Читать книгу Parallel - Win Köller - Страница 13
ОглавлениеNach der Arbeit setzte ich mich auf mein Fahrrad und fuhr einige Kilometer aus der Stadt hinaus, bis ich in ein abgelegenes Dorf kam, in dem ich seit Jahren nicht mehr gewesen bin. Ich erinnerte mich, hier in meiner Jugend oft mit meinen Freunden gefeiert zu haben. Wir hatten uns als Punks gesehen, hörten Punk und benahmen uns so, wie wir dachten, dass Punks sich benehmen. Irgendwann in dieser unbeschwerten Zeit gab es einen Rückschlag. Das Telefon klingelte, und ein Bekannter sagte mir, dass ein gemeinsamer Freund von uns, Karl, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Karl lag in diesem Dorf begraben, und da ich bis zum Abend noch einige Stunden Zeit hatte, beschloss ich, das Grab aufzusuchen. Es dauerte eine Weile, bis ich es fand. Ein Zweig hing über dem Grabstein, genau über Karls Namen. Ich wurde traurig. Er hatte nicht lange gelebt, siebzehn Jahre. Er war, genau wie ich, im April geboren, einige Tage älter als ich, und obwohl ich mein Dasein als trostlos empfand und das Gefühl hatte, nichts aus meinem Leben gemacht zu haben, war ich am Leben, und Karl war tot. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich eine Frau sah, welche die Blumen auf dem Grab goss. Ich fragte sie, ob sie jemanden kannte, der hier beerdigt ist. Sie zeigte auf Karls Grab und sagte: „Das ist mein Sohn.“ Dann deutete sie auf das Grab daneben. „Und dort liegt mein Mann, der ist letztes Jahr auch gestorben.“ Ich sagte ihr, dass ich Karl gekannt hatte, dass wir zusammen gefeiert haben, dass ich, obwohl es schon zwanzig Jahre her ist, immer noch so etwas wie eine Verbindung spürte und dass ich glaubte, Menschen lebten in der Erinnerung anderer Menschen weiter. „Schön, dass Sie mal wieder vorbeikommen“, sagte sie. Dann verabschiedete ich mich. Als ich ging, sah ich noch einmal auf den Grabstein zurück.
Jeder Tag ist ein Ereignis war auf der Rückseite in den Stein gehauen. Es stimmte, ich hatte es lange nicht mehr so gesehen. Obwohl mich der Gedanke an Karl mit Trauer erfüllte, erinnerte ich mich auch gern an diese Zeit, da ich in einer Welt voller Möglichkeiten lebte, nichts war entschieden, das Leben lag vor mir, und ich war trotz aller Rückschläge positiv gestimmt, bereit, die Welt zu erobern oder wenigstens entscheidend zu verändern. Mein Leben war hell, ich hatte Freunde, mein Weg lag vor mir und war hell erleuchtet. Ich war von meinem Weg abgekommen, wieso sollte ich sonst unbedingt mein Leben tauschen wollen? Ich hatte schon lange nicht mehr das Gefühl, dass jeder Tag ein Ereignis war, alles war monoton, einschläfernd, von immer wiederkehrender Routine bestimmt. Ich lebte in einem Dämmerzustand. War mein Leben wirklich hoffnungslos, oder ging es vielleicht nur darum, die Dinge in einem anderen Licht zu betrachten? Ich fühlte das Besondere eines Tages nicht, da ich der Ansicht war, meine Chancen vertan zu haben. Der Zug war abgefahren, in vielerlei Hinsicht. Nur heute hatte ich seit Langem wieder etwas gespürt. Den Abschiedsschmerz von Karl und den Schmerz der alleingelassenen Mutter. Jeder Tag ist ein Ereignis. Ich fuhr auf dem Fahrrad nach Hause. Trotz allem stand mein Entschluss fest. Ich würde mein Leben gegen ein anderes eintauschen.
