Читать книгу Shakespeare oder Willy, das ist hier 1 Frage - Willy Nachdenklich - Страница 5
Ein Schrei in der Dunkelheit
ОглавлениеPunkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht. Mit zwei großen Ohren – ist der Max geboren. Ritze Ratze, Zicke Zacke, fertig ist die Hühnerkacke. Eine echte Geburt jedoch ist viel komplexer als so ein herkömmliches Mondgesicht. Da hat sich der liebe Gott schon so seine Gedanken gemacht. Sonst könnte ja jeder Hansdampf sich einen Nachfahren mit ein paar Bleistiftstrichen malen. Aber allein der Anatomie wegen könnte so ein Strichmännchen ja überhaupt nicht existieren, da diesem die lebenswichtigen Organe fehlen. Deshalb zeugen die meisten Leute doch auf dem handelsüblichen Weg einen Erben. Teilweise schon in einem verdammt jungen Alter. So ähnlich wie Kerstin. Die ist erst sechzehn Jahre alt, hat bereits ein Kind, das sechs Monate alt ist, und kommt überhaupt nicht klar, da der fünfzehnjährige Kindsvater in einem Methadonprogramm und ihre achtundzwangzigjährige Mutter, die kürzlich Oma wurde, selbst schwanger ist von dem vierunddreißigjährigen Ex-Freund ihrer Tochter. Ganz schön verzwickte Geschichte. Deswegen hatten die beiden nun die Idee, sich bei der RTL-2-Sendung Teenie-Mütter außer Kontrolle im Messi-Chaos zu bewerben. Eigentlich hilft einem bei der Sendung niemand. Die filmen lediglich die überforderte Teenie-Mutter beim Abkacken und hoffen, dass diese ihr Baby oder ihre rauchende Mutter anschreit. Und so kommt es dann auch: Das Kamerateam von RTL 2 positioniert sich in einer Ecke des Wohnzimmers, und Kerstin schreit prompt ihr Baby an, weil es keine Ruhe gibt, ehe sie von ihrer rauchenden Mutter angeschrien wird, dass sie ihr Baby nicht so anschreien soll, da Babys nun mal schreien. Inzwischen schreien alle drei gleichzeitig, und man versteht kein einziges Wort mehr. Der Streit schaukelt sich immer weiter hoch, sodass keiner der Beteiligten merkt, dass gerade ein Dingo das Baby verschleppt. Erst als sich die Situation beruhigt hat, fällt Kerstin auf, dass ihr Sprössling nicht mehr in seiner Wiege liegt.
Das Team von RTL 2 hat alles auf Kamera: wie sich der Dingo anschleicht, das Baby an seinem Strampelanzug hochhebt und durch die Haustüre abhaut. Jetzt kann Kerstin beweisen, dass sie eine gute Mutter ist, und ihr Baby aus den Fängen des Dingos retten. Umgehend fliegen Kerstin, ihre Mutter und das Kamerateam in die Heimat der Dingos nach Australien. Nach zwanzig Stunden Flug und mit einem ordentlichen Jetlag kommen sie schließlich in Sydney an. Das Opernhaus ist schon ziemlich beeindruckend, und so nutzen sie die Gelegenheit, sich dort eine Vorstellung anzusehen. Kurzerhand kaufen sich Kerstin, ihre Mutter und das RTL-2-Kamerateam Karten für die Vorstellung André Rieu spielt Dimitrij Schostakowitsch. »Ob der Gigant aus Sankt Petersburg nicht eine Nummer zu groß für den schnöden André Rieu ist?«, fragen sie sich beim Betreten des Opernhauses. Alle sind schon sehr gespannt. Als André Rieu unter tosendem Applaus die Bühne betritt und auf seiner Geige mit der Leningrad-Symphonie loslegt, macht sich umgehend Gänsehaut auf den Körpern der Babyrettungscrew breit. André Rieu spielt hingebungsvoll ein Schostakowitsch-Stück nach dem anderen, bis er sich mit dem Geigenbogen aus Versehen voll ins Auge fiedelt und unter Schmerzen auf der großen Bühne des Opernhauses zusammenbricht. Die Zuschauer sind außer sich vor Enttäuschung, dass die Operette so ein jähes Ende genommen hat. Sie buhen und reißen teilweise die Stühle aus ihren Halterungen, um sie auf die Bühne zu schleudern. Auch Kerstin samt Entourage verlässt erbost das Opernhaus und macht sich endlich auf, ihr Baby zu retten.
