Wie sind Sie auf die muntere Dame gekommen?«
»Wir halten das Blau Haus unter Kontrolle, seitdem wir wissen, daß gelegentlich der Genosse Konopka dort auftaucht.«
»Und woher wissen Sie das, Peter?«
Ritter zögerte, so lange nur, daß es Cassidy gerade noch bemerken konnte. »Well«, entgegnete er. »Ich will Ihnen eines unserer bestgehüteten Geheimnisse anvertrauen, Steve: Wir haben für Konopka die Bürgschaft in dem feinen Etablissement gestellt. Über einen Strohmann.« Er schnurrte wie die Katze, die die Maus gefressen hat. »Haben Sie uns unterschätzt?«
»Ich möchte mal sagen: Überrascht, Peter«, versetzte der Amerikaner. »Und was halten Sie von der Trasco?«
»Manchmal ist sie nützlich, manchmal schädlich«, erwiderte der Ressortleiter. »Es gibt da einige Leute, die ich ganz gern bei uns sähe.«
»Aber der eine oder andere arbeitet doch ohnedies für Sie, oder?«
Ritter betrachtete seinen Dauergast nachdenklich. »Diesmal haben Sie mich überrascht«, antwortete er. »Sie meinen diesen Forbach?«
»Erraten, Peter.«
»Ein verwegener Bursche, so eine Art Landsknechttyp, als verläßlich eingestuft. Sein Bruder wurde bei einem Versuch, über die Mauer zu entkommen, erschossen. Seitdem haßt er die Vopos und die DDR.«
»Und der Bruder?«
»Ist echt«, entgegnete Ritter. »Keine Frage, glasklares Motiv.«
»Aber Forbach nimmt auch Geld.«
»Und nicht zu wenig«, bestätigte Ritter. »Der Trasco-Chef spart weder beim Einnehmen noch beim Ausgeben; er verdient Geld wie Heu – vielleicht arbeiten deswegen einige recht brauchbare Leute auf den Transitwegen für Dressler statt für uns.«
»So minderbemittelt?« spöttelte Cassidy.
»Wir sind keine Verschwender«, entgegnete Ritter. »Und auch keine Hasardeure. Und wir möchten auch älter werden, als es dieser Mauro Dressler vermutlich werden wird.«
»Und was hat seine Frau mit Konopka zu tun?«
»Zunächst einmal«, erwidert Ritter, »ist es nur eine Vermutung. Es läßt sich nicht mit Sicherheit ausschließen, daß eine Liebesattacke des volkseigenen Casanovas einen unerwarteten Verlauf genommen hat. In diesem Haus ist diesbezüglich alles möglich.«
»Und wie ist Madeleine Dressler überhaupt in das reizvolle Etablissement gekommen?«
»Als frühere Ehefrau von Mauro Dressler.«
»Er ist also auch Mitglied?«
»Und ein sehr rühriges«, entgegnet der BND-Ressortchef anzüglich. »Allerdings mehr als Voyeur denn Akteur.«
»Wir gehen also von einer unbewiesenen Voraussetzung aus«, sagt der Amerikaner.
»Von einer unbewiesenen, aber wahrscheinlichen«, versetzte der Pullacher Spitzenmann. »Allein die Tatsache, daß Konopka und Dressler, zwei Männer in völlig konträren Positionen, im gleichen Privatclub verkehren, ist schon höchst ungewöhnlich. Und das Ungewöhnliche reizt, selbst wenn wir es durch unsere Bürgschaft für Konopka eigentlich erst ermöglicht haben.«
»Und wie kommt Madeleine Dressler ins Spiel?« fragte Cassidy interessiert.