Die Nacht kam, und ich döste auf dem Bett ein. Bald sah ich Christian und Dominic vor mir.
Christian, der jetzt Dominics Leben lebte, redete lebhaft: „Aber was soll ich denn machen? Ich habe doch überhaupt keine Ahnung, wie du dich vorher ihr gegenüber verhalten hast. Sie sagt, ich sei verändert.“
„Das wird sich schon geben“, sagte Dominic, der jetzt in Christians Welt ohne Geld lebte, „bis jetzt hat sie sich nach Streitereien immer wieder eingekriegt. Vielleicht rastet sie einmal aus, aber das war´s dann auch. Du bist erfolgreich, sie kommt zurück zu dir und wenn nicht, haben andere Mütter auch noch schöne Töchter. Hallo, Vincent, wie geht es dir?“ Mir war nicht danach, ein weiteres Gespräch zu führen, an dessen Ende ich mich doch wieder in mein eigenes trostloses Dasein verabschiedete, es musste etwas passieren. Ohne zu zögern und ohne zurück zu sehen, rannte ich an Christian vorbei, auf den Weg in Dominics Leben, aber ich hörte, wie Christian rief: „Halt, bleib stehen, du verstößt gegen die Abmachungen!“ Auch Dominic schrie etwas, aber ihre Stimmen wurden immer leiser und verstummten schließlich ganz, ich war mehr als fünf Schritte gerannt, mindestens fünfzig.
Ich wachte auf, mich umgab ein guter Geruch, und ohne dass ich die Augen öffnete, wusste ich, dass ich mich in einem gesünderen und trainierteren Körper befand als den, den ich aus meinem eigentlichen Leben gewohnt war. Ich öffnete die Augen und sah mich selbst in einem Spiegel, der über dem Bett angebracht war. Ich sah gut aus, obwohl es noch früh am Morgen war, ich fühlte mich erholt und sah im Spiegel, dass eine Frau mit blondem Haar neben mir lag. Das Gesicht war im Spiegel nicht zu erkennen, da sie sich auf die Seite gedreht hatte. Ich war nackt, sie war auch nackt. Offensichtlich hatten wir Sex gehabt, ich empfand die Art von Glücksgefühl, die ich nur nach gutem Sex kannte. Auch wenn Dominic etwas von einem Streit erzählt hatte, hatten wir uns offensichtlich wieder vertragen. Sie murmelte etwas im Halbschlaf. Ich stand auf und ging in die Küche, um nach Kaffee zu suchen. Auf einer Marmorplatte stand eine teure Espressomaschine und dort befand sich auch eine Dose mit Kaffee, daneben war eine Kochplatte, und hinter der Anrichte ging es ins Wohnzimmer, in dem teure Möbel um eine Glasplatte standen. Eine goldene Schallplatte hing an der Wand sowie Fotos, auf denen Dominic mit Berühmtheiten zu sehen war: Beyoncé, Eminem, Steven Tyler von Aerosmith, die Red Hot Chili Peppers und Arnold Schwarzenegger. Warum ein Musikproduzent sich mit Arnold Schwarzenegger traf, wollte mir nicht einleuchten, aber anscheinend war Erfolg in einem Bereich so etwas wie die Garantie, auch andere erfolgreiche Menschen zu treffen. Bei dem Gedanken daran, welche Möglichkeiten mir in diesem Leben jetzt offenstanden, breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Ich versuchte, mich der Espressomaschine zu widmen, stellte eine Tasse unter den Hahn und füllte die Maschine mit Pulver. Dann drückte ich einen Knopf. Es ertönte das laute Geräusch, das Espressomaschinen bei der Herstellung des Getränks absondern. Bislang kannte ich das nur aus italienischen Restaurants, die ich besucht hatte. So eine Maschine, die mehrere Tausend Euro wert war, in meiner Küche zu haben, das war neu für mich. Der Espresso lief aus dem Gerät, aber aus einer anderen Öffnung als aus der, unter die ich die Tasse gestellt hatte. Ich versuchte, den Rest der Flüssigkeit zu retten, indem ich die Tasse schnell umstellte, als die Frau, die eben noch mit mir im Bett gelegen hatte, neben mir stand und sich an mich schmiegte, wobei sie mir einen Kuss auf die Wange drückte. Ihr Körper war schön, sie war schlank, beinahe so groß wie ich, und schaute mich aus verträumten grünblauen Augen an.
