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VERSCHIEBEN SIE DIE GRENZEN
ОглавлениеHIGH-KEY-EXPERIMENTE
In der kreativen Fotografie ist es nötig, Grenzen zu verschieben – über Normen und tagesaktuelle Trends hinaus. Über all die Jahrzehnte hinweg, in denen ich Landschaftsaufnahmen gemacht habe, hat es meine Kreativität belebt und mich künstlerisch weitergebracht, wenn ich in Sachen Motiv eine neue Richtung eingeschlagen oder eine neue Methode ausprobiert habe. Neuerdings experimentiere ich voller Begeisterung mit High-Key-Aufnahmen und versuche mich an dieser alternativen Bildbearbeitungsvariante.
Die meisten von uns entwickeln ihre Bilder typischerweise so, dass sie einen möglichst vollständigen Tonwertumfang aufweisen – von tiefen Schatten, die trotzdem noch Zeichnung enthalten, bis zu den hellsten Tönen. High-Key-Aufnahmen hingegen zeigen nur Tonwerte am rechten Rand des Histogramms, wobei sich die dunkelsten Werte um Mittelgrau bewegen und die helleren Töne von Hellgrau bis fast Weiß reichen.
Inspiriert haben mich die High-Key-Aufnahmen von Don Worth, einem von Ansel Adams’ ersten Assistenten. Seine Aufnahme einer Sukkulente in unzähligen feinsten Hellgrautönen hat eine mystische Anmutung und gehört zu meinen absoluten Lieblingsbildern. Mit der gleichen High-Key-Behandlung hat Don Worth auch Baumstämme im Wald bei Nebel fotografiert. Huntington Witherill hat mich mit seinen High-Key-Aufnahmen von Dünen inspiriert. Je mehr Sie sich mit den Arbeiten anderer Fotografen beschäftigen, umso größer wird Ihre Ideensammlung, mit deren Hilfe Sie darangehen können, mit Ihren eigenen Bildern »Grenzen zu verschieben«.
Meine ersten eigenen Experimente mit dieser Vorgehensweise begannen vor einer ganzen Reihe von Jahren, als ich Aufnahmen von einem sehr nebligen Kiefernwald machte. In der digitalen Bildbearbeitung folgte ich meinem Standardablauf: Kontrast, Tiefen und Lichter anpassen. Die Ergebnisse sahen auf eine traditionelle, den Tonwertumfang komplett ausschöpfende Weise gut aus, aber das Bild gab nicht ansatzweise wieder, wie die Szene in jener nebligen Dämmerung auf mich gewirkt hatte.
Meine normalen Abläufe bei der Bildentwicklung basieren auf dem, was ich von Ansel Adams gelernt habe, der in seinen Workshops im Yosemite sein Zonensystem für die Entwicklung von fotografischem Film und für die Ausarbeitung von Abzügen erläutert hat. Sein grundlegender Ansatz war, den vollen Tonwertumfang abbilden zu können.
Allerdings hat Ansel seine Schüler immer wieder daran erinnert, dass das Zonensystem als ein flexibles Werkzeug gedacht war, um Kreativität auszudrücken, nicht als Gebot, um einen einzigen Weg der Bildentwicklung zu erzwingen. Wenn Sie spüren, dass eine Szene auf Sie bedrohlich wirkt, oder wenn Sie sich von leuchtenden Farben oder dramatischen Kontrasten in einer anderen Szene inspiriert fühlen, dann sollten Sie Ihr Bild entsprechend entwickeln. Die Idee hinter dem Zonensystem war, eine flexible Palette an Kontrollmöglichkeiten für die Tonwerte zur Verfügung zu stellen. Damit konnte der Fotograf die Tonwerte einer Szene spreizen oder verengen, je nachdem, welche Umsetzung er im Sinn hatte. In der digitalen Bildentwicklung lassen sich ähnliche Resultate erzielen. So wie einst mit dem Zonensystem für Film, so lassen sich heute mit Bildbearbeitungswerkzeugen wie Lightroom oder Photoshop Bilddaten interpretieren. Beide Programme bieten eine exzellente Kontrolle über den Kontrastumfang.
Inspiriert von Worth und Witherill habe ich über die Jahre eigene Erfahrungen mit High-Key-Bearbeitungen gemacht. Meine Bildbearbeitung beginnt in Lightroom; dort nutze ich die Regler im Entwickeln-Modul. Ich schiebe den Tiefen-Regler weit nach rechts, um die dunklen Bildteile aufzuhellen und zu sehen, was dort an Details vorhanden ist. Dann verschiebe ich versuchsweise den Weißpunkt nach rechts und den Schwarzpunkt nach links. Oft lande ich mit dem Lichter-Regler sehr weit links, um einen Beschnitt in den hellsten Bildbereichen zu vermeiden und die Differenzierung in sehr hellen Tönen kontrollieren zu können. Wenn ich spüre, dass die Balance in Sachen Kontrast passt, erhöhe ich oft den Wert für die Belichtung, um das gesamte Bild aufzuhellen.
Die klassische Bearbeitung dieses Zypressenbildes gab nicht wieder, was ich vor Ort gesehen und gespürt hatte: Die Stimmung dort hatte ich als märchenhaft und viel lichter empfunden als das, was ich auf meinem Monitor sah. Ich entschied mich, eine High-Key-Variante auszuprobieren, was bedeutete, dass alle Tonwerte der Datei im oberen Bereich des Tonwertumfangs liegen würden. Der dunkelste Ton wäre ein mittleres Grau, während sich die Mehrzahl der Tonwerte im hellgrauen und hellsten Bereich wiederfinden würde.
Als ich die entsprechenden Anpassungen vornahm, erwachte das Bild zum Leben. Der Nebel leuchtete, und die Bäume zogen sich in helles Weiß zurück. Die Aufnahme geriet impressionistisch, ätherisch, und entsprach damit eher meiner emotionalen Reaktion auf die Szene. Wenn Sie Ihre Bilder beurteilen, sollten Sie sich an die Frage erinnern: Stellt diese Aufnahme das emotionale Äquivalent dessen dar, was ich gesehen und empfunden habe? Es war diese Frage, die mir half, die auf Seite 34 gezeigte High-Key-Variante zu entdecken.
In meiner kürzlich in Buchform veröffentlichten Retrospektive hatte ich das Vergnügen, jene Portfolio-Themen zu präsentieren, an denen ich in vier Jahrzehnten hauptsächlich gearbeitet habe. Nun stellt sich für mich die Herausforderung: Was jetzt? Ich bin gespannt und voller Vorfreude auf eine neue Richtung, ganz egal, wohin diese führen mag. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!