Читать книгу Parallel - Win Köller - Страница 7

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Der Tag verging weitgehend ereignislos. Ich war gedanklich abgelenkt durch den Traum von letzter Nacht und befand mich in einer Art Wachkoma, ich war körperlich anwesend bei allem, was ich tat, aber geistig nicht präsent. Ich wusste, ich musste mich auf andere Gedanken bringen, daher ging ich zum Kickboxen, wobei ich prompt einen Haken von meinem Trainer kassierte. Immer wenn ich denke, es kann eigentlich nicht mehr schlimmer werden, bekomme ich auf die Fresse. Das ist Teil meines Lebens, aber ich lerne, immer wieder aufzustehen. Ich ging in einem T-Shirt, das vom Schweiß durchnässt war, nach Hause und schnorrte mir unterwegs einen Zug von dem Joint einer Frau, die gerade mit dem Flixbus von Hamburg nach Berlin gefahren war, um 'einen Freund' zu besuchen. Wir tauschten Nummern aus, ich sagte: „Falls ich mal in Hamburg sein sollte“, ohne zu wissen, wann und ob überhaupt es der Fall sein sollte, dass ich mal dorthin fahren würde, womöglich, um auf dem Kiez feiern zu gehen. Das habe ich schon gemacht, abgehakt, außerdem war ich erst vor Kurzem in Hamburg. Ich dachte kurz an meine Zeit in der Hansestadt, an das Feiern mit einer Jurastudentin. Als ich nach Hause kam, setzte ich mich auf mein Sofa, hörte Musik und war eigentlich nicht mal unglücklich. Aber etwas aus dem Traum letzter Nacht ließ mich nachdenken. Was war mit diesem Chip? Und war mein Leben wirklich so schlecht im Vergleich mit den anderen Versionen von mir, die mir im Traum erschienen sind? Hatte ich eine Psychose, oder existierte dieser Chip wirklich? Und wie funktionierte er? Wohin hatte ich ihn gelegt? Ich suchte und fand ihn neben dem Bett. Ich ließ mich auf den Rücken fallen, als mein Handy klingelte. „Hallo?“, fragte ich. „Hallo“, antwortete die Stimme des Anrufers. „Du musst den Chip auf den Fingernagel des Daumens halten“, sagte die Stimme, dann legte der Anrufer auf. Das war eine knappe, aber gehaltvolle Information gewesen. Ich tat, was der Anrufer gesagt hatte, legte den Chip auf den Fingernagel meines Daumens und duschte mich kurz, bevor ich in die Kissen fiel. Was würde jetzt passieren?

Was passierte, war das reinste Chaos. Zunächst war da wieder dieses komische Gefühl, mir war schwindelig und schlecht. Dann begann ich zu träumen. Ich war ein Träumer, das war, was ich war. Das Erste, was ich sah, war Christians Gesicht. Daneben saß Dominic, der mich amüsiert ansah.

„Du bist unpünktlich, aber schön, dass du da bist“, sagte er, was ich unkommentiert ließ.

„Du hast den Chip implantiert?“, fragte mich Christian. „Ja“, sagte ich, „was erwartet mich jetzt?“

Christian dachte kurz nach, dabei sah er aus, als würde er einem Kind die Relativitätstheorie erklären müssen.

„Du wirst an das Karma-Punktesystem unserer Welt gewöhnt. Das wird dir in der Welt, in der du lebst, aber nicht viel bringen. Jedes Mal, wenn du etwas machst, was im weitesten Sinne eine gute Tat ist, hörst du ein kurzes Piepen, die anderen hören es nicht, nur du, und damit hast du einen Karmapunkt gesammelt. In meiner Welt gibt es für Karmapunkte sehr viel, da du aber in einem monetären System lebst, wird es dir nicht viel bringen.“

„Es sei denn“, warf Dominic ein, „ihr wechselt euch aus, ihr tauscht die Welten. Das ist etwas, was Christian und ich jetzt machen werden. Wir werden heute Nacht jeder die Welt des anderen betreten und eine Weile das Leben des anderen leben.“ Dabei lächelte er verschmitzt. Mein Hassgefühl auf Dominic kehrte unmittelbar zurück. Er war selbstgefällig. Um ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, fragte ich: „Sag mal, du hast doch eine Freundin, oder? Wenn Christian in deiner Welt ist, darf er mit ihr schlafen?“

„Das haben wir alles schon besprochen. Das sehe ich ziemlich entspannt. Ich glaube eh, dass sie mir fremdgeht, ich ihr übrigens auch.“ So sah sie also aus, die heile Beziehung in Dominics Musikproduzenten-Welt. Ich ließ auch das unkommentiert. Mir fehlten die Worte. Während ich nicht einmal ein Date mit einer Frau zustande brachte und mein Lebensinhalt das Erstellen sinnloser Statistiken war, ließ er unseren Doppelgänger mit seiner Frau schlafen und sah das Ganze auch noch entspannt. Ich fand das reichlich unverschämt.

