Читать книгу Parallel - Win Köller - Страница 15

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Wie sich herausstellte, war Doktor Keyconer kein Arzt für körperliche Beschwerden, er war ein Psychotherapeut, mein Psychotherapeut, und als ich in seinem Wartezimmer saß, fragte ich mich, warum ein Musikproduzent einen Therapeuten brauchte. War ich Kleptomane? Drogen- oder sexsüchtig? Nichts in meiner Umgebung ließ darauf schließen. Ich hatte jede Menge Geld, vielleicht konnte ich nicht damit umgehen. Schließlich rief mich Dr. Keyconer in sein Sprechzimmer. Wir begrüßten uns kurz, und ich setzte mich ihm gegenüber auf einen Stuhl.

„Ich schlage vor, wir machen dort weiter, wo wir das letzte Mal aufgehört haben“, sagteKeyconer. „Das Verhältnis zu Ihrem Vater beschrieben Sie als schwierig. Er ist immer sehr fordernd aufgetreten, und nach der Trennung Ihrer Eltern blieben Sie bei Ihrer Mutter. Ihren Vater sahen Sie alle vierzehn Tage am Wochenende.“

„Ja, das ist richtig“, antwortete ich, und es stimmte tatsächlich, Dominic schien gar kein so anderes Leben als ich gelebt zu haben. Eigentlich war alles, was Dr. Keyconer sagte, für mein eigenes Leben zutreffend. „Sie haben die Trennung von Ihrer ersten Freundin als eine Kränkung erlebt und sind in Liebesdingen verletzt worden.“ Auch das stimmte, und auch das bejahte ich. Das war nichts Besonderes, jeder Mensch wird emotional verletzt, ich hatte schon ein paar Mal diese Erfahrung gemacht.

„Sie erwähnten einen Jungen namens Kurt, mit dem Sie Musik machten und erste Auftritte hatten, er war Schlagzeuger“, sagte Dr.Keyconer, und ich muss ihn in diesem Augenblick ungläubig angesehen haben, denn er fügte hinzu: „Das haben Sie doch gesagt, oder irre ich mich?“ Ich fing mich wieder und antwortete reflexartig: „Ja, ja, stimmt schon. Das habe ich gesagt.“

Die Tatsache, dass es auch in Dominics Leben einen Kurt gab, dass sich unsere Leben so sehr ähnelten, fand ich merkwürdig.

„Mit diesem Kurt haben Sie Ihre erste Musik aufgenommen, sich aber später von ihm abgewandt. Er starb an einer Überdosis Heroin, und Sie geben sich die Schuld dafür.“

Das war zu viel. Das war also der Grund für diese Psychotherapie. Kurt war tot? Kurt war tot, und ich gab mir die Schuld dafür. Zuerst hatte ich geglaubt, die Geschichte meines eigenen Lebens zu hören, bis zu dem Punkt, an dem von Auftritten und Aufnahmen die Rede war. Das war in meinem Leben nie passiert, das hier war Dominics Leben. Hier war Kurt tot, in meinem wirklichen Leben nicht. Hier war ich erfolgreich, gab mir aber die Schuld an seinem Tod. In meinem Leben als Vincent war ich so etwas wie ein Versager, aber Kurt lebte, wir tranken ab und zu ein Bier. Vielleicht war das der entscheidende Unterschied zwischen meinem und Dominics Leben. Hier hatte das Konzert stattgefunden, ich hatte eine Karriere als Musiker begonnen. In meinem anderen Leben hatte ich die Karriere nicht begonnen und war nach einiger Zeit der Orientierungslosigkeit bei meinen Statistiken gelandet. Sollte der Grundstein meines Erfolges an diesem einen Abend gelegt worden sein? Mit dem Konzert, das in Dominics Leben tatsächlich stattfand? Befand ich mich als Vincent, der Statistiken erstellte, in einer Art alternativen Realität, die dadurch entstanden war, dass das Konzert nicht stattfand? Das waren viele wichtige Fragen, die es zu beantworten galt.