„Ich habe die letzte Nacht sehr genossen“, hauchte sie mir ins Ohr, dann ging sie in die Richtung, in der ich das Bad vermutete. So ließ es sich leben. Gut, dass sie nicht gesehen hatte, wie dumm ich mich beim Bedienen der Espressomaschine angestellt hatte. Ich war ein erfolgreicher Musikproduzent, und das hier war mein Leben, meine Wohnung, und ich musste den Eindruck erwecken, mich souverän durch diese Welt bewegen zu können. Sich in der Welt eines anderen zurechtzufinden, das war nicht einfach, aber ich war willens, es zu versuchen. Bis jetzt fühlte ich mich dabei sehr gut.
Als die blonde Schönheit, deren Namen ich nicht wusste, aus dem Bad zurückkehrte, fragte sie mich, was ich heute vorhatte. Das war eine gute Frage, ich wusste es selbst nicht, dufte es mir aber nicht anmerken lassen.
„Ich habe jemanden im Studio“, sagte ich, ohne zu wissen, ob das überhaupt stimmte.
„Ich gehe shoppen“, sagte sie, nahm sich aus einem Korb von dem Glastisch eine Rolle Fünfzig-Euro-Scheine, lächelte mich an und verabschiedete sich.
Ich schlenderte durch meine Wohnung. Hinter dem Wohnzimmer entdeckte ich das geräumige Studio, liebevoll eingerichtet, einen großen Aufnahmeraum mit Mikrofonen, einem Schlagzeug, verschiedenen E- und Bassgitarren sowie einen Raum mit einem Mischpult. Ich schaltete den Computer an und suchte die letzten Aufnahmen. Die letzte Spur war gestern Nachmittag aufgenommen und abgespeichert worden, unter dem Namen MC Priority feat. Ms. Butterfly. Ich klickte auf Play und hörte ein paar Takte lang einen guten Hip-Hop-Beat. So etwas war ich in der Lage zu produzieren, dachte ich stolz, bis die Stimme eines Rappers erklang. Er rappte in einem abwechslungsarmen Flow darüber, dass er reich sei, alle bitches klarmachte und Kokain konsumierte. Ich mochte Hip-Hop, aber ich hielt das hier für Müll, sowohl technisch als auch textlich. Ich konnte zwar selbst nicht rappen, aber es wunderte mich schon etwas, was ich da produzierte. Der Chorus dagegen war wieder ziemlich gelungen, eine Frauenstimme sang eine eingängige Melodie mit Ohrwurmcharakter. Das war vermutlich die Stimme von Ms. Butterfly. Ich fand den Track gut, aber den Text nicht. Als ich auf den nächsten Track klicken wollte, klingelte es an der Tür. Ich ging einen weiten Korridor entlang und sah am Ende eine schwere Eichentür, neben der sich ein Monitor befand. Ich sah durch die Kamera einen schmächtigen jungen Mann, der aussah, als sei er gerade achtzehn geworden. Ich drückte den Türöffner, und vor mir stand MC Priority.
„Ey, yo, Domic! Long time no see… Seit gestern zumindest, ha,ha!” Ich vermutete, wir hatten uns verabredet, um die Aufnahmen von gestern noch einmal zu überarbeiten.
„Komm rein“, sagte ich, und wir gingen den Korridor zurück ins Studio.