„Ich bin gespannt“, sagte Dominic, der sich sichtlich über den bevorstehenden Tausch freute. „Ich auch“, sagte Christian, „eine Welt, in der Geld etwas wert ist, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Umso interessanter, mal da zu sein. Eine Zeit lang keine Karmapunkte zu sammeln, das ist für mich wie Urlaub.“

„Wie tauscht ihr überhaupt? Wie funktioniert das?“

„Dreh mal deinen Kopf herum und schau hinter dich. Da ist ein Weg, den du gekommen bist, der dich zurück in dein Leben führt. Wir haben alle drei einen eigenen Weg, der uns hierher führt. Und wenn wir tauschen wollen, gehen wir einfach den Weg des anderen.“ Ich sah zurück. Ich sah den Weg, den ich gekommen war. Er sah aus wie eine staubige Landstraße ohne Asphalt, brauner Sand bedeckte ihn, darauf sah ich meine Fußspuren, aber sie waren nicht die einzigen. Auch so etwas wie Reifenspuren oder Spuren wie von einer Kutsche waren dort zu sehen. Der Weg muss mehrmals begangen worden sein, es fanden sich Büschel von niedergetretenem Gras, und über dem Weg hingen Bäume herab, die Schatten auf ihn warfen, aber das Licht war kein helles Tageslicht, eher das Licht, was bei einer Mondfinsternis entsteht, eines, das unwirklich wirkt. Um den Weg herum lagen faule Früchte, die von den Bäumen gefallen waren. Ich wusste sofort, dass diese meine ungenutzten Chancen repräsentierten. Ich fragte mich, was die Reifenspuren zu bedeuten hatten. Der Weg war, ebenso wie dieser Ort, irgendwie jenseits der Zeit, also könnten die Spuren auch etwas symbolisieren, was zu dem Zeitpunkt meines Lebens, an dem ich mich befand, noch gar nicht stattgefunden hatte. Angst vor Autos und anderen Verkehrsmitteln hatte ich immer schon, das war nichts Neues. Wenn das der Weg in mein Leben war, war es auch der Weg zurück, den ich gehen würde, wenn ich sterbe. Vielleicht würde ich bei einem Autounfall sterben. Der Gedanke schien absurd, aber logisch. Es war ein klarer Gedanke, der mich erschauern ließ. Ich wusste nicht, ob ich das, was ich dort sah, auch wirklich sehen wollte. Die verpassten Chancen, die niedergetretenen Grasbüschel und die Reifenspuren. Ich drehte meinen Kopf langsam zurück und sah die beiden an.

„Hast du etwas gesehen, was du nicht magst?“, wollte Christian wissen. „Es ist dein Weg, ob er dir gefällt oder nicht.“

Ich entschied mich dagegen, Christian und Dominic über die Schultern zu schauen, um zu sehen, wie ihr Weg aussah. Das hier würde nicht das letzte Treffen mit den beiden sein, dessen war ich mir sicher.

Wieder hörte ich das Klingeln des Weckrufs; wieder verschwammen Christian und Dominic, und ich wachte auf. Ich kämpfte mit einer Tasse Kaffee gegen meine Müdigkeit an. Nach der Arbeit erreichte mich eine Nachricht von Jessica, der es laut eigener Aussage 'unglaublich schlecht' ginge, es war ihr alles zu viel, jemand war gestorben, sie verarbeitete es nicht. Da ich ein großes weiches Herz hatte, ließ ich mich überreden, spät am Abend noch bei ihr vorbeizuschauen. Sie hatte einige Schmerztabletten eingeworfen, war betrunken und auch sonst in einem jämmerlichen Zustand, drehte mitten in der Nacht die Musik auf, bis jemand an die Wohnungstür klopfte, um sich zu beschweren. So sah also ihre Trauerarbeit aus. Ich schlug ihr vor, einfach ins Bett zu gehen, in der Hoffnung, dass sie das beruhigen würde, und legte mich auf die Couch. Die Nacht war unruhig, und ich bekam keinen Schlaf, da Jessica im Schlaf redete. Sie sprach mit einer seltsamen Stimme, die irgendwie fremd klang, so, als würde ein Dämon aus ihr sprechen, oder jedenfalls redete mir das meine Phantasie ein. Ich habe Geschichten von Besessenheit immer für Schwachsinn gehalten, aber jetzt auf der Couch fragte ich mich, ob es so etwas wie Besessenheit von Dämonen nicht doch gab. Da ich nicht schlief, gab es auch keine Begegnung mit Christian und Dominic. Gegen sechs Uhr klingelte es an der Tür. Jessica öffnete geistesabwesend die Tür, vor der ein betrunkener Typ stand. Sie setzte sich mit ihm in die Küche, und ich döste noch eine Weile auf der Couch, bevor ich mich entschloss zu gehen. Als ich ging und einen letzten Blick in die Küche warf, saß der Typ dort in Shorts. Jessica blutete am Bein, ein Glas war kaputt gegangen, und Scherben lagen auf dem Boden. Kein Zweifel, da waren Psychopathen unter sich, mich eingeschlossen. Ich verabschiedete mich schnell und löschte auf dem Weg nach Hause Jessicas Telefonnummer. Ich würde sie nie wieder anrufen und keinen Anruf von ihr entgegennehmen, das war beschlossene Sache. Es lag nicht an ihr, ich mochte sie, aber irgendwie waren wir momentan nicht auf einer Wellenlänge. Ich musste mein Leben entgiften. Jede Person, die mir Zeit raubte wurde jetzt aus meinem Leben verbannt. Sobald die Nummer gelöscht und der Entschluss gefasst war, hörte ich zum ersten Mal das Piepen des Chips auf meinem Daumennagel. Ich hatte einen Karmapunkt erhalten.

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