Читать книгу Die Essenz der Landschaftsfotografie - William Neill - Страница 22
NATURDETAIL UND LANDSCHAFTSPORTRÄT
ОглавлениеWIE ICH MEINEN PERSÖNLICHEN BLICKWINKEL FINDE
Seit ich Fotograf bin, habe ich eine Vorliebe für Detailaufnahmen. Begonnen habe ich mit Techniken aus der Makrofotografie, um kleine Sujets wie Tautropfen oder Blütenblätter zu isolieren. Diese Art von Nahaufnahme beschrieb zwar nicht die gesamte Szene, schien aber am ehesten das zu vermitteln, was ich empfand und erlebte. Diese schwer fassbare »Essenz« war von stärkerer Wirkung in einer Bildgestaltung, die nur einen Teil des Motivs umfasste, als in einer schlicht beschreibenden Aufnahme des Sujets in seiner Gesamtheit.
Als ich 1982 begann, eine 4 × 5-Großformatkamera zu benutzen, fuhr ich fort, Naturdetails zu fotografieren, konzentrierte mich aber meist auf Landschaft in einer mittleren Entfernung, die für gewöhnlich keinen Himmel enthielt und oft auch kaum eine Andeutung des Vordergrundes. Diese Stilart nenne ich »the intimate landscape« (sinngemäß etwa »Landschaftsporträt«, Anm. d. Ü.). Dieser Begriff ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seit ich zum ersten Mal Eliot Porters Buchklassiker Intimate Landscapes in der Hand hatte. Es ist ein Meisterwerk der Landschaftsfotografie. Sowohl die Bilder als auch das Genre, definiert durch den Titel, regten mich dazu an, dieses Gebiet, auf dem Porter Pionierarbeit geleistet hatte, weiter zu erkunden und die von ihm begründete Tradition der Landschaftsfotografie in Farbe zu erweitern.
Das Foto Crab Apple Blossoms Along the Oconaluftee habe ich 1992 im Great Smoky Mountains National Park gemacht. Ich hatte eigentlich gehofft, dass mein Besuch mit der Blütezeit von Judasbaum und Hartriegel zusammenfallen würde, aber wie sich herausstellte, hatte der Frühling Verspätung (oder ich war zu früh dran). Nachdem ich durch den Park gefahren war und verschiedene Höhenlagen erkundet hatte, war ich überzeugt davon, dass noch nichts blühte – bis ich diesen Baum sah. Der Solitär stand am Flussufer, umgeben von kahlen Gehölzen. Bis dahin war es ein dunkler, trüber Tag gewesen, aber jetzt hatte ich plötzlich das Gefühl, dass nach einem langen, harten Winter der Frühling Einzug hält. Nun musste ich nur noch ein Bild machen, das genau diese Stimmung transportierte.
Das Licht war perfekt – weich ohne störende Schatten oder Glanzlichter. Dies ist meine bevorzugte Lichtstimmung für Landschaftsporträts, weshalb ich diese oft an bewölkten Tagen fotografiere, im Nebel, in der Dämmerung, im Zwielicht oder aber im Schatten eines Canyons oder Gipfels. Diafilm, den ich auch für diese Aufnahme verwendete, hat einen begrenzten Kontrastumfang. Gleichmäßig ausgeleuchtete Motive lassen sich deshalb bei kontrastärmerem Licht mit einer größeren Farbvielfalt und Detailfülle aufnehmen. Mit direktem Sonnenlicht in der Szene hätten die Glanzlichter auf dem Wasser die Blüten optisch erdrückt. Mit einer Digitalkamera wäre die Aufnahme in diesem weichen Licht ein Leichtes gewesen; der Kontrastumfang der Sensoren übersteigt den von Film bei Weitem. Zusätzlich hätte ich den Vorteil gehabt, in der Vorschau sehen zu können, ob die Blüten scharf abgebildet waren; ich hätte verschiedene Verschlusszeiten ausprobieren können, um das Wasser zu verwischen, und ich hätte obendrein noch die ISO-Empfindlichkeit verändern können, was sich auf die Schärfe der Blüten und das verschwommene Wasser ausgewirkt hätte.