MC Priority machte an der Stelle weiter, an der er aufgehört hatte. Er reimte coke auf dope, ich schlug ihm vor, das zu ändern, und er reimte dopehead auf Moped. Ich war mir sicher, diesen Reim schon mal irgendwo gehört zu haben, aber wenigstens reimte es sich, und ich kümmerte mich erst einmal nicht mehr um seine Lyrics, sondern drehte verlegen an den Knöpfen des Mischpults etwas herum, obwohl der Sound perfekt war. Er rappte weiter darüber, dass er Louis-Vuitton Taschen trug und ich sagte ihm, dass sei eigentlich eher was für die „bitches“. Priority schlug vor, die Zeile zu ändern, betonte aber, es sei eine gute Idee, darüber zu rappen, dass er Pistolen trage. Da er das in der ersten Strophe schon gemacht hatte, fand ich, es sei über Waffen schon etwas gesagt, und wir beschlossen, die Louis-Vuitton-Zeile doch im Track zu behalten. So verging etwa eine Stunde, in der Priority abwechselnd auf sein Handy und auf sein Textblatt sah, rappte, zufrieden oder unzufrieden mit dem Ergebnis war und wieder rappte: „ I am MC Priority, got the bitches on their knees, rock your body under palmtrees and pay no fees. I pay you back, motherfucker, (hier rappte er etwas, was ich nicht verstand), and all you fags carrying Louis-Vuitton bags. “
Ich fand das nicht einmal schlecht. Unter meinem Einfluss war sein Text sogar etwas besser geworden, nur brauchte er eine halbe Ewigkeit, um den Text einzurappen. Wir beschlossen, eine Pause zu machen, denn MC Priority wollte Gras rauchen. Wir gingen vor die Tür. Dort wurde mir schlagartig klar, dass ich in Amerika war. Am Straßenrand standen Palmen, und ein Dodge parkte in der Einfahrt. MC Priority hatte seinen Ferrari auf der anderen Straßenseite geparkt, beide Autos hatten Nummernschilder, auf denen California stand. Es war ein sonniger Tag in einem ruhigen Stadtteil von Los Angeles, Kalifornien.
Ich zog einmal an der Tüte, die MC Priority rauchte, mir wurde schwindelig, und Priority erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden, um anschließend vom gestrigen Abend zu erzählen, den er am Sunset Strip mit seiner Crew verbracht hatte. Während ich mit ihm Smalltalk machte, wurde mir klar, warum dieser junge Mann einen Plattenvertrag hatte. Er war nicht besonders talentiert, aber passte perfekt in die Vermarktungsstrategie einer Plattenfirma. Er würde mit der nötigen Promotion als Newcomer in die Charts einsteigen. MC Priority war sich nicht bewusst darüber, wie sehr er in der Hand von Plattenfirmen und Produzenten wie mir war, was ihn in meinen Augen etwas bemitleidenswert machte. Trotzdem war er mir sympathisch, er hatte eine positive Ausstrahlung. Er war in Deutschland geboren, nahm in Kalifornien seine Musik auf, laut eigener Aussage mochten sie hier den German MC. Er liebte seine Arbeit, das war ein großer Vorteil, und auch ich mochte meinen neuen Job, was ich von meinem alten Statistikerdasein nicht behaupten konnte. Ich hatte getauscht, es war gut, und ich atmete tief durch. Ich hatte einen Traumjob, im wahrsten Sinne des Wortes.
Als wir den Track gemixt hatten, verabschiedete sich MC Priority: „See ya tomorrow!“
Ich ging ins Haus und suchte nach einer Art Terminkalender, der mir darüber Aufschluss gab, was ich mir heute noch vorgenommen hatte. Auf einem Memo-Zettel, der an die Kühlschranktür geklebt war, stand: 16 Uhr, Dr. Keyconer. Im Internet fand ich seine Adresse. Ich nahm die Autoschlüssel, setzte mich in den Dodge und gab die Straße ins Navigationsgerät ein. Ich fühlte mich nicht krank, warum sollte ich zu einem Doktor gehen?