Aber zunächst fragte Dr. Keyconer: „Welche Rollen spielen Drogen eigentlich in Ihrem Leben?“

„Gar keine“, antwortete ich, allerdings fiel mir in dem Moment ein, dass ich ja gestern an Prioritys Joint gezogen hatte. Ich wollte meine Antwort trotzdem nicht korrigieren.

„Und Ihre Partnerschaft? Können Sie mit Ihrer Partnerin über Emotionen reden? Weiß sie um Ihre Schuldgefühle bezüglich des Todes Ihres Freundes?“

Diese Frage fand ich schwer zu beantworten. Konnte ich mit dieser Schönheit, die sich heute morgen an mich geschmiegt hatte und mit der ich anscheinend jede Nacht die Nacht meines Lebens verlebte, über Gefühle reden? Ich konnte es mir nicht so richtig vorstellen.

„Ich kann es mir nicht vorstellen, mit ihr über Gefühle zu reden“, sagte ich zu Dr. Keyconer.

„Versuchen Sie es doch einmal“, riet er.

Ich fand es sinnlos, es zu versuchen. Zugegebenermaßen kannte ich meine Freundin gar nicht, ich wusste noch nicht einmal ihren Namen, ich war der Meinung, dass sie nur des Geldes wegen mit mir zusammen war, aber ich wusste es nicht genau. Was hatte ich schon zu verlieren, ich könnte genauso gut mit ihr über Gefühle reden oder es zumindest versuchen, wie Dr. Keyconer es mir geraten hatte.

Als ich von der Sitzung bei Dr. Keyconer zurück nach Hause kam, fand ich meine Freundin zwischen Shoppingtaschen. Sie hatte sich unter anderem eine Louis Vuitton-Tasche geleistet. Ich begrüßte sie kurz mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, um mich dann dem Kühlschrank zuzuwenden, ich hatte schließlich den ganzen Tag noch nichts gegessen. „MC Priority wollte heute über Louis-Vuitton-Taschen rappen. Ich habe ihm gesagt, LV-Taschen wären etwas für bitches.“

„Sind sie ja auch“, antwortete sie und lachte verstohlen. Ich begann, sie zu mögen, sie schien Humor zu haben und ehrlich zu sein, auch wenn sie ein Vermögen, mein Vermögen, für überflüssigen Luxus ausgab.

„Schatz, ich möchte mit dir über Gefühle reden“, sprudelte es ungefiltert und mit ironischem Unterton aus mir heraus. Ich erzählte ihr die komplette Geschichte, erzählte, wie ich mit Kurt Auftritte gehabt habe, obwohl ich es gar nicht selbst erlebt hatte. Als Dominics Stellvertreter fühlte ich mich aber in der Pflicht, die Dinge so zu erzählen, wie sie sich in Dominics Welt zugetragen haben. Ich erzählte meiner Freundin, wie die ersten Konzerte sehr erfolgreich verliefen, wir bald auf Tour gingen, ich mich aber dann dafür entschied, einen anderen Schlagzeuger zu verpflichten, jemanden, der professioneller war, aber nicht ein Freund von mir, kurz: einen Angestellten. Ich erzählte, wie ich Kurt entließ, wie er danach zurück in die Band wollte, ich ihn aber abschmetterte. Ich brach den Kontakt zu ihm ab und hörte ein halbes Jahr später von seinem Tod durch eine Überdosis im Haus seiner Eltern. Ich war erschüttert und kam nicht damit zurecht. Zu dieser Zeit wurde meine Band gehypt, es war Ende der neunziger Jahre, und wir schwammen auf der Welle der Grunge- und Punkbewegung. Die Band hieß The Human Factors, und unsere erste Platte, Storm betitelt, fand seinen Weg in die Charts und wurde mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet. Meine Freundin kannte unsere Erfolgsgeschichte und fragte mich, warum ich ihr das erzähle. „Weil ich will, dass du weißt, wie ich mich fühle“, sagte ich.

„Aber ich weiß, wie du dich fühlst, du hast mir das schon erzählt, der Tod deines Freundes und das alles, diese Geschichte kenne ich bereits. Ich weiß nicht, warum du sie mir noch einmal erzählst.“ Sie holte ein Päckchen Antidepressiva aus ihrer Handtasche, Citalopram, und hielt sie mir hin. Offenbar nahm ich regelmäßig Medikamente. Um mich normal, also wie Dominic, zu verhalten, nahm ich eine Tablette.