Es war Glück, dass der eleganteste Ast über den Fluss ragte und sich so vom Rest des Baumes abhob. Die nächste Herausforderung bestand darin, eine Kameraposition zu finden, bei der sich der Hintergrund nicht störend auswirkte. Ich erinnere mich daran, dass ich meine liebe Mühe hatte, den elegant gebogenen Ast von der ihn umgebenden Unordnung zu isolieren, auch noch mit der längsten Brennweite, die ich für meine 4 × 5-Kamera hatte: 360 mm, was 105 mm beim Kleinbild entspricht. Dann fiel mir mein 6 × 7-Rollfilm-Rückteil ein, das sich in das Großformat-Kamerarückteil einschieben lässt. Damit verdoppelte sich meine effektive Brennweite, und ich war endlich in der Lage, den Ast nah genug heranzuholen und das unerwünschte Durcheinander loszuwerden.
Der Einsatz einer Fachkamera erwies sich auch bei dieser Aufnahme als Vorteil, weil ich die Verschwenkung und die Neigung anpassen konnte. Als ich endlich im richtigen Winkel einen Standort fürs Stativ gefunden hatte, verlief der Ast sehr schräg zur Kamera. Die Fachkamera machte es mir möglich, die Filmebene so zu verändern, dass der Ast scharf abgebildet war, ohne die optimale Kameraposition aufgeben zu müssen. Für eine schlichte, wirkungsvolle Bildgestaltung brauchte ich den Fluss im Hintergrund, aber ohne die beiden Uferstreifen. Die zwei Felsen, die hinter dem Ast klein zu sehen sind, liefern genug Kontext, ohne abzulenken. Die Belichtungszeit lag irgendwo zwischen 15 und 30 Sekunden. Ich musste immer noch ziemlich stark abblenden, um den gesamten Ast scharf zu bekommen, und hatte Glück, dass wirklich kein Lüftchen ging. Die Unschärfe des Flusses unterstreicht die Stimmung und erleichtert die Freistellung des Astes vor dem Wasser. Die Stromschnellen spiegeln in ihrer monochromen Anmutung die dunklen Wolken über der Szene wider, was dazu führt, dass die grünen Blätter und die rosafarbenen Blüten aus den winterlichen Farbtönen des Flusses regelrecht herausleuchten.
Es gibt noch eine andere Kameraoption, mit der dieses Bild möglich gewesen wäre. Mit Tilt-Shift-Objektiven hat der Landschaftsfotograf ähnliche Möglichkeiten zum Verschieben und Verschwenken wie mit Fachkameras. Hätte ich diese Aufnahme im Kleinbildformat machen wollen, wäre mein 90-mm-Tilt-Shift-Objektiv von Canon in Verbindung mit einem Zweifach-Telekonverter zum Einsatz gekommen. Die Neigung, die man normalerweise nutzt, um den Bereich der Schärfentiefe zu vergrößern, hätte man in diesem Fall seitlich eingesetzt, um die Schärfentiefe auf der linken und der rechten Seite des Bildes zu kontrollieren. Bei 180 mm Brennweite wäre ein normales Objektiv nicht in der Lage, die Schärfentiefe des gesamten Astes abzudecken, auch nicht bei der kleinstmöglichen Blende.
Mit der Isolation von Bildbestandteilen – ob nun durch den Einsatz von Brennweite, Kamerawinkel oder durch andere Mittel der Bildgestaltung – lässt sich eine willkommene Vereinfachung der Bilder erreichen, und Ihre Landschaftsaufnahmen gewinnen dadurch an Vertrautheit. Dem Betrachter wird klar, dass Sie gezielt nach etwas ganz Besonderem gesucht haben, das vielleicht nur Sie allein wahrgenommen haben. Schließlich geht es in der Fotografie ja darum, dass andere die Welt mit Ihren Augen sehen können.