»Jedenfalls ziemlich plötzlich«, antwortet Ritter. »Wenn ihr Konopka tatsächlich Material übergeben hat, dann war dieser Transfer jedenfalls fachmännischer und raffinierter als die Weiterreichung der Sperber-Kasette. Es sieht übrigens so aus, als hätten wir ihre Herkunft inzwischen einigermaßen geklärt«, stellte der Ressortchef Ritter fest. »Sie wurde vorgestern morgen auf dem Postamt in Berlin-Charlottenburg aufgegeben. Keine Fingerabdrücke. Das Fabrikat läßt auch keinerlei Rückschlüsse auf die Kaufquelle zu, es ist handelsüblich, in jedem Laden zu haben. Aber ein Schalterbeamter glaubt sich zu erinnern, daß die Sendung von einer eleganten Dreißigerin abgegeben wurde, die Berliner Dialekt sprach. Der Mann kann sich irren oder ein Wichtigtuer sein. Im übrigen ist er nicht in der Lage, die Absenderin näher zu beschreiben. Elegant ist ja auch so ein Begriff, und mit dem Alter irrt man sich bei Damen bekanntlich immer wieder.«
»Trotzdem ist diese Versandart ziemlich ungewöhnlich«, erwidert Cassidy, der beinahe aktzentfrei deutsch sprach, sowie auch seine Pullacher Gesprächspartner Englisch weitgehend beherrschten.
»Vielleicht ist es ein Trick, daß es so laienhaft aussieht«, versetzte der Chef der Auswertung.
»Könnte ich das Band noch einmal abhören?« fragte der Amerikaner.
»Natürlich«, entgegnete Ritter. »Wir wollen ohnedies in den Vorführraum.«
Er lag gleich nebenan, war schalldicht, hatte keine Fenster. Die Geisterstimme dröhnte aus vielen Lautsprechern, unwirklich und doch real, blechern, eine Stimme ohne Herkunft und Charakter:
»Hier meldet sich der Sperber«, spulte die explosive Nachricht vom Band.
Ich habe Ihnen Sindelfingen und Bonn als Antrittsgeschenke überbracht als Beweis, von welchem Wert ich für Pullach und Langley sein kann, falls wir miteinander ins Geschäft kommen. Ich stehe in einer Position, die mir Einblick in viele DDR- und SU-Vorgänge ermöglicht, die unter Geheimverschluß stehen. Ich bin über die Tätigkeit von DDR-Agenten in der Bundesrepublik informiert und in der Lage, ihre Namen aufzudecken, ihre Identität zu enthüllen und zu beweisen, in welche Spitzenstellungen in der Politik, der Wirtschaft, beim Verfassungsschutz, beim Bundesnachrichtendienst und in der Bundewehr sie gelangt sind.
Ich kann Ihnen auch mitteilen, welcher Abteilungsleiter bei der BRD-Vertretung in Ostberlin, Hannoversche Straße, direkt mit der Stasi-Zentrale zusammenarbeitet.
Ich bin dazu bereit, weil ich mit dem SED-Staat brechen will.
Ich kann es aber nur wagen, wenn meine Zukunft gesichert wird. Ich benötige einen anderen Namen, eine neue Identität und ein Asyl, am besten in den USA. Zur Abschirmung gegenüber meinen Verfolgern gehört auch meine finanzielle Sicherstellung. Dafür erhalte ich einen Barbetrag von fünfhunderttausend Dollar für notwendig.
Als Stasi-Fachmann weiß ich, daß meine Informationen eigentlich unbezahlbar sind.
Demnächst melde ich mich wieder in einer mir geeignet erscheinenden Form, um zu erfahren, ob Sie grundsätzlich mit einer solchen Vereinbarung einverstanden sind, und auch um zu erfahren, wodurch und inwieweit die absolute Geheimhaltung meines Vorhabens garantiert werden kann.
Sofern Sie diese Voraussetzungen erfüllen, bin ich bereit, mit einem beauftragten Bevollmächtigen an jedem Ort außerhalb des Staatsgebietes der DDR zusammenzukommen, um die Vereinbarungen zu treffen und zu realisieren. Ende.