„Ich habe dir das alles schon erzählt?“

„Ja“, sagte sie, „kurz nachdem wir uns kennengelernt haben, 2005. Auf der Tour zur dritten Platte warst du permanent auf Drogen, um deine Schuldgefühle zu bekämpfen. Der Erfolg der Factors war groß, nur ausverkaufte Hallen. Aber je größer der Erfolg wurde, desto größer wurden deine Schuldgefühle. Du erinnerst dich, du warst doch dabei?!“

„Ja, war ich. Ich erinnere mich.“

Ich konnte mit ihr über Gefühle reden, ich hatte es in der Vergangenheit bereits getan. Sie war nicht wegen des Geldes mit mir zusammen, ich spürte eine Verbindung zwischen uns und ein tiefes Vertrauen. Diese Beziehung war echt, ich hatte vorschnell geurteilt. Aber was war mit meiner eigenen Wahrheit? Ich hatte dieses Leben nicht gelebt. Ich hatte erlebt, wie Kurt nicht zum Konzert erschienen war, wie es kein einziges Konzert, keine Tour gegeben hat, wie Kurt sich anschließend einer Big Band gewidmet hatte und ich mich den Statistiken, nachdem ich mich von der Musik abgewandt hatte. Das war die Wahrheit, die ich erlebt hatte, aber sie hatte sich hier nicht zugetragen und gehörte nicht hierher.

Sie erzählte von der Zeit, in der wir uns kennen gelernten: „Ich war Hals über Kopf verliebt in dich. Und dann erfuhr ich von deinen Depressionen, deinen Schuldgefühlen. Das war ein Rückschlag für mich, aber ich habe dich nicht aufgegeben, und es hat sich gelohnt.“

Auch in diesem neuen, anscheinend so glamourösen Dasein gab es eine Schattenseite. Etwas, das auf meinen Schultern lastete. Konsequenzen, die ich aufgrund der Entscheidung trug, jemanden aus der Band zu werfen. In der anderen Wahrheit trug ich die Konsequenzen von Kurts Entscheidung, nicht zum Auftritt zu erscheinen und vor allem von meinem eigenen Unvermögen, aus der Situation das Beste zu machen.

Mich machte der Vergleich zwischen den beiden Welten verrückt, schließlich war ich nicht hier, um nachzudenken, sondern um zu handeln und zu leben. Ich verbrachte den Abend mit meiner Freundin, deren Namen ich immer noch nicht kannte. Nachdem wir uns geliebt hatten, schlief sie ein, und ich blieb wach, um Christian und Dominic nicht im Traum zu begegnen. Dieser Konfrontation galt es zunächst aus dem Weg zu gehen. Sie könnte dazu führen, dass ich dieses Leben aufgeben und zurück in mein altes musste. Ich musste wach bleiben, bis ich eine Strategie hatte.

Am nächsten Morgen gelang es mir, einen Blick in ihre Brieftasche zu werfen. Auf ihrem Pass stand ihr Name: Marie Rosenfeldt.

Marie schlief in unserem Bett, und ich schlenderte durch mein ziemlich großes Haus. Es zog mich ins Studio, und während ich die Beats hörte, die ich produziert hatte, durchsuchte ich den Stapel Papiere, Kataloge und Bücher, der sich neben dem Mischpult befand. Ich fand einen Terminkalender. Die nächste Aufnahme war für morgen anberaumt, dort stand 12 Uhr Ms. Butterfly. Demnach hatte ich heute frei. Ich wollte die Zeit nutzen, um mich in meiner neuen Umgebung etwas umzusehen, und sagte Marie, die sich noch im Halbschlaf befand, ich ginge zum Strand. Ich setzte mich in meinen Dodge und fuhr nach Malibu, um am Strand zu laufen, sah den Surfern zu und atmete tief durch. Mit Sand an den Schuhen fuhr ich nach Venice Beach. Hier war also der Ort des amerikanischen Traums, hier hatte Jim Morrison gelebt, Hollywood war nicht weit, und auf einmal war mein altes Leben, das von Statistiken und Einsamkeit geprägt war, ganz weit weg. Während ich in den kalifornischen Sand starrte, wurde mir eins klar: Viele Sandkörner machten den Sand des Strandes aus, der Strand bestand aus zig Millionen kleinster Steinchen, die ein Gesamtes ergaben. In meinem alten Leben war kein einziges Sandkorn an seinem richtigen Platz, hier schon. Deshalb ergab sich ein Gesamtes, ein Leben, das atmete, das funktionierte, auch wenn ich hier den Verlust eines Freundes zu beklagen hatte, was mich deprimierte. Außerdem war ich nur ein Gast in diesem Leben, und wenn ich es bleiben wollte, durfte ich nicht schlafen. Ich war noch nicht müde, aber dieser Zustand würde sich ändern. Ich holte mir einen starken Coffee-to-go, bevor ich mich in das Auto setzte und zurück fuhr.

