Читать книгу Parallel - Win Köller - Страница 5
ОглавлениеDer Tag war voller Möglichkeiten, die ich ungenutzt ließ. Ich habe schon länger das Gefühl, mich in einer aussichtslosen Lage zu befinden. Mein Leben findet ohne mich statt, ich bin geistig abwesend bei allem, was ich tue. Täglich gehe ich einer Arbeit nach, die ich hasse. Ich stelle sinnlose Statistiken auf und gebe sie meinem Vorgesetzten zur Kontrolle. Ich arbeite für ein Pharmaunternehmen, das sich über den Bedarf an Medikamenten am Markt informieren will. Dafür erstelle ich Fragebögen, die ich an Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte weitergebe. So erfahre ich, dass es im Jahr 2019 in einem Bezirk circa 40-50 Grippefälle gab oder vier mit dem Norovirus Infizierte oder sechs HIV-Infektionen oder weit mehr am Coronavirus Erkrankte. Was mich an diesem Job stört, ist, dass das, was ich mache, zwar dem Gemeinwohl dient und meine Miete bezahlt, aber nicht das ist, was mich interessiert. Ich habe mich immer als Musiker gesehen, jetzt bin ich Statistiker. So weit, so schlecht. Mein Name ist Vincent.
Ich gehe also die Straße entlang und freue mich auf mein Feierabendbier, als auf einmal ein seltsames Gefühl einsetzt. Ich befinde mich im Jetzt. Vor mir alle Möglichkeiten, hinter mir mein altes Leben, das ich nicht mag. Ich setze mich zu Hause auf die Couch und verzichte auf mein Bier, ich schlafe ein. Ich fange an zu träumen. Im Traum sitze ich zwei Menschen gegenüber, die beinahe so aussehen wie ich, aber anders heißen. Ich heiße Vincent, die beiden anderen stellen sich als Dominic und Christian vor. Christian hat einen Bart, Dominic eine Narbe am Kinn. Es entwickelt sich ein Gespräch. Obwohl die beiden so aussehen wie ich, ist irgendetwas entscheidend anders. Es liegt auf der Hand, dass wir nicht nur unterschiedliche Namen haben, sondern auch unterschiedliche Leben führen. Christian sagt, er lebe in einer Welt ohne Geld, in der die Menschen ihren Berufen nur aus Interesse nachgehen. Das finde ich interessant, schließlich jage ich dem Geld jeden Tag hinterher, ohne dass mich mein Job wirklich interessiert. Christian ist eine Art Gegenentwurf zu mir. Äußerlich ist er der Gleiche, aber er lebt in einer anderen Welt. Das habe ich alles schon einmal erlebt, denke ich mir, und im gleichen Moment wundere ich mich darüber, dass ich in einem Traum eine Art Déjà-vu habe. Der Moment ist jetzt. Oder besser, er war jetzt. Denn in genau diesem Moment habe ich ein Déjà-vu, sobald dieser Moment vorbei war, gehörte er schon wieder der Vergangenheit an. Alle Momente, die vergangenen und die bevorstehenden, bündelten sich im Jetzt. Ich saß also im Jetzt, beziehungsweise in dem, was ich zu dem Zeitpunkt für das Jetzt hielt, in einem Raum an einem Tisch mit zwei Menschen, die wie Doppelgänger von mir aussahen. Christian redete nicht viel, Dominic schon.
„Ich habe eine neue, erfolgversprechende Sängerin produziert“, warf er ein und begann damit, ihre Vorzüge aufzuzählen: „Eine Stimme wie Samt, trotzdem kraftvoll, mit Herz und Seele. Sie singt Popmusik, die Leute werden es mögen.“
In diesem Augenblick wurde ich aggressiv. Ich wurde zornig, weil Dominic glücklich war und ich nicht. Ich wurde zornig, weil Dominic einen Traumjob hatte, meinen Traumjob, weil er mir im Traum davon erzählte und weil er nicht wusste, wie es war, den eigenen Job zu hassen. Deshalb hasste ich ihn. Ich hasste ihn in diesem Moment dafür, nicht zu wissen, wie es war, mit dem Gefühl aufzuwachen, versagt zu haben, um sich dann aus dem Bett zu quälen und mit Bauchschmerzen zur Arbeit zu gehen. Er wusste nicht, wie es war, einem Job nachzugehen, für den er nicht talentiert war, und der eben deshalb Energie kostete. Er wusste nicht, wie es war, Statistiken zu erstellen, die einem sinnlos vorkamen, sich anzustrengen, das Beste zu geben und trotzdem mit leeren Händen dazustehen, mit gerade genug Geld, um über die Runden zu kommen, aber nicht viel mehr, ohne Auto, ohne Haus, ohne Dates, ohne Freunde. Er wusste nicht, wie es war, alles für einen Job zu opfern, der einem nichts einbrachte, aber alles abverlangte. Denn das war, was ich tat. Ich hatte alles geopfert für einen Job, der mich nicht erfüllte.