»Der Sperber«, las Ritter zwischen Ernst und Belustigung aus einem Konversationslexikon vor, das er sich gegriffen hatte, »schießt mit ungewöhnlich raschen kräftigen und sehr flachen Flügelschlägen dahin, erreicht erstaunliche Fluggeschwindigkeiten und stürzt sich in rasender Fahrt auf sein Opfer.«
Cassidy ließ sich das Band noch einmal vorspielen, aber es brachte in so wenig weiter wie die zoologische Würdigung des Raubvogels. Die Nachricht war interessant und lächerlich, eine seltsame Mischung, halb Karl May, halb James Bond, reichlich abenteuerlich und völlig undurchsichtig.
»Lassen wir einmal offen, ob der Mann ein trojanisches Pferd ist, oder wirklich mit uns ein Geschäft machen will«, sagte der CIA-Experte. »In beiden Fällen steht fest, daß der große Unbekannte die Möglichkeit hat, aus der DDR auszureisen, nicht nur ins neutrale Ausland, sondern sogar in die Bundesrepublik. Das wiederum läßt den Rückschluß zu, daß er bei uns nicht als Agent geführt wird und das Vertrauen von General Lupus in besonderem Maße genießt. Wie wir wissen, tut es im Osten Vertrauen allein nicht«, fuhr Cassidy mit einem anzüglichen Lächeln fort. »Der Bursche müßte den Stasi-Leuten auch noch andere Sicherheiten zu bieten haben.«
»Sie sehen das richtig, Mr. Cassidy«, entgegnete Ritter, der in Pullach genauso als exzellenter Fachmann bekannt war wie auf der anderen Seite der sächselnde Lipsky mit dem roten Punkt an der pikanten Stelle. »Bei Funktionären mit Diplomatenpaß nehmen wir immer an, daß sie nicht nur wegen eines Sektfrühstücks in den Westen reisen, können ihnen aber das Gegenteil meistens nicht beweisen. Damit kommen prima vista als Sperber – ich spreche jetzt rein theoretisch – General Lupus selbst, Konopka und Brosam in Frage. Diese drei können jederzeit die zugemauerte Grenze passieren«, stellte der Auswertungsspezialist fest. »Selbstverständlich kann sich auch ein anderer Spitzenmann eine Ausreisegenehmigung besorgen.«
»Die Frage ist nur, ob er in den Osten zurückkehren oder im Westen bleiben will«, erwidert Cassidy mit einem süffisanten Lächeln. »Und was soll der Hinweis auf die BRD-Mission in Berlin bedeuten?«
»Sieht nach einer dritten Morgengabe des Sperbers aus. Wir haben seit langem den Verdacht, daß irgendwie aus dem Auswärtigen Amt Geheiminformationen hinausgetragen werden. Wir haben Nachforschungen angestellt und auf die Botschaften im Ausland ausgedehnt, selbstverständlich auch auf unsere Vertretung in Ostberlin. In keinem Fall hat sich auch nur die Andeutung eines Verdachts ergeben.«
Cassidy war zu höflich, um festzustellen, daß sich ein Verrat auf höchster Ebene zehn Jahre lang im Pullacher Camp hingezogen hatte und daß der schließlich entlarvte Mann von der Gegenspionage, ein Günstling des alternden Generals, trotz seiner DDR-Geburtsstadt durch alle Sicherheitsprüfungen mit Bravour hindurchgekommen war. Felfe, so hieß der Maulwurf, einer der Ehemaligen aus dem Reichssicherheitshauptamt, der kaum weniger schädlich gewesen war als Guillaume, hatte bis dahin Pullachs Führungssrolle in der Ost-Spionage mit einem Schlag zerstört – die CIA war seinerzeit zu der Rechnung gekommen, daß fast drei Viertel alles ihr vorliegenden Wissens um den östlichen Gegner aus BND-Quelle stammte.
Was seinen guten Ruf betrifft, bleibt freilich kein Geheimdienst der Welt lange Jungfrau.