Als ich zurück nach Hause kam, stand Marie im Wohnzimmer und schraubte an einer Kamera herum.

„Ich habe gleich ein Shooting in Hollywood, ich bin spät dran.“ Sie hastete noch kurz ins Bad, drückte mir einen flüchtigen, aber herzlichen Kuss auf die Wange. „Ich bleibe bis spät abends, wir sehen uns dann“, sagte sie und verließ das Haus.

Sie war kein billiges Flittchen, sondern Fotografin, und wenn die Fotos, die an der Wand hingen, von ihr geschossen waren, wovon ich ausging, keine schlechte. Ich mochte sie gern, sie war nicht nur hübsch und empathisch, sondern hatte auch Talent und war ehrgeizig. Ich setzte mich auf die Couch, um fernzusehen. Nachdem ich eine halbe Stunde einige Fernsehkanäle rauf- und runter geschaltet hatte, ich zählte etwa 80 Stück, klingelte es wieder an der Tür. Ich konnte mich nicht erinnern, einen Termin an diesem Nachmittag zu haben, und ging etwas überrascht den Korridor auf den Bildschirm zu. Auf dem Monitor war eine Frau zu sehen, dunkle Haare, attraktiv. Vielleicht war das eine Freundin von Marie. „Marie ist nicht da“, sagte ich in die Sprechanlage, und die Antwort kam prompt: „Umso besser, mach die Tür auf.“ Ich tat wie mir geheißen und drückte den Türöffner. Vor mir stand eine Frau in einer Jogginghose, Goldschmuck fiel über ihr Dekolleté, ihre sonnengebräunte Haut, ihre dunklen Haare und tiefbraunen Augen machten Eindruck auf mich, sie sah lateinamerikanisch aus. „Finde ich gut, dass du dich dazu entschlossen hast, heute noch ein Schäferstündchen einzulegen.“ Mit diesen Worten ging sie an mir vorbei und setzte sich mit gespreizten Beinen auf den Barhocker in der Küche. Durch die Lamellen fiel gleißendes Sonnenlicht auf ihre tätowierte Haut, und als ich mich ihr näherte, um sie zu fragen, was sie wolle, zog sie mich an sich heran und küsste mich leidenschaftlich, wobei sie mir in die Unterlippe biss. Dabei presste sie ihren Oberkörper an meinen und begann schnell zu atmen. Auch meine Atmung beschleunigte sich, mein Herz raste. Ehe ich etwas sagen konnte, rutschte sie an mir herunter und öffnete meine Hose, um mir einen Blowjob zu geben. Ich war erregt, gleichzeitig leuchtete mir ein, dass ich offensichtlich eine Affäre mit dieser Frau hatte. Ich fand das nicht in Ordnung, mein Gewissen sagte mir, dass es nicht okay war, eine Frau wie Marie zu betrügen, auch nicht, wenn ich Depressionen hatte und meine Besucherin sehr attraktiv war. „Hör auf“, sagte ich, trat zwei Schritte zurück und schloss den Reißverschluss meiner Hose. Ich wollte nicht weitermachen. Dominic war zu weit gegangen. Er hatte keine existentiellen Probleme, einen Traumjob, eine Traumfrau, ein Traumhaus und anscheinend auch eine Traumaffäre, was ich irgendwie widerlich fand. Da ich in meinem eigentlichen Leben als Vincent nicht mal ein Date bekam, fand ich es krank, dass Dominic sich eine Affäre gönnte und seine Freundin hinterging, nur um der schnellen Nummer willen.