Sie mieten sich von Europcar einen Safari-Jeep und düsen Vollgas Richtung australischer Steppe. Nachdem sie bereits einige Kilometer zurückgelegt haben, macht sich langsam Hunger bei dem Safariteam bemerkbar, und sie machen Rast an einem schattigen Plätzchen. Kerstins Mutter, die Proviantmeisterin der Crew, packt eine Tupperdose mit lecker selbst geschmierten Salamibroten aus und verteilt diese. Die Brotzeitdose ist aber gar keine originale Tupperdose, sondern ein Plagiat, das es mal im Angebot bei Norma gab. So ein zwanzigteiliges Set in dezentem Neongrün für nur 19,99 Euro. Für diesen Preis bekommt man von Tupper gerade mal die Bananendose, die nüchtern betrachtet sowieso der größte Schwachsinn ist. Das ist eine bananenförmige Dose, in die genau eine Banane reinpasst. Welcher Schwachkopf aus dem Produktmanagement von Tupper hat sich diese Scheiße bitte ausgedacht? Und was für noch größere Schwachköpfe geben dafür dann bitte zwanzig Euro aus? An Dingen wie diesen sieht man, dass unsere Welt langsam, aber sicher zugrunde geht.
Der Kameramann beißt gerade genussvoll in eines der unter Rumschreien geschmierten Brote, als sich vor ihm eine riesige Schlange aufbäumt, die auch ziemlichen Appetit auf das leckere Salamisandwich hat. Die Schlange versucht, den Kameramann mit ihrem rasselnden Schwanzende abzulenken, und beißt dann in einem Moment der Unachtsamkeit in sein Brot. Der Kameramann denkt aber gar nicht daran, das Salamibrot der Schlange zu überlassen. Es entsteht eine Art Tauziehen um das schmackhafte Pausenbrot. Keiner will loslassen, bis am Schluss dann doch der Kameramann die Oberhand behält und der Schlange das Brot entreißen kann. »Hau ab, du Schwein!«, schreit er die Schlange nach der Brotrettung an. Das lässt sich die Schlange aber nicht gefallen und erwürgt kurzerhand den Kameramann und isst ihn samt seinem Salamibrot mit Haut und Haaren auf. Kann schon mal passieren. Keiner hat gesagt, dass die Reise ein Zuckerschlecken werden würde. So müssen sie ihre Expedition mit einem Mann weniger fortsetzen. Nur noch der Tonmann von dem RTL-2-Team ist übrig, der jetzt gleichzeitig filmen und das Mikrofon halten muss. So setzen sie ihre Fahrt durch die Steppe fort, bis sie schließlich zu Australiens gigantischem Sandsteinmonolithen, dem Ayers Rock, gelangen. Denn genau dort ist auch die Dingo-Population Australiens am allerhöchsten. Kerstin, ihre Mutter und der verbliebene RTL-2-Mann schleichen um den Ayers Rock, bis sie letztendlich auf eine ganze Horde Dingos stoßen, von denen jeder ein Baby im Maul hat. Aber welches der Babys ist nun das Baby von Kerstin? Die Babys sehen auf den ersten Blick alle gleich aus. Doch mitten im Rudel fällt ihnen ein Baby auf, das einen Strampelanzug trägt, auf dem ein Bild von der allseits beliebten Boyband US5 abgebildet ist. Kerstin kommt der Strampler ziemlich bekannt vor. Sie reibt sich mit den Fingern beider Hände die Schläfen und versucht, die Situation vor ihrem inneren Auge zu rekonstruieren. Ihre Lieblingsband ist definitiv US5. Sie hat von ihnen eine gebrannte Best-of-CD zu Hause, und in ihrem Wohnzimmer hängt auch ein DIN-A4-großes Poster der Jungs. Sie hat in einem Ein-Euro-Shop mal Bügelbilder von US5 entdeckt und sich zu einem Spontankauf entschieden. Dann sah sie es vor ihrem geistigen Auge: Sie hatte das Bügelbild auf einen weißen Strampler des Babys gebügelt und dabei das Bügeleisen zu lange auf dem Kopf des blonden Bandmitglieds mit den übers Auge gekämmten Haaren stehen gelassen, sodass auf seinem Gesicht ein großer schwarzer Brandfleck zurückblieb.
Kerstin nähert sich dem Dingo, sieht auf das US5-Bild auf dem Strampler, und – potz Blitz! – da ist ein Brandfleck direkt auf dem Gesicht des blonden Sängers. Das muss zweifellos ihr Baby sein. Der übrig gebliebene RTL-2-Mann entschließt sich, die Sache in die Hand zu nehmen, und schlägt mit der Stange seines Mikrofons auf den Dingo ein. Der Dingo lässt blitzschnell das Baby los, stürzt sich auf den RTL-2-Mann und frisst auch ihn mit Haut und Haaren nach einem erbitterten Kampf um Leben und Tod. In der Zeit schnappt Kerstin ihr Baby, steckt es in den Kofferraum des Safari-Jeeps und düst mit ihrer Mutter zurück nach Sydney. Dort am Flughafen angekommen, liest Kerstins Mutter, als sie aufs Boarding warten, noch die Bild-Zeitung. Dort steht auf der Titelseite riesengroß die Schlagzeile: »André Rieu nach furiosem Konzert in Sydney erblindet – Er wird wohl nie wieder Geige spielen können!« Beide sind tief ergriffen von dieser Tragödie und fallen sich weinend in die Arme. Doch dieser Trip hat die beiden auch zusammengeschweißt, und sie beschließen, dass sie zurück in Deutschland richtig durchstarten und ihr Leben wieder in den Griff bekommen werden. Und das ganz ohne RTL 2.