Auch jetzt, an einem Schönwettertag wie aus dem Bilderbuch, hingen wieder Wolken über dem Camp Nikolaus: Ein ehemaliger Topmann, der nach seinem Ausscheiden mit Hilfe bajuwarischer Vetternwirtschaft zum obersten Verfassungshüter im weiß-blauen Land aufgerückt war, hatte nach seinem Abschied vom Camp BND-Geheimakten (teils peinlichen Inhalts) hinter seinem Kamin versteckt und diversen Zeitungen als ›Spionage-Roman‹ angeboten. Die Sache war geplatzt und führte zum Unangenehmsten, was einem geheimen Nachrichtendienst drohen kann: Schlagzeilen in der Presse, Untersuchungsausschuß, Einleitung eines Strafverfahrens. Bevor der Fall ganz überschaubar war – vermutlich würde er es nie werden –, fragt sich der Mann auf der Straße bereits, welche berufliche, moralische und geistige Qualität ein hochdotierter Spitzenbeamter des Untergrunds eigentlich haben mußte.
Was erst jetzt bekannt wurde, hatte sich schon lange vorher ereignet, stammte noch aus der Zeit, da General Gehlen, für den der Zweite Weltkrieg nie zu Ende gegangen war, von der Elendsalm heruntergestiegen und mit 50 Stahlkoffern seines für Hitler gehorteten Materials übergangslos in die Dienste der Besatzungsmacht getreten war. Sein Opportunismus war der Nationalsozialismus; später mußten viele dem Mann recht geben, er, zu seinen Lebzeiten überschätzt und unterschätzt, glorifiziert und geschmäht, sich als Galionsfigur auf das selbst errichtete Denkmal gestellt hatte und aus dem Grab heraus mit einer nachgelassenen ›Verschlußsache‹ noch auf seine innenpolitischen Gegner schoß.
Papas Spion war tot; seine Nachfolger waren moderner, kühler, abwägender und in jedem Fall zurückhaltender, auch wenn sie bei ihren Bonn-Besuchen ihren Kontrolleuren nicht mit tarnendem Mummenschanz wie Schlapphut, Sonnenbrille und falschem Namen imponieren wollten. »Wir füttern zur Zeit dem Computer mit allen uns bekannten Tatsachen über die Stasi-Spitze«, sagte Ritter. »Die elektronische Datenverarbeitung läuft heiß. Ich warte noch ein, zwei Tage, aber dann kann ich Ihnen eine ziemliche verbindliche Sperber-Auswahl vorlegen, Steve.« Er lachte trocken. »Ich sehe keine besondere Gefahr, solange wir den Fall cool abwickeln. Manchmal fürchte ich zwar, auf einem Schleudersitz zu hocken, aber in der Haut unserer Gegner möchte ich noch weniger stecken.«
»Sie sind in Zugzwang«, erwiderte Cassidy.
»Und jeder Zug, den die andere Seite macht, muß eigentlich falsch sein. Sowie der Sperber aus der Deckung tritt, gibt er sich zu erkennen. Bevor er das Geld kassiert, muß er aus der Kulisse auftauchen.«
»Richtig, Peter …«
»Wir haben schon einige Vorleistungen, und wir werden dafür sorgen, daß sie sich vermehren, bevor wir einen Cent investieren. Mich macht nur nervös, daß für General Lupus der Faktor Zeit keine große Rolle spielt; er scheint seinen sowjetischen Lehrmeistern die Geduld zur Langzeitpolitik abgesehen zu haben.«
»Wir könnten die Affäre ohne großes Risiko vorantreiben, wenn wir uns zu einer ungewöhnlichen Maßnahme entschlössen«, stellt der CIA-Spezialist fest. »Da müßte allerdings Bonn mitspielen.«
»Was meinen Steve?«, fragt der Chef-Auswerter.
Cassidy entwickelte seinen Plan und sah, daß der Mann, er ihm zuhörte, ebenso fasziniert wie erschrocken war.
»Ihre Idee ist blendend«, sagte Ritter, »und siedend heiß. Ich werde sie unverzüglich unserem Präsidenten vortragen«, versprach er.
Es hieß im Klartext, daß nur eine Chance bestand, Bonns Zustimmung zu einer höchst ungewöhnlichen Manipulation zu erhalten: wenn sich Pullachs Hausherr voll hinter den Vorschlag stellte.