Nachdem Dominic das getan hatte, was allgemein als Angeben bezeichnet wird, brach Christian sein Schweigen: „Die Gesellschaft, in der ich lebe, hat erkannt, dass der Wert des Geldes nur eine Illusion ist, eine Illusion, der eine Zeit lang alle erlegen waren. Alle haben sich darauf geeinigt, dass Geld etwas wert war, und deshalb war es so, dabei ist der Wert von Geld rein illusorisch. Der Zehn-Euro-Schein selbst war nicht einmal zehn Euro wert. Es war lediglich eine Art Abmachung zwischen Menschen, eine Regelung der Verhältnisse. Wir haben andere Wege gefunden, die Verhältnisse zu kontrollieren, wenn es überhaupt nötig ist. Es gab eine Revolution und eine kurze Phase der Anarchie, danach wurde eine neue Weltregierung gebildet, Nationen wurden abgeschafft, das Individuum definiert sich jetzt über das Menschsein, nicht über die Zugehörigkeit zu einer Nation, Rasse, einer Volks- oder Interessengruppe. Es gibt keine Hierarchie, wir sind alle gleich viel wert, einfach, weil wir Menschen sind.“
Christian machte eine kurze Pause, um sich zu vergewissern, dass wir verstanden hatten, was er sagte. Ich hatte es verstanden, aber da waren eine Menge offener Fragen. Also fragte ich: „Was ist mit Verbrechern? Was ist mit gesellschaftlicher Ordnung? Was ist mit Leistung, wird diese belohnt?“
Christian dachte nicht lange nach, bevor er antwortete: „Das ist schwierig zu erklären, wir sammeln nur noch Karmapunkte, um es einfach auszudrücken. Dieses Punktesystem bewertet nach allgemeingültigen ethischen Regeln die Taten jedes Menschen, die über ein in die Haut transplantiertes biomechanisches Erfassungssystem aufgezeichnet, verarbeitet und unmittelbar bewertet werden.“
„Also lebst du in einer trotzdem kontrollierten Welt?“, entgegnete ich.
„Kontrolliert schon, aber dieses System ist besser als das monetäre System. Als es noch Geld gab, gab es auch mehr Verbrechen.“
Ich brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten, es klang wie eine Utopie, wie ein Märchen, zu schön, um wahr zu sein. Ich hatte die bestehenden Regelungen nie hinterfragt, ich hatte sie für die besten gehalten, aber mir war nie in den Sinn gekommen, dass alles auch ganz anders sein kann.
„Das klingt interessant“, sagte Dominic, „Aber sehnst du dich nicht manchmal nach durch Geld belohnten Erfolg?“
„Doch, manchmal interessiert es mich schon, ich würde gern eine Zeit lang in einer durch Geld geprägten Welt leben. Einfach nur, um zu sehen, wie es ist.“
„Lass uns tauschen!“, schlug Dominic vor.
„Ich denke mal darüber nach“, sagte Christian.
„Wie funktioniert das mit dem biomechanischen Erfassungssystem?“, wollte ich wissen.
„Ganz einfach“, sagte Christian, „du kriegst so einen Chip.“ Mit diesen Worten holte er einen grünen Chip aus der Innentasche seines Jacketts, der nicht größer als vier Zentimeter war, und gab ihn mir.
In dem Moment wurde meine Sicht verschwommen, ich fühlte mich seltsam, ein vertrautes
Geräusch drang an mein Ohr: Der Weckruf meines Handys. Christian und Dominic verschwanden in einem Strudel, und als ich die Augen öffnete, sah ich an die Zimmerdecke. Ich war aufgewacht und spürte einen Gegenstand in meiner Hand. Ich öffnete die Handfläche und sah den Chip.