Читать книгу Parallel - Win Köller - Страница 9
ОглавлениеAls ich zu Hause war, kreisten meine Gedanken noch einige Minuten um Jessica, aber sie erschien mir jetzt schon wie eine Person aus einem anderen Leben. Manchmal ist die Realität wie ein seltsamer Traum, den es zu vergessen gilt. Ich öffne einen Brief, der auf dem Schreibtisch liegt. Es ist die Kündigung des Stromversorgers; aufgrund unbezahlter Rechnungen wird mir der Vertrag in einer Woche gekündigt, und ich muss mir einen neuen Stromanbieter suchen. Fast zeitgleich erreicht mich die SMS von einer Freundin, Anna, sie schreibt, sie wäre in der Psychiatrie, fragt, ob ich sie mal besuchen komme. Ich sage erst einmal zu, dann denke ich nach. Selbst wenn ich dort hinfahre und sie besuche, um vielleicht wieder Karmapunkte zu sammeln, kann ich meine Rechnung nicht bezahlen. Diese Tatsache ist traurig, aber wahr. Ich werde hinfahren, ihr womöglich etwas schenken, den Besuch so kurz wie möglich halten und dann wieder nach Hause fahren. Die Erfahrung von letzter Nacht hat gezeigt, dass ich auch Karmapunkte sammle, wenn ich egoistisch handle, wenn ich meinem eigenen Instinkt folge und Situationen, die sich zu meinem Nachteil entwickeln können, einfach verlasse oder von vornherein vermeide. Der Fall gerade eben ist wohl so eine Situation gewesen. Ein Problem bleibt bestehen: In dieser Welt, in der ich lebe, kann ich mit Karmapunkten nichts anfangen, denn hier wird mit Geld bezahlt, und das ist der Schlüssel zu allem. Ich beneide in diesem Moment weniger Dominic, seinen Erfolg und sein Geld. Ich bemerke vielmehr, dass ich mich in einem falschen Universum befinde. Jetzt, da ich gemerkt habe, wie ich Karmapunkte bekomme, gibt es keine Möglichkeit, diese gegen etwas einzutauschen. Ich lebe in einem Universum, das guten Taten keinen Wert beimisst und sie nicht entlohnt. Gut zu handeln lohnt sich lediglich, um ein reines Gewissen zu haben. Aus diesem Grund bin ich hier fehl am Platz. Abgesehen davon, dass ich hier nur mit Psychopathen befreundet bin, ist meine Lage auch sonst hoffnungslos. Da war es wieder, das irgendwie ausweglos scheinende und trotzdem Chancen anbietende Jetzt, der Moment, in dem die Zeit stillsteht.
Ich zog die Möglichkeit eines Identitätstausches in Betracht. Ich wollte in einer Welt ohne monetäres System leben, in der meinen Taten ein Wert zugemessen wird. Aber Christian und Dominic hatten bereits getauscht, und wie sollte ich ihnen überhaupt die Vorzüge meines Daseins schmackhaft machen? Ich bin praktisch pleite, habe einen langweiligen Job und bin mit Psychopathen befreundet. Das klang nicht sehr verlockend.
Meine Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Ich fragte mich, welche Gründe dieses gescheiterte Dasein hatte. Es waren einige Ursachen dafür auszumachen. Ich dachte daran, dass ich einmal Musiker hatte werden wollen. Seit frühester Kindheit war ich mit Kurt befreundet, und als sein großer Bruder im Keller des Hauses sein Schlagzeug aufstellte, spielte Kurt Schlagzeug und ich bald darauf Gitarre. Ich brachte mir das Nötigste selbst bei, und wir gründeten eine Band. Ein Student, der bei uns im Haus wohnte, spielte ebenfalls Gitarre, er lehrte mich einiges. Obwohl ich eigentlich Astronaut hatte werden wollen, war mein Berufswunsch jetzt Rockmusiker. Leider ging Kurt irgendwann nach Holland, um Schlagzeug zu studieren. Wir probten trotzdem weiter, und obwohl Kurt vorschlug, wir sollten nur zu zweit auftreten, schafften wir es irgendwann, eine Band mit Bassist und Sänger zu formieren. Irgendwann, nachdem ich Jahre mit Kurt im Proberaum verbracht hatte, bekamen wir die Möglichkeit, aufzutreten. Alle waren gespannt. Am Tag des Auftritts war Kurt nicht da, er war in Holland. Als ich ihn anrief, fragte er, ob wir heute auftreten, nur, um später sein Handy auszustellen. Ich selbst war zu unorganisiert, um die Situation zu retten, aber wie sollte eine Band ohne Schlagzeuger auftreten? Das ging nicht. Wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich der Meinung, dass es irgendwie mit der Band hätte weitergehen sollen, mit oder ohne Kurt, aber die Band löste sich auf und besiegelte damit das Ende meiner Musikerkarriere. Mit einem Musikproduzenten mein Leben zu tauschen, das war absolut angebracht. Es würde mir Genugtuung verschaffen, auch wenn ich größtenteils die Aufnahmen anderer Menschen im Studio abmischen würde. Einen Tausch zu versuchen war besser, als aufzugeben.
Ich hatte ein Problem damit zu resignieren, dabei habe ich das über lange Zeit getan. Ich habe ignoriert, dass ich meinen Job nicht mag, habe mir eingeredet, das alles sei irgendwie gut, und bin meinen Problemen aus dem Weg gegangen. Dabei mochte ich Probleme, Probleme konnten gut sein. Ich konnte mein Dasein jetzt nicht mehr umkrempeln, ein Identitätstausch war die einzige Lösung. Ich verbrachte den Abend, indem ich irgendwann doch zumindest für ein paar Stunden resignierte und einen Film sah, bei dem ich einschlief.