„Was ist los mit dir?“, fragte sie. „Keine Lust? Zu viel ferngesehen? Zu viele Drogen? Zu wenig Sport? Was ist es, gefalle ich dir nicht mehr?“

„Doch“, antwortete ich, „du gefällst mir. Ich habe kaum geschlafen und fühle mich nicht gut.“ Das war nicht einmal eine Lüge. Ich fühlte mich nicht gut, weil ich diese Affäre nicht verantworten konnte. Vielleicht sollte ich mein Gewissen ignorieren und jetzt einfach Sex mit ihr haben, auf der Stelle. Aber ich wollte nicht, mein Herz sagte mir, dass es nicht korrekt von mir war.

„Pff. Dich hat noch nichts davon abgehalten, mit mir zu schlafen. Nicht dein Befinden und auch nicht deine Freundin. Wenn du müde bist, habe ich hier etwas, das dir auf die Sprünge hilft.“ Mit diesem Satz holte sie aus ihrer Hosentasche ein Päckchen mit einem weißen Pulver, Koks oder Speed, setzte sich auf die Couch vor den Glastisch und begann zwei Lines vorzubereiten.

„Ich will nicht, nein, wirklich, lass das bitte, ich…“ Aber ehe ich den Satz vollenden konnte, hatte sie sich bereits die erste Line durch die Nasenlöcher gejagt. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film.

„Ich will, dass du jetzt gehst“, sagte ich freundlich, aber bestimmt.

„Spinnst du? Ich bin doch gerade erst hier angekommen.“

„Du gehst jetzt!“, beharrte ich nachdrücklich.

„Meinst du, ich kann mir nicht irgendeinen anderen Homie für heute Nachmittag klarmachen, wenn ich das will? Ich brauch´ dich nicht! Also jetzt zieh dir was durch die Nase und lass uns endlich eine gottverdammte Nummer schieben.“

„Ich nehme keine Drogen“, sagte ich, und sie brach in lautes Gelächter aus.

„Ha, ha, ha, seit wann das denn? Willst du mich verarschen? Jetzt zieh endlich, und dann machen wir das, was wir immer machen.“

„Nein!“, sagte ich forsch, obwohl ich normalerweise einiges dafür gegeben hätte, mit dieser Frau zu schlafen. Unter den gegebenen Umständen war es nicht angebracht.

„Arschloch!“, sagte sie und stolzierte Richtung Tür, wobei sie anfing, an ihrem Handy herumzuspielen. „Dann sehen wir uns morgen, du impotenter Produzent.“

Sie war Ms. Butterfly, kein Zweifel. Sie war die Frauenstimme auf MC Prioritys Track, morgen würde ich ihren Gesang aufnehmen. Die Tür fiel knallend ins Schloss, und ich war allein.

Allein mit einem reinen Gewissen, einem erschlaffenden und jetzt arbeitslosen Geschlechtsteil in einem großen Haus vor einem Fernseher mit 80 Kanälen, einer Line Koks auf dem Glastisch davor, die Ms. Butterfly für mich vorbereitet und hinterlassen hatte. Obwohl ich dafür, dass ich Ms. Butterfly rausgeschmissen hatte, einen Karmapunkt erhielt und das entsprechende Piepen hörte, wollte ich meine Aufmerksamkeit nicht weiter darauf lenken. Mich nervte das Piepen, und da Karmapunkte in dieser Welt ohnehin nichts wert waren, stellte ich den Chip auf lautlos, sodass er zwar weiter die Karmapunkte zählte und auf dem Daumennagel in der Größe von drei Millimetern anzeigte, aber eben nicht mehr piepte, wenn ich einen erhielt. Im Augenblick hatte ich drei Karmapunkte. Ich wollte mich in dieser Welt intuitiv bewegen und nicht mit dem Kalkül, Karmapunkte zu sammeln, deshalb würde ich die Anzahl der Punkte ignorieren, bis ich in Christians Welt war, wo diese wirklich etwas bedeuteten. Ich war kein schlechter Mensch und war überzeugt davon, intuitiv richtig zu handeln. Vor mir erstreckte sich immer noch eine Line Koks über den Glastisch.

Koks war eine Möglichkeit, wach zu bleiben und damit nicht mal unerwünscht, aber was würde Marie sagen, wenn sie nach Hause kam und mich mit erweiterten Pupillen vorfände? War das Dominics Ritual, wenn Marie nicht zu Hause war? Er amüsierte sich mit Ms. Butterfly und Drogen? Offensichtlich war es das. Oder, und das war ein naheliegender Gedanke, hatte Christian, der ja einige Tage in Dominics Welt verbrachte, diese Affäre angefangen?

Ms. Butterfly hatte sich allerdings so verhalten, als gäbe es diese Affäre schon länger. Dann machen wir das, was wir immer machen, hatte sie gesagt. Ich beschloss, das Koks erst mal an seinem Platz zu lassen, machte mir einen starken Espresso und fand in Dominics Vinyl-Sammlung ein Exemplar von The Doors´ „L.A. Women“ , legte die zweite Seite auf und hörte sie komplett bis zum Ende. Jim Morrison sang: Into this house we´re born, into this world we´re thrown. Like a dog without a bone, an actor all alone. Ich fand mich und meine Situation in diesem Text gut beschrieben. Vermutlich würde mir Ms. Butterfly am nächsten Tag bei den Aufnahmen eine Szene machen, aber daran wollte ich noch keinen Gedanken verschwenden. Das Wichtigste war, wach zu bleiben, in diesem Leben zu bleiben und es so lange wie möglich zu behalten. Ich konnte nicht ewig wach bleiben, das wusste ich. Aber ich würde es so lange versuchen, bis es nicht mehr ging, 24 oder 48 Stunden ab diesem Zeitpunkt hielt ich für realistisch. Ich fand dieses Leben interessant und hatte Lust auf mehr.

Ich goss mir einen Schluck Baileys auf Eiswürfeln in ein Glas und ging durch den Garten. Hier gab es große Palmen in allen Varianten, kleine Kakteen am Boden und hochgewachsene Büsche, die das Grundstück vor einem Zaun säumten. Der Himmel war noch blau, aber bald würde die Dämmerung einsetzen. Zwischen den Palmblättern färbte sich der Himmel dem Horizont entgegen lila und dann rot. Ich beschloss, noch ein paar Bahnen im Swimmingpool zu schwimmen und legte mich danach auf eine Liege. Es war immer noch warm. Die Sonne des späten Nachmittags machte mich träge, ich hielt mein Glas in der Hand und schloss die Augen. Ich rekapitulierte, was in den letzten Stunden passiert war: Ich hatte einen Track mit MC Priority aufgenommen, mir die Nacht um die Ohren geschlagen, war am Strand gewesen und hatte eine Affäre mit Ms. Butterfly, zumindest vorläufig, beendet. Vor meinen geschlossenen Augen sah ich Muster und Formen, schließlich materialisierten sich zwei vertraute, aber grimmige Gesichter: Christian und Dominic. Im selben Moment hörte ich ein Klirren wie von zersprungenem Glas und wachte auf. Ich lag auf der Liege am Pool, das Glas war mir aus der Hand gefallen, als ich eingeschlafen war. Die braune Flüssigkeit des Baileys verteilte sich zwischen Glasscherben auf den Betonplatten. Ich hatte Glück gehabt. Ich stand auf, ging ins Haus und zog mir eine halbe Line Koks durch die Nase. Es ging nicht anders, es war eine Notsituation. Ich hasste die aufputschende Wirkung von Kokain. Ich hatte es in meinem früheren Leben einmal probiert und dann die Finger davon gelassen. Es war etwas für Spinner. Nach zwanzig Minuten war ich hellwach und fühlte einen Druck in meiner Brust und auf meinem Kopf. Gut ging es mir nicht, aber ich war wach, und das war die Hauptsache. Ich sah fern, etwa eine Stunde lang, und mit Einbruch der Dunkelheit hörte ich das Türschloss. Marie war nach Hause gekommen.

Ich wischte das restliche Kokain vom Glastisch, nur für den Fall, dass Marie Drogenkonsum missbilligte. Sie hatte ein Werbeshooting für ein Modelabel in Hollywood gehabt, legte ihre Sachen ab, stellte ihren Laptop auf einen Tisch im Wohnzimmer und setzte sich dann zu mir auf die Couch.

„Wie war dein Tag?“, wollte sie wissen.

„Interessant“, sagte ich. Ich hatte keine Lust zu reden, aus Angst davor, ich könnte mich verraten. Außerdem galt es, den Kokainrausch zu verbergen. Ich vermied direkten Augenkontakt, falls meine Pupillen immer noch geweitet waren. Ich war befangen.

„Wie war dein Shooting?“, fragte ich, um das Gespräch am Laufen zu halten.

„Gut, das Licht war heute wirklich der Hammer, und wir haben eine Menge wirklich guter Fotos geschossen. Was ist mit dir? Bist du traurig? Bist du high?“

Marie hatte mich offenbar schon vorher in einem Rauschzustand erlebt, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, ob ich ihr die Wahrheit sagen sollte, was sie gewohnt war zu hören und welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden. Also schloss ich meine Augen und küsste sie leidenschaftlich. Sie erwiderte den Kuss, und wir saßen eine Weile lang wie frisch verliebte Teenager auf der Couch. Ich fühlte mich gut mit ihr und ich glaube, sie fühlte sich auch gut mit mir. Unser Liebesspiel wurde inniger, und wie immer war alles, was dabei passierte, galaktisch. Nachdem wir uns geliebt hatten, setzte sich Marie an den Laptop, um die Fotos vom Shooting zu bearbeiten. Ich blieb auf der Couch liegen und dachte nach. Die Wirkung des Kokains war jetzt etwas abgeklungen, und ich fühlte mich leer. Ich war in diesem Leben glücklich, trotzdem stimmte hier einiges nicht. Mich quälte ein schlechtes Gewissen wegen Kurts Tod. Trotzdem gab es hier immer einen Grund, um weiterzumachen. Ich erinnere mich, dass ich in meinem Leben als Vincent oft Depressionen hatte, weil mein Leben unerfüllt war. Ich erinnere mich daran, dass ich morgens im Bett lag und das Gefühl hatte, mein Körper wäre aus Blei, und ich schaffte es nicht, ihn zu bewegen. Ich erinnere mich an Apathie und Selbstmordgedanken. Ich erinnere mich an Isolation, Einsamkeit und an die Gewissheit, abgeschlossen zu haben. Das war das Leben, das ich hinter mir gelassen hatte, zumindest für eine Weile. Mein altes Leben hatte ich als einen einzigen Fehler empfunden. Mein neues Leben als Musikproduzent war in Ordnung, trotzdem hatte ich einen schwerwiegenden Fehler gemacht, indem ich Kurt aus der Band geworfen habe.

Ich stand auf und schaute Marie beim Bearbeiten der Fotos über die Schulter, um mich auf andere Gedanken zu bringen, schlafen konnte und durfte ich sowieso nicht.

Schließlich gingen wir ins Bett. Marie schlief schnell ein, und ich schlug mir irgendwie die Nacht um die Ohren, schaffte es noch, ein paar Krümel Koks zu finden und ging jede halbe Stunde in die Küche, um mir einen Energydrink aus dem Kühlschrank zu holen. Ich war angespannt und nervös, gleichzeitig nicht mehr in der Lage, mich zu fokussieren. Es war Nacht, ich war hellwach und dachte an Dominic und Christian, die wahrscheinlich in diesem Augenblick miteinander sprachen. Ich konnte ein Zusammentreffen mit ihnen nicht endlos hinauszögern. Eine Möglichkeit bestand darin, die beiden gegeneinander auszuspielen, aber wie? Ich war ratlos und beschloss, das Ganze auf mich zukommen zu lassen und intuitiv zu handeln, wenn der Moment gekommen war. Ich verbrachte den Rest der Nacht damit, mich durch Dominics Vinylsammlung zu